Die publizistischen Reste des Jahres

Nachrichtenarme Zeit. Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben, zum Resümieren, zum Vorsätze fassen. Letzteres vermeide ich. Ich bin kein Gramsci-“Schüler”, habe kein Buch, nur Auszüge von ihm gelesen, und keine Fachtagungen zu ihm besucht. Ich weiss nur von solchen, die das getan haben, dass er unter den Kommunist*inn*en Europas zu den Denkenden, zu den Anständigen gehört hat. Und siehe: die Sache mit Sylvester/Neujahr sieht er genau so wie ich: »Ich hasse Neujahr« – Vor seiner Verhaftung durch die Faschisten beschreibt Antonio Gramsci 1916, warum Neujahr auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.”

Die linken Publizismus-Held*inn*en von Jacobin haben eine Fahimi-Kritik ihres Redakteurs Hans Graudenz digital eingemauert. Die ersten Sätze verraten, dass der Autor die politische Sozialisation der DGB-Vorsitzenden ein bisschen besser kennt und versteht, als der ehemalige DGB-Pressesprecher Hans-Jürgen Arlt/bruchstuecke, der sich mit “Gewerkschaftliche Familienpolitik” zu einem ganz individuellen Foulspiel mit einer Prise Misogynie hinreissen lässt. Das dürfen aber alle lesen. Bei solchen Linken können die herrschenden Klassen gut ballern und schlafen.

telepolis meldet mit Wolfgang Lieb eine spektakuläre und hochwertige Autoren-Neuerwerbung: Die vergiftete Diskussion um eine friedenspolitische Perspektive – Krieg ist furchtbar, immer. Die Schrecken des Ukraine-Krieges aber werden instrumentalisiert. Wie die Debatte um eine friedenspolitische Perspektive verhindert wird (Teil 1)”. Sein Abgang 2015 bei den nachdenkseiten hat denen nicht gutgetan. 1995-2000 haben Roland Appel und ich mit ihm in der ersten rot-grünen Koalition NRW zusammengearbeitet, und zwar gut. Lieb gehörte zu den Sozis, die mit Johannes Rau besser konnten als mit Wolfgang Clement – auch das hatten wir gemeinsam.

Eine andere telepolis-Neuerwerbung ist Alexander Rahr, laut Wikipedia ein “Putin-Lobbyist”. Ich würde Ihnen raten: lesen Sie selbst. Geschwächter Westen: Die große geoökonomische Zeitenwende – Erst seit dem Ukraine-Krieg realisiert man in Europa die Abhängigkeit vom eurasischen Raum. Russland und China kontrollieren zunehmend Handelsrouten nach Europa. Drohen permanente Konflikte?” Ich habe seinen Text ohne (Vor-)Kenntnis seiner Person gelesen, und muss im nachhinein gestehen: ich würde ruhiger schlafen, wenn ich glauben würde, dass Wladimir Putin die Welt mit so viel strategischer Coolness sieht.

Wie es in Russland selbst aussieht, darüber denkt Florian Rötzer/overton nach und berichtet über – notgedrungen nur recht ungefähre – Meinungsumfragen: Nach Umfragen steht noch immer eine große Mehrheit der Russen hinter Putin – Im Dezember sind Zustimmung zu und Vertrauen in Putin trotz andauerndem Krieg, Niederlagen, Sanktionsfolgen und Mobilisierung wieder angestiegen.” Das “die da oben machen ja doch, was sie wollen” dürfte eine kontinuierliche Mehrheitsmeinungsgemeinsamkeit sein.

Exklusiv ist nur unsere Sprache: “Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz” – schon mal gehört? Das schaffen nur “wir”.

Und dann noch die Sache mit den Jahresrückblicken. Der Medientycoon mit den Weltherrschaftsambitionen, der Oberkommandierende der probono GmbH Friedrich Küppersbusch ist kurz vor Schluss noch zu dem Schluss gekommen, dass er einen fetteren Jahresrückblick (Video 25 min) machen muss. Aber die Zeit war zu knapp und die Arbeit zu viel. Da hat er einfach noch mal zusammengeschnitten (oder schneiden lassen), was ihm (oder seiner*m Schneider*in) im letzten Jahr am besten gefiel. Die längste Passage ist einem gewissen Kiesewetter gewidmet, der “Angst und Schrecken verbreiten” will. Der gute Kiesewetter ist es nicht – der ist fast auf den Tag genau nun schon sechs Jahre tot, ein schwerer Verlust, für alle, die mit allen in Frieden zusammenleben wollen. Für alle, die ihn, den Medientycoon, bisher nicht verfolgt haben, eignen sich diese 25 Minuten zum Einstieg in die Welt für das Gute (probono) gegen das “moderne liberale”.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net