Was manche als Affentheater oder Chaostage im US-Kongress bezeichnen, ist nicht mehr oder weniger als eine Fortsetzung der tiefen Krise der US-Demokratie nach innen wie nach außen,. Sie wird das Land noch Jahre beschäftigen und der Ausgang ist ungewiss. Denn es ist keinesfalls so, wie Kevin McCarthy nach der 15. Abstimmung und seiner Wahl behauptete, “es sei nun geschafft”, sondern dass “dies erst der Anfang dessen war, was noch kommen wird.” Welche Konsequenzen diese Wahl für den inneren Zusammenhalt der USA, die Politik und den Ukrainekrieg noch Lage haben wird, ist nicht absehbar. Eine Gegenstrategie der Demokraten ist nicht erkennbar.
McCarthys Opportunismus
Kevin McCarthy ist ein altes politisches Schlachtross der Republikaner, seit 2007 im Kongress und seit 2014 Fraktionsvorsitzender der Republikaner, also mit allen Wassern gewaschen. So hat er etwa 2021 den Umweltetat Bidens mit “Filibustern” – einer mehr als achtstündigen Rede – torpediert, damit eine Frist verstrich, nach der nicht mehr darüber abgestimmt werden konnte. Er hat sein ganzes Leben nichts anderes als Politik gemacht, und sich vom Assistenten eines Kongressmitglieds zum Abgeordneten in Kalifornien und dann selbst zum Kongressman hochintrigiert, ohne erkennbare Grundsätze.
Fähnchen im Wind
So hat er Donald Trump aus Instinkt von Anfang an unterstützt, behauptete aber in einem Pressegespräch schon 2016, dass Trump von Putin bezahlt sei. Er verteidigte Trump gegen alle Anfeindungen während dessen Amtszeit und gehörte zu den Kongressmitgliedern, die 2020 für eine Anfechtung des Wahlergebnisses stimmten. Er sah zwar die Schuld für den Sturm auf das Kapitol bei Trump und verteidigte Trumps Gegnerin Liz Cheney, die beim zweiten Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump gestimmt hatte. Er verhinderte ihre Abwahl, nur um wenig später wieder die Seiten zu wechseln und für ihre Abwahl in der republikanischen Fraktion zu sorgen. Er ist ein totaler Opportunist.
Trumps Rolle unklar
Nachdem sich dieser Tage die wiederholten Nichtwahlen des Speakers durch das Repräsentantenhaus die Schwelle der Peinlichkeit überschritten, rief Donald Trump die rechtsextremistischen Abweichler der Republikaner auf, für McCarthy zu stimmen. Inwieweit es sich hierbei um eine Finte handelte, um Trump als berechenbar erscheinen zu lassen, ist reine Spekulation. Klar ist nur, dass seine rechtsextremen Anhänger sich nicht an seinen Aufruf zur Mäßigung hielten, was noch nichts über seinen Einfluss aussagt. Ebenso klar ist, dass die zwanzig republikanischen Extremisten ein dauerhaft destabilisierender Faktor im Repräsentantenhaus bilden. Sie werden ganz im Geiste Trumps und ihrer aktuellen Aktionen das Ziel verfolgen, die Institutionen der US-Regierung verächtlich zu machen und “das System zu bekämpfen”, dessen etablierter Repräsentant McCarthy zweifellos ist.
Realpolitische Auswirkungen
Dass eine Sprecherin des Repräsentantenhauses durchaus nicht machtlos ist, hat Nancy Pelosi in Trumps Amtszeit mehrfach unter Beweis gestellt. In ihrem Hass auf das “Washingtoner Establishment” haben die rechtsextremistischen Republikaner nun McCarthy Zugeständnisse abgepresst, die ihnen erlauben, zum Teil absurde Rechte geltend zu machen. So soll ein einzelner Abgeordneter statt einer qualifizierten Minderheit einen Antrag auf ein Mißtrauensvotum gegen den Speaker stellen können.- Das bedeutet, dass die rechtsextreme Minderheit – wie in den letzten Tagen demonstriert – im Bedarfsfall die Arbeit des Repräsentantenhauses wieder auf Tage oder Wochen nicht stilllegen, aber mit Abwahlanträgen beschäftigen kann. Oder damit drohen. Das Haus kann die Haushalte des Präsidenten blockieren und es kann dadurch die Verwaltung lahmlegen.
McCarthy in der Hand der Extremisten
Dabei wird nicht erst die republikanische Mehrheit den Haushalt oder Gesetze blockieren können, sondern bereits die faschistoide Minderheit, sogar einzelne Personen. Dabei hätte sich McCarthy nicht auf dieses Procedere einlassen und sich in die Hand der Verschwörungsanhänger und Rechtsradikalen begeben müssen. Niemand hätte ihn davon abgehalten, etwa mit den Demokraten über Bedingungen zu verhandeln, unter denen sie bereit wären, ihn zu unterstützen. Dass er es nicht tat, beweist, dass er sich als Teil der spaltenden und zerstörerischen Kräfte der Republikaner versteht. Er hat sich den Extremisten und damit indirekt Donald Trump ausgeliefert. Es ist aufschlussreich, einzelne Extremisten genauer zu betrachten:
Die rechte Speerspitze der Republikaner
Da ist zunächst Matthew Louis „Matt“ Gaetz, Jg. 1982 aus Florida, libertärer Anhänger eines Nachtwächterstaates, der das Bildungsministerium und die Umweltschutzbehörde EPA abschaffen will. “Black Lives Matter” nannte er während der Proteste gegen George Floyds Tötung als “Terroristen wie die im Nahen Osten” und Bestandteil der “Großen Austausch-Verschwörung”. Seit März 2021 ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen mutmaßlichem Sex mit einer Minderjährigen.
Bob Good, Jg.1965, ehemaliger Banker, trat 2020 mit einem rechtsradikalen Wahlprogramm an, Einwanderungsgegner, Corona-Pandemieleugner, Trump-Verbündeter, Kämpfer gegen Homo-Ehe und Transgender-Toiletten. Er fordert die komplette Abschaffung von Obamacare und einer für alle Schichten bezahlbaren Krankenversicherung.
Lauren Opal Boebert, Jg.1986, Colorado, ohne Schulabschluss ist Waffenlobby-Aktivistin und Q-Anon-Anhängerin. Sie kündigte nach ihrer Wahl an, eine geladene Waffe auch im Kongress tragen zu wollen, was verboten ist. Bezüglich “Black Lives Matter” ist sie der Meinung, dass “die Linke” zur Gewalt aufgerufen habe und zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Das von ihr mitverursachte Wahlchaos findet sie gut, denn dadurch “könne die Regierung kein Geld ausgeben und in die Ukraine schicken”.
Andrew Steven „Andy“ Biggs, 1958 Arizona, stimmte 2020 gegen die Anerkennung des Wahlergebnissen der Präsidentschaftswahl und ist glühender Trump-Anhänger. Er kandidierte gegen McCarthy und erhielt 10 Stimmen. Er will “das Establishment brechen” und unterstützte in weiteren Wahlgängen den Trump-Anhänger Jim Jordan.
James Daniel “Jim” Jordan geb.1964, Ohio, war Gründungsvorsitzender des rechtskonservativen “Freedom Caucus” der Republikaner, setzt sich für den Bau einer Grenzmauer nach Mexiko ein, die Abschaffung von Obamacare und stimmte gegen die Anerkennung des Wahlergebnisses 2020 und gehört zu den treuesten Anhängern Donald Trumps. Jordan wird vorgeworfen, in seiner Zeit als Assistenztrainer der Ringer an der Ohio State University von sexuellen Übergriffen eines Universitätsarztes gegenüber Jugendlichen gewusst und sie vertuscht zu haben.
Nichts Gutes zu erwarten
Es ist nicht verwunderlich, dass die Demokraten den Untersuchungsbericht über die Kongresserstürmung am 6.1.2020 noch vor der Jahreswende und Amtsantritt der neuen Abgeordnetenmehrheit verabschiedet haben, ebenso wie den Haushalt 2023 und damit die finanziellen Hilfen für die Ukraine. All dieses kann die Minorität der Republikaner für 2024 blockieren, denn 2023 beginnen die ersten Wahlkämpfe im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2024. In diesem Zusammenhang wächst der Vereinbarung, die Kevin McCarthy von der Ultrarechten abgetrotzt wurde, eine besondere Bedeutung zu. Denn dadurch können bereits einzelne Abgeordnete per Mißtrauensvotum gegen den “Speaker” die Arbeit des Parlaments lahmlegen und die Mehrheit ihrer Fraktion und damit des gesamten Repräsentantenhauses erpressen.
Wahlkampf der Republikaner hat begonnen
Die Schadenfreude der Demokraten über die Chaostage der “Reps” wird nur wenige Tage dauern. Der Wahlkampf der Ultrarechten für 2024 hat mit der Wahl McCarthys begonnen. Sie werden keinerlei konstruktive Initiativen ergreifen, aber sie können nicht nur jedes Gesetz und Haushalte verhindern, sie werden Ausschüsse einsetzen. Zum Beispiel den bereits angekündigten zur “Untersuchung der Arbeit des Untersuchungsausschusses zum Kongresssturm 2020” – dieser wird voraussichtlich die Fake News schaffen, die Trump und die rechtsextremistischen Kapitolsstürmer entlasten sollen. Sie werden gegen die “Woke”, den Antirassismus an Schulen und in der Öffentlichkeit zu Felde ziehen und parlamentarische Obstruktion betreiben.
Keine Strategie der Demokraten
Zwar haben die Demokraten bei den Zwischenwahlen weit besser als erwartet abgeschnitten, aber eine Strategie gegen die aggressiven Attacken der klerikalen, extremistischen und Tatsachen leugnenden amerikanischen Rechten ist nicht erkennbar. Auch die Nachfolge von Joe Biden ist offen – ebenso wie die Frage, ob er selbst 2024 noch einmal antritt. Biden wäre dann 82 Jahre alt. Schon heute zweifeln viele seiner wohlmeinenden Anhänger bei oder nach seinen öffentlichen Auftritten, ob er den Strapazen eines Präsidentschaftswahlkampfes gewachsen wäre. Aber niemand traut sich, es ihm zu sagen. Dabei ist seine politische Bilanz aufgrund der wirtschaftlichen Erholung der US-Wirtschaft nach Corona, seinem in Europa umstrittenen Umwelt-Subventionsprogramm und nicht zuletzt wegen seiner klaren Haltung im Ukraine-Konflikt gar nicht schlecht. Aber je nach Verlauf des Ukrainekonflikts kann sich das schnell ändern. Seine Vizepräsidentin Kamala Harris gilt inzwischen als herbe Enttäuschung und tritt öffentlich kaum noch in Erscheinung. Es ist schon fast zu spät, einen Entschluss zur Kandidatur 2024 anzukündigen, und es ist wahrscheinlich definitiv zu spät, eine/n Nachfolger*in aufzubauen. Politische Strategie sieht anders aus.
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