Zur Verantwortung der Ukraine für einen Ausweg aus dem Krieg
Im Feuilleton der FAZ vom 28.12.2022 reflektiert Reinhard Merkel, u.a. emeritierter Professor für Rechtsphilosophie, in einem Artikel „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“, ob die Ukraine nicht eine Pflicht zur Hinarbeit auf einen Verhandlungsfrieden habe. Die Frage also ist, ob es neben den seit dem Mittelalter bekannten Lehren vom „Recht zum Krieg“ (ius ad bellum), dem „Recht im Krieg“ (ius in bello) und dem von Kant hinzugefügten „Recht nach dem Krieg“ (ius post bellum), auch ein „ius ex bello“ geben müsste.
Im Völkerrecht hätten sich nur die ersten drei Kategorien niedergeschlagen, so dass es eine Lücke gebe. Der Politologe und Rechtsphilosoph Darrel Moellendorf hat diese letzte Kategorie ins Spiel gebracht. Dabei gehe es – so Merkel – um diese Frage: „Knapp und grob: Gibt es schon während des Gewaltgeschehens für alle Konfliktparteien rechtsprinzipielle Pflichten, sich um Wege ex bello zu bemühen, um ein Ende des Kriegs, und zwar selbst dann, wenn dies ihre militärischen oder politischen Ziele vereiteln würde?“
Immer und zuerst sei zu fordern, dass der Aggressor die Gewalt beende und zum „Status quo ante“ zurückkehre, also im Ukraine-Krieg zum Zustand, der bis zum 24.2.2022 geherrscht hatte. Die UN-Charta beschränkt das Selbstverteidigungsrecht, indem dieses nur gilt, solange der Sicherheitsrat nicht die nötigen Maßnahmen für eine Beendigung der Gewalt eingeleitet hat. Für den Fall der Lähmung des Sicherheitsrates gibt es allerdings keine wirkungsvollen alternativen Mechanismen bei der UNO, wie sich aktuell schmerzlich zeigt.
Ethische Grenzen der Selbstverteidigung
Merkel sieht über die in der UN-Charta gesetzten Grenzen hinaus im Fall des Ukraine-Krieges zwei weitere Grenzen der Selbstverteidigung: zum einen das Risiko eines Atomkrieges und „zweitens ein unerträgliches Missverhältnis zwischen den Zielen der Selbstverteidigung und deren Kosten an menschlichem Leben und Leid – nicht nur der Zivilbevölkerung, sondern auch der Soldaten“.
Merkel leitet aus den Prinzipien politischer Ethik für die Ukraine die Pflicht ab, „Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden“. Basis dieser Pflicht „ist eine spezifische Verantwortung auch der ukrainischen Regierung und reicht über die triviale Grundnorm jeder Moral, menschliches Leid zu vermeiden, weit hinaus. Denn die Ukraine ist kausal beteiligt an der fortdauernden Erzeugung des Elends dieses Krieges“. Auch wenn diese Feststellung „regelmäßig Empörung“ auslöse, sei sie sachlich richtig. Auch wenn ein Aggressor seine Aggression nicht selbst beendet, erlöschen damit nicht alle ethischen Pflichten des Aggressionsopfers. Jenseits der Kriegsschuldfrage, die ja eindeutig beantwortbar sei, trage auch die Ukraine eine Verantwortung bei der Fortsetzung ihres Verteidigungskrieges, indem sie Grenzen zu beachten habe: „Irgendwann kommen die (Grenzen; d.V.) des nicht mehr Legitimierbaren in den Blick: das atomare Risiko für die Welt und die Zerstörung der Ukraine, des Lebens und der Zukunft ihrer Menschen. Lange vor diesen Grenzen beginnt die moralische Pflicht auch des Aggressionsopfers, mögliche Alternativen zur Fortsetzung des blutigen Grauens zu erwägen und in Verhandlungen zu klären.“ Dies gelte insbesondere angesichts des „ins Maßlose wachsende(n) Elend(s) aller, die in das Gewaltgeschehen zwangsinvolviert sind: neben Hunderttausenden von Soldaten beider (ja, beider; R. Merkel) Armeen viele Millionen Ukrainer, von denen Tausende den Winter nicht überleben werden“.
Jegliche Verhandlungen abzulehnen, ist verwerflich
Zur Verhältnismäßigkeit der zur Verteidigung eingesetzten Gewalt führt Merkel weiter aus: „Die Ukraine mag diesen Krieg am Ende gewinnen können, politisch und vielleicht auch militärisch, aber allenfalls mit einer Zerstörungsbilanz, die dem Begriff eines solchen Sieges keinen fassbaren Sinn mehr beließe. (…) Jenseits einer Schmerzgrenze, an der die Verwüstung des Landes und der Menschen jede moralische Proportionalität übersteigt, noch immer allein auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen ist nicht tapfer, sondern verwerflich.“
Verhandlungen zu akzeptieren bedeute nach Merkel für die Ukraine nicht, die völkerrechtswidrigen Annexionen der Territorien anzuerkennen, die von Russland nach dem 24.2.2022 vorgenommen wurden. Er nimmt hier allerdings keinen Bezug auf die bereits Ende März 2022 erreichten Verhandlungserfolge von Istanbul, die dann bekanntlich von Seiten der NATO zunichte gemacht wurden, indem die Kriegsziele neu und maximal definiert wurden. Seinerzeit hatte die Ukraine (kurz zusammengefasst) in einen neutralen Status ihres Staates bei Sicherheitsgarantien eingewilligt (statt NATO-Beitritt) und Verhandlungen über einen Autonomiestatus des Donbas und der Krim zugestimmt, wie dies bereits im von der Ukraine nie umgesetzten Minsk-II-Vertrag formuliert war.
Eine militärische Eroberung der Krim widerspräche dem Völkerrecht
Nach Merkel habe die Ukraine jedoch eindeutig kein Recht auf militärische Rückeroberung der seit 2014 von Russland verwalteten Krim, egal, ob es sich seinerzeit um eine Annexion oder Sezession gehandelt habe. „… seither steht die Krim unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt. Aus der ehedem rechtswidrigen Okkupation ist der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden. Damit gewinnt die Friedensmaxime der UN-Charta, die Grundnorm ihres Gewaltverbots, Dominanz über abweichende Erwägungen zur territorialen Gerechtigkeit“. Und weiter: „Nur wenn die friedliche Verwaltung der Krim seit neun Jahren ein permanenter ‚bewaffneter Angriff‘ Russlands wäre, hätte die Ukraine auch jetzt noch, womöglich ad infinitum, ein Recht zur gewaltsamen Revision.“
Die russische Verwaltung der Krim habe ein Maß an Stabilität erreicht, dass für die Zukunft Frieden für diese Region absehbar sei, wenn die Ukraine auf eine illegitime militärische Rückeroberung verzichte. „Die Bewohner der Halbinsel fühlen sich mehrheitlich als Russen; längst vor 2014 wollten sie den staatsrechtlichen Wechsel. Diesen nun mit Gewalt zu revidieren, dafür Tausende weiterer Menschenleben zu zerstören und unauslöschliche Spuren des Hasses in den Überlebenden zu hinterlassen, schriebe einen düsteren Plan für die Zukunft der Krim und ihrer Bewohner.“ Nicht nur an die Ukraine, auch an die Bundesregierung richtet Merkel eine eindeutige Warnung: „Begänne die Ukraine mit dem Versuch einer militärischen Rückeroberung der Krim, so begänne sie einen neuen Krieg. Er wäre nicht die Fortsetzung der Verteidigung gegen die russische Aggression vom vergangenen Februar, sondern selbst ein bewaffneter Angriff. Das sollte die Bundesregierung bei weiteren Waffenlieferungen bedenken. Deren Bedingungslosigkeit war immer verkehrt, politisch wie moralisch. Sollten die künftigen Lieferungen irgendwann zur Rückeroberung der Krim verwendet werden, würde aus diesem Fehler eine Verletzung des Völkerrechts.“
All das, was Merkel zur ukrainischen Pflicht, einen Verhandlungsweg „ex bello“ anzustreben, rechtsphilosophisch einleuchtend ausführt, gilt dann natürlich auch für die kriegsunterstützenden westlichen Staaten.
Martin Singe ist Mitglied der FriedensForum-Redaktion. Dieser Artikel erscheint im FriedensForum 2/2023 und kann vorab verwendet werden.
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