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Best of 1. Februar 2023: Pflegenotstand, Jemen, Indien, Frankreich, Paraguay – was macht wohl das Auswärtige Amt den ganzen Tag?

Er tut mir langsam leid: Joachim Stamp. Ich weiss, dass er ein anständiger und geschäftsfähiger Kerl ist. Bzw. war. Wir haben uns schon lange nicht mehr persönlich getroffen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Wie hat es in den letzten Jahren auf ihn gewirkt? Das weiss ich nicht. Der Auftrag, den die Bundesregierung ihm geben will, ist eine handfeste Realsatire. Es ist wohl keine gewagte Unterstellung, dass das wieder von der FDP ausgeht, die es sich zum Markenkern macht, Entwicklungen dieser Welt tapfer abzustreiten und zu bekämpfen. Im Auftrag welcher Kapitalmacht eigentlich genau?

Diese Entwicklungen sehen nämlich hierzulande gegenwärtig so aus: Luise Sammann/DLF: Warum viele kommen und wieder gehen – Schon heute fehlen im deutschen Gesundheitssektor viele Kräfte, 2035 könnten dort 1,8 Millionen Stellen unbesetzt bleiben. Ein neues Gesetz soll helfen, Experten fordern von der deutschen Gesellschaft zudem mehr Offenheit und Integrationswillen.” Frau Sammann berichtete hier in der von mir hochgeschätzten Reihe “DLF-Hintergrund” mit der in dieser Reihe üblichen Gründlichkeit aus dem Pflegebereich. Sie müssen das Problem aber weiter denken, und der interviewte Marcel Fratzscher deutet das in dieser Reportage bereits an. Das betrifft alle Dienstleistungen: Einzelhandel, Handwerker*innen, öffentliche Dienste (inkl. Verkehr!), Erziehungsberufe (insbesondere die schlechtestbezahlten für die ganz Kleinen).

Innenstädte und Stadteilzentren werden vom Amazon-Konzern regelrecht niedergebrannt. So, wie vorher schon der handwerksorientierte Einzelhandel durch Monster-“Märkte” und Immobiliengier niedergelegt wurde. Die Alten, ob mobilitätseingeschränkt oder nicht, suchen … und finden nichts. Mach’ doch online! Ist das vertrauenswürdig (mal ganz abgesehen von den ausbeuterisch orientierten Geschäftsmodellen)? Die meisten Alten meinen: nein. Und es stimmt. So wie auf öffentlichen Strassen oder in dunklen Parks, wo meistens nichts passiert, sind sie online umso leichtere Beute für organisierte Kriminalität. Der Wunsch nach persönlichem Vertrauen, Kenntnis der Menschen, mit der frau*mann zu tun hat, ist der vollständig legitime Wunsch nach innerer Sicherheit. Doch die dafür zuständigen Innenminister kümmern sich um das Fernhalten von jungen Menschen, statt ihnen Berufs- und Geschäftstätigkeit – und die Suche nach Glück in unserem reichen Land – zu erleichtern.

Der frühere Innenminister Seehofer war ja – niemand hats gemerkt – auch fürs Bauen (und für “Heimat”!) zuständig. Heute ist es so, dass Menschen, die in Dienstleistungsberufen schuften, selbst als “doppelverdienendes” Ehepaar Wohnungen in München, Hamburg, Frankfurt, Köln und noch nicht mal im berühmt dysfunktionalen Berlin bezahlen können. Und in der Beueler Rheinaustrasse auch nicht. Es läuft also auf Werks-/Dienstwohnungen hinaus. Wer jemand für einen Dienstleistungsarbeitsplatz sucht, muss nicht nur (mindestens) tariflich bezahlen, sondern zusätzlich den Bezug einer Wohnung anbieten. Nicht alles wird schlechter, wenn es so kommt. Aber wie viele Jahre wird das dauern?

Und jetzt zeigen Sie mir mal eine deutsche Regierung (Bund, Land, Stadt), die das nicht nur kapiert hat, sondern schon aktiv ist. Ich habe heute mein gesetzliches Rentenalter erreicht. Hinter mir folgen noch 7 (!) Jahrgänge, die weit zahlreicher werden, als meiner. Das ist ein dicker Pitter, der schon lange läutet. Doch der Schall rollt nicht bis Berlin … Und wenn Sie Werkzeug gegen die Spiegel-Paywall haben – da steht, dass das alles nicht stimmt.

Die grösste humanitäre Katastrophe

Mit Müh’ und Not habe ich knapp einen Jemen-Bericht von Anna Osius bei DLF-Kultur entdeckt: Tragödie im Jemen: Keine Empathie im Rest der Welt – Der vergessene Krieg im Jemen hat in acht Jahren unvorstellbares Elend angerichtet. Familien müssen abwägen: Bezahlen sie mit ihrem wenigen Geld den Transport des todkranken Kindes in die Klinik oder kaufen sie davon Brot für den Rest der Familie?” Es ist ja leider schon lobenswert, wenn das Thema überhaupt mal in einem deutschsprachigen Medium erscheint. Autorin Osius ist Korrespondentin in Kairo, “nur” 3.000 km entfernt. Gut, dass sie die Reise/Recherche gewagt hat.

Der Warnschuss gegen Indien

Der Februar hat begonnen. Vor einem halben Jahr habe ich begonnen, Sie auf Gautam Adani hinzuweisen. Gestern hat ihn auch der Spiegel schon entdeckt (Paywall), nur ein halbes Jahr später, mit nur wenigen Wochen Rückstand auf den Singapur-Korrespondenten der FAZ Christoph Hein. Spiegel-Leser wissen später …

Frankreich

Nachdem nun fast 3 Mio. Französinnen (Männer mitgemeint) gegen ihre Regierung auf die Strasse gegangen sind, haben deutsche Medien sie auch bemerkt. Geht doch. Wie üblich ist es in diesem Heuhaufen nun schwierig noch was Nützliches zu finden. Ich empfehle mal wieder Thomas Pany/telepolis: Sozialproteste: Die Straße gegen Macron – Frankreich: Historisch hohe Zahlen bei den Demonstrationen gegen die Rentenreform. Gewerkschaftsführer droht mit “unbefristeten Streiks”. 68 Prozent der Bevölkerung laut Umfragen gegen die Reform.”, denn er wirft die entscheidende Frage auf: die Legitimitätskrise.

Die Regierung Macron wirkt finster entschlossen wie die “drei Affen”. So bereitet sie den Boden für eine reaktionäre Rechtsregierung. Auf diese Option setzen augenscheinlich die herrschenden Klassen im Land. Wird LFI sie aufhalten können? Das ist zumindest aussichtsreicher, als der inländische Trümmerhaufen unter dem anmassenden Namen “Die Linke” (die Agentur, die das erfunden hat, müsste auch mal bestraft werden).

Die Bundesregierung wird ihren wichtigsten europa- und weltpolitischen Partner unwiederbringlich verlieren. Ich mag schon gar nicht mehr das Fachministerium nennen, das sich darum hätte kümmern müssen. Wenn es in Frankreich so weit kommt, wird es wohl nur noch Monate dauern, bis auch hierzulande eine “Harzburger Front” zur Regierungsmacht drängt.

Wenn es so kommt, ist es einerseits ein Beweis für die Fiesigkeit des real existierenden Kapitalismus. Nur leider ist die schon 200 Jahre bekannt und aktenkundig. Was noch aussteht ist der Beweis der Intelligenz fortschrittlicher gesellschaftlicher Kräfte, ihrer Bündnis- und Handlungsfähigkeit. Es sieht nicht gut aus (s.o.). Und dann noch die durch die Klimakrise verknappte Zeit.

Die nächste “Elisabeth Käsemann”?

Kennen Sie nicht? Dann fehlt Ihnen was. Es fällt mir schwer, dazu kühl abgewogene Formulierungen zu finden. Vielleicht begründete diese Frau die beschämende Tradition des auswärtigen Dienstes der BRD, ihre eigenen Bürger*innen zum Wohle eines imaginierten “Staatswohls” schmählich im Stich zu lassen, wenn sie faschistischen Verbrecherbanden, die aber “strategische Partner” der Bundesregierung sind (oder werden sollen), in die Hände fallen. Lebensretter*innen im Mittelmeer sollten sich vorsehen. Die sind immerhin notdürftig durch Öffentlichkeitsarbeit ihrer NGO geschützt.

Florian Rötzer/overton ist sogar persönlich nach Paraguay gereist, um sich um einen völlig unbekannten Fall zu kümmern, der aber “gut” zur gegenwärtig nur sehr begrenzt erfolgreichen Lateinamerika-Offensive der Bundesregierung passt: Feministische Außenpolitik in Paraguay: Alles nur Gedöns? – Im weit entfernten Paraguay verteidigt die deutsche Außenministerin keine „westlichen Werte“, wie sich am Beispiel der schwer bewachten Siedlung ‘El Paraíso Verde’ zeigt.” Was für eine gequirlte S……e.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Das Leben ist schön

    @martin.boettger das ist ja mal ein #Wuttext

  2. Martin Böttger

    Naja, gut. Die Sachverhalte machen wütend. Dass ich sie wahrnehmen konnte, wurde immerhin durch guten Journalismus möglich. Es gibt ihn noch. Das macht mich eher froh.

    • w.nissing

      ja, klar gibt es den noch, aber in welchen Reichweitenstärken und unter welchem Diffamierungsdruck….( Gegner anal lyse etc )
      zu LFI: Wer sich mit der journalistischen Ebene in Frankreich, ins besondere MSM näher befasst bekommt das kalte Kotzen wie da Vertreter dieser Bewegung bekämpft werden während die Faschos eher so als ein bisschen “Igitt” behandelt werden. Im französischen polit ÖR steht der Feind klar LFI .

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