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Kriegsdienstverweigerung zurücknehmen?

Ein Spiegel-Journalist hat seine Kriegsdienstverweigerung zurückgenommen. Dass auch ich zur KDV nicht mehr die gleiche Haltung habe, wie vor 45 (Aua!) Jahren (lange Haare, dünner Bart, dicker Pulli, das ganze Programm) ist mir in diesem einen Jahr Ukrainekrieg mehrfach klar geworden. Aber deswegen ans Kreiswehrersatzamt schreiben und sagen, dass ich die Dinge nun anders sehe als Ende der 1970er Jahre? Ein Punkt, über den ich mal nachdenken muss.

Die KDV war tatsächlich mein erstes, halbwegs folgenreiches politisches Statement. Dabei ging es nicht nur um „Gewissen“, sondern auch um die Frage, in welcher konkreten Welt lebe ich? Fand ich eigentlich den Vietnamkrieg gut, der wenige Jahre zuvor zu Ende gegangen war? Finde ich die Bundeswehr gut, mit dem vielen Personal aus der NS-Zeit, das sie in ihren ersten Jahren übernommen hatte? Das waren Fragen, die genauso wichtig waren wie meine tiefe Abscheu gegen Waffen und ein ziemlich tief empfundener Pazifismus.

Die Welt hat sich verändert. Die Ukraine hat alles Recht, sich zu verteidigen. Wäre ich Ukrainer, wäre ich vielleicht nicht der erste Mann unter Waffen, aber wohl jemand, der einiges dafür täte, dass sein Land nicht unter die Räder kommt. KDVler wäre ich in der Ukraine wohl nicht. Und in der Bundesrepublik erscheint es mir auch nicht mehr zwingend.

Was tun mit meiner Kriegsdienstverweigerung? Dass eine Rücknahme der Sache wohl kaum irgendwelche praktischen Konsequenzen hätte, ist klar. Der Wehrpflichtigenjahrgang 1960, dem ich entstamme, fände im allerschlimmsten Ernstfall wohl nur zum Kloputzen in der Etappe Verwendung. Und ein verrückter Diktator, der halbe Rentner zum „Volkssturm“ einzieht, ist nicht absehbar. Aber trotzdem bin ich nicht mehr der KDVler von dermaleinst. Die Relevanzen, nach denen ich heute „Gewissensentscheidungen“ treffe, haben sich verschoben. V.a. auch deshalb, weil ich diesen demokratischen Rechtsstaat für eine verdammt verteidigenswerte Angelegenheit halte. In einer Autokratie könnte ich nicht leben – oder wenn, dann nur in irgendeiner Form des Widerstands.

Also vielleicht jetzt mal ein bisschen Entschlusskraft zeigen und ein jahrzehntelanges Identitätsfundament: „Ich bin KDVler“ schleifen: Ich war es – und bin, wäre, würde es nicht mehr sein? Konsequent wäre es. Aber vielleicht auch ein bisschen aufgesetzt? Und angesichts der praktischen Folgenlosigkeit vielleicht sogar eitel?

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

Ein Kommentar

  1. Peter Kramer

    Werter Autor,
    natürlich hat jeder Mensch das Recht auf Selbstverteidigung. Sobald das im Kollektiv erfolgen soll wird die Sache schon schwieriger.
    Mancher Bewohner der “Separatistengebiete” hatte nach 2014 gute Gründe sich gegen die “Befreiung” durch die Landsleute aus dem Westen der Ukraine zu wehren, bei diesen Angriffen wurden auch viele Zivilisten getötet. Dafür musste man sich aber recht unappetitlichen Leuten unterordnen, möglicherweise Unschuldige töten, etc.
    Ähnliches könnte dir als Bewohner von Kiew jetzt auch bevor stehen.
    Da kann Desertieren die am wenigsten blöde Alternative sein.
    Wenn es soweit ist, ist für Menschen wie uns schon zuviel falsch gelaufen.
    “Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich.” Guter Spruch unbekannter Herkunft.
    Was heute anstünde ist eine Variante der Zimmerwalder Konferenz, diesmal unter globaler Beteiligung.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Zimmerwalder_Konferenz
    Zugegeben, eine Riesenaufgabe,
    Ich habe zum Glück noch die Wahl wie ich meine Energien einbringe, da nehme ich doch lieber die politische Auseinandersetzung als den Schützengraben.

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