Anfang Februar fand im Bundestag eine Anhörung zum Gesetzentwurf der Ampel zur Wahlrechtsreform statt. Ziel des Vorhabens ist es, die Zahl der Bundestagsabgeordneten wieder auf das ursprünglich vorgesehene Maß zurückzustutzen. Die Mehrheit der Sach­verständigen bezeichneten den Gesetzentwurf für verfassungskonform oder lobten ihn so­gar als geeignete Problemlösung. Die von der Union nominierten Fachleute äußerten hin­gegen Be­denken. Ihr Hauptproblem ist, dass die Wahlkreisstimme (Erststimme) an Bedeu­tung ver­liert, weil nicht alle, die in einem Wahlkreis vorn liegen, zwangsläufig ein Bundes­tagsmandat erhalten. Aus diesem Grund wird der Gesetzentwurf von den Unionsparteien hart kritisiert, sie behalten sich eine Verfassungsklage vor.

In der Diskussion ging es also vorrangig darum, ob Bewerber/innen, die in einem Wahl­kreis die meisten Stimmen erhalten, einen rechtlichen Anspruch auf ein Bundestagsman­dat haben. Wann darf man davon sprechen, dass jemand direkt gewählt ist? Nur weil sie/er im Wahl­kreis mehr Stimmen als die Mitbewerber/innen bekommen hat? Bei der letzten Bundest­agswahl reichten dafür manchmal schon 22%.

Wer darf sich also zurecht Wahlsieger nennen? Ein/e Kandidat/in, die mit 22% etwas mehr als ihre Konkurrenz erhalten hat? Oder eine Partei, die mit 30% deutlich vorne liegt? Wahlkreiskandidat/innen werden bekanntlich nur deshalb in den Bundestag gewählt, weil sie von einer Partei nominiert oder maßgeblich unterstützt werden. Der letzte ernsthafte unabhängige Bewerber war Helmut Palmer, der 1987 19,2% erzielte (was jedoch nicht reichte). In nahezu allen Vereinen und Verbänden, aber auch innerhalb der Parteien gilt in Deutschland jemand nur dann als direkt gewählt, wenn sie/er mehr als 50% der Stimmen erhalten hat. Hat das niemand erreicht, so findet in der Regel eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmstärksten statt.

Von den Kritikern des Gesetzentwurfs wird gelegentlich die Meinung vertreten, man könne auch direkt zum Mehrheitswahlrecht wechseln, um das Ziel der Verkleinerung des Bun­destages zu erreichen. Das wünscht sich wahrscheinlich die CSU. Ansonsten dürfte es schwer sein, dafür Verständnis, Unterstützung oder gar Mehrheiten zu gewinnen. Das gel­tende Verhältniswahlrecht ist nicht nur eine seit 1919 bewährte Tradition in Deutschland, sondern die fairste und demokratischste Form der Bürgerbeteiligung durch Wahlen. Sie berücksichtigt auch Minderheiten und repräsentiert die Vielfalt der Meinungen und der Zu­sammensetzung der Bevölkerung.

Bei einem Mehrheitswahlrecht wäre die FDP schon bei der ersten Bundestagswahl nicht ins Parlament gelangt, und viele der Parteien, die im Laufe der Jahrzehnte gegründet wur­den, wären nie in Parlamente eingezogen und wahrscheinlich bald wieder verschwunden. Die Tatsache, dass die Linke bei Bundestagswahlen einige wenige Direktmandate ge­winnt, ist auf die neuen Bundesländer beschränkt und liegt in der Parteiengeschichte der deutschen Einigung begründet. Und der Umstand, dass die Grünen heute so stark sind, dass sie Direktmandate gewinnen können, wäre kaum eingetreten, wenn sie nicht dank Überschreitens der 5%-Grenze in die Parlamente eingezogen wären und dort ihre Politik hätten vertreten können.

Anhänger/innen des Mehrheitswahlrechts argumentieren, dass die Verhältniswahl zu einer Zersplitterung des Parteiensystems bzw. des Parlaments und zu Problemen bei der Bil­dung von Regierungen führen kann. Großbritannien widerlegt diese These. Dort sind trotz Mehrheitswahlrecht acht Parteien im Parlament vertreten. In Deutschland wird einer möglichen Aufsplitterung mit der 5%-Klausel begegnet.

Das Mehrheitswahlrecht wird in verschiedene Variationen praktiziert. Wenn zum Gewinn die absolute Mehrheit verlangt wird und niemand diese erreicht, findet ein Zweiter Wahl­gang statt, die Stichwahl. Hier treten die beiden Bewerber/innen mit den meisten Stimmen an, manchmal auch mehr. Meistens reicht in der Stichwahl eine relative Mehrheit.. Beim relativen Mehrheitswahlrecht gilt die/derjenige als gewählt, die/der die meisten Stimmen erzielt hat. Eine absolute Mehrheit ist nicht erforderlich. Alle anderen Stimmen verfallen. So wird z.B. in den USA und in Großbritannien gewählt.

Welche Ergebnisse das relative Mehrheitswahlrecht erbringt, hängt im wesentlichen von der Struktur der Gesellschaft, vom den politischen Rahmenbedingungen und vom Partei­ensystem sowie von der Möglichkeit und Bereitschaft ab, zwischen den Parteien Abspra­chen zu treffen oder Bündnisse zu bilden.

Natürlich funktioniert die Demokratie auch beim Mehrheitswahlrecht, vielleicht etwas ein­geschränkt. Beispielhaft sind die USA, wo bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck entsteht, es wären nur zwei Parteien zugelassen. Dem ist aber nicht so. Es gibt in den USA noch eine Reihe kleiner Parteien, die jedoch keine politische Rolle spielen. Wikipedia listet achtzehn Parteien auf, von denen aber nur der Green Party, der Constitution Party und der Libertarian Party eine gewisse Bedeutung bzw. Bekanntheit zugesprochen werden kann.

Für die Vorherrschaft von Republikanern und Demokraten gibt es zumindest drei Grün­de: Erster und wichtigster Grund ist das geltende Mehrheitswahlrecht. Der/die Bewerber/in mit den meisten Stimmen gewinnt das Mandat, alle anderen Stimmen verfallen. Das macht es kleinen bzw. neuen Parteien nahezu unmöglich, Fuß zu fassen.

Zweitens wird der Wahlkampf in den USA nicht staatlich finanziert (wie in Deutschland), sondern durch eigene Mittel. Spenden fließen nahezu ausschließlich an die großen Partei­en. Beim letzten Mal wendeten diese 17 Mrd. $ auf. Drittens werden die kleinen Parteien in der Berichterstattung gern übergangen. Viele Medien sind zudem einseitig auf eine der großen Parteien fixiert. Nur selten gelingt es den „Kleinen“ daher, Meinungen und Lösun­gen zu entwickeln, die in der Öffentlichkeit aufgegriffen werden.

Es gibt noch weitere Gründe, warum es neue Parteien in den USA besonders schwer ha­ben. So bedarf es eines erheblichen Aufwands und einer großen Zahl von Unterstützungs­stimmen, um auf den Wahlzettel zu gelangen. Sodann taucht ein auch andernorts bekann­tes Phänomen auf: Wähler/innen sehen ihre Stimme als verloren an, wenn sie sie nicht ei­ner der großen Parteien geben. Insgesamt scheinen ohnehin die Wählerstrukturen in den USA ziemlich fest gefügt zu sein, und die Bereitschaft zur Wählerwanderung ist gering.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmen Republikaner und Demokraten die Wahlen und die Politik. Die Wähler/innen sind nichts anderes gewohnt. Seit 1945 gingen im Durch­schnitt 95 Prozent der bei den Präsidentschaftswahlen abgegebenen Stimmen an die beiden großen Parteien. Möglicherweise hängen die oft heftigen innerparteilichen Auseinanderset­zungen damit zusammen, dass sich in den Parteien mangels externer Alternativen Mitglie­der mit stark divergierenden politischen Zielsetzungen und Schwerpunkten zusammenfin­den (müssen).

Allerdings können die kleinen Parteien durch Kandidaturen zu einem einflussreichen oder gar entscheidenden Faktor werden, indem sie Stimmen von einer/m Kandidaten der gro­ßen Parteien abziehen. So erhielt der parteiunabhängige Unternehmer Ross Perot 1992 bei der Präsidentschaftswahl 19 % der Stimmen und verhinderte (zugunsten von Bill Clin­ton) die Wiederwahl von Georg W. Bush I. Im Jahr 2000 konkurrierten der Grüne Kandidat Ralph Nader und der demokratische Bewerber Al Gore um die gleiche Wählergruppe. Dies kostete Gore wahrscheinlich entscheidende Stimmen, und er verlor die Wahl gegen Geor­ge W. Bush II.

Verblüffend ist ein Rückblick auf 1787, als das US-amerikanische Wahlrecht entstand. Damals waren ausschließlich weiße Männer protestantischen Glaubens aus der ge­sellschaftlichen Mittel- und Oberschicht stimmberechtigt. Sie mussten eigenen Grund­besitz und damit ein Interesse daran haben, dass dieser und ihre persönliche Freiheit von der Regierung geschützt werden. Der Kreis der Abstimmungsbefugten war daher ziemlich überschaubar und betrug nur etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Nicht wahlberechtigt waren Frauen, Bedienstete, Sklaven, Katholiken und Juden. Man beachte die Zusammenstellung!

Auch in Großbritannien gilt das relative Mehrheitswahlrecht: wer die meisten Stim­men erringt, zieht ins Parlament ein. Daher sind die beiden beherrschenden Parteien Labour Party und Conservative Party in Relation zu ihrem prozentualen Wahlergebnis parlamentarisch überrepräsentiert. Daneben gibt es aber noch eine Vielzahl anderer Parteien. Anders als in den USA haben diese durchaus Chancen, Parlamentsmandate zu gewinnen. Entweder sind es Regionalparteien (Schottland, Nordirland, Wales) oder sie haben sich regionale Schwerpunkte erarbeitet (Liberale Demokraten). Die Regie­rungen wurden stets von den beiden Großen gestellt, nur 2010 bis 2015 waren die Li­beralen Demokraten daran beteiligt.

Bei der Wahl im Jahre 2019 zogen immerhin acht Parteien ins Parlament ein: Kon­servative (43,6%, 365 Sitze), Labour (32,2 / 203), Scottish National Party (3,9 / 48), Liberale Demokraten (Brexit-Gegner, 11,5 / 11), Democratic Unionist Party (nordirisch, protestantisch, 0,8 / 8), Sinn Fein (nordirisch, katholisch, 0,6 / 7), Plaid Cimru (wali­sisch, 0,5 / 4), Grüne Partei (2,7 / 1). Die UK Independence Party, die 2015 als Trieb­kraft für den Brexit 12,6% gewonnen hatte, fiel auf 0,1% zurück. Ihre Abspaltung Re­form UK (früher Brexit Party) erzielte 2,0%.

Das britische Mehrheitswahlrecht bestimmt, dass die/der Kandidat/in mit den meisten Stimmen gewählt ist, die anderen Stimmen verfallen. Dieses Verfahren kann durchaus zu einer Umkehr des Prozentergebnisses führen und die Wähler/innen zu taktischem Wahlverhalten veranlassen. Dadurch bekommen die kleinen Parteien weniger Stim­men als ihnen nach Sympathiewerten zukämen. Ein Vergleich der Wahlprozente mit der Anzahl der Mandate zeigt diesen Einfluss des Wahlrechts, aber auch die Bedeu­tung regionaler Hochburgen. So hat die Scottish National Party mit nur 4% 48 Man­date errungen, die Liberalen Demokraten mit 11,5% 8 Sitze. Die gleiche Zahl hat die Democratic Unionist Party mit nur 0,8% erreicht. Bestrebungen zur Änderung des Wahlrechts sind bislang gescheitert.

Auch in Frankreich werden die Abgeordneten nach einem Mehrheitswahlrecht er­mittelt, allerdings in zwei Wahlgängen. Im ersten Wahlgang ist ein/e Wahlkreisbewer­ber/in gewählt, wenn sie/er mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen erreicht und die Stimmenzahl mindestens 25% der Wahlberechtigten des Wahlkreises entspricht. Sollte niemand die absolute Mehrheit erreichen, so kommen diejenigen Kandidaten, die wenigstens 12,5% erzielt haben, in den zweiten Wahlgang. Zumindest treten dort die beiden Kandidat/innen an, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben.

Im zweiten Wahlgang reicht die relative Mehrheit; alle anderen Stimmen bleiben unbe­rücksichtigt. Dieses Wahlrecht gibt kleineren Parteien allein keine Chance und zwingt daher zu Wahlbündnissen und zu Absprachen bei der Besetzung von Wahlkreisen. Dadurch spielen trotz Mehrheitswahlrecht auch kleine und neue Parteien auf der politischen Bühne mit.

Bei der Parlamentswahl im Juni 2022 erhielt die Partei ‘Renaissance’ (früher ‘La Re­publique en marche’) von Präsident Macron 245 der 577 Sitze, verpasste also die ab­solute Mehrheit. Das neue linke Bündnis NUPES aus Sozialisten, Kommunisten, Grü­nen und anderen Linksparteien, angeführt von Jean-Luc Mélenchon, ist mit 131 Sit­zen im Parlament vertreten und damit stärkste Oppositionskraft. Drittstärkste Fraktion ist die rechtsnationale Partei Rassemblement National von Marine Le Pen mit 89 Sit­zen. Die Republikaner erhielten 61 Sitze und Sonstige 51.

In Italien hat es mehrfach Wahlrechtsänderungen gegeben, stets mit dem Ziel, klare Mehrheiten zu sichern. Aktuell gilt bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer (630 Sitze) und zum Senat (315 Sitze) ein gemischtes Verfahren. Dabei werden zwei Drittel der Sitze (61 %) proportional nach den Parteilisten vergeben und ein Drittel (37 %) nach der relati­ven Mehrheit in den Wahlkreisen. 2% stehen den im Ausland lebenden Italiener/innen zu. Für die proportional verteilten Sitze gilt ein Mindestquorum von 3 Prozent für Parteien und von 10 Prozent für Koalitionen. Wahlbündnisse und Absprachen über Kandidaturen sind zulässig und werden praktiziert.

Zweitstimmen bzw. Stimmensplitting gibt es in Italien nicht. Der Wähler kann seine Stimme für einen Kandidaten in seinem Wahlkreis abgeben oder für eine Parteiliste. Die Wahlfrei­heit wird dadurch deutlich eingeschränkt. Kleinere Gruppierungen und junge Parteien mit unbekannten Kandidat/innen sind dadurch benachteiligt. Viele von ihnen haben sich deshalb größeren Gruppierungen angeschlossen.

2022 haben sechs größere Parteien bzw. Wahlbündnisse und eine Reihe von kleine­ren Parteien kandidiert. Im Parlament sitzen nunmehr 7 größere Parteien, die sich zumeist zu Fraktionen zusammengeschlossen haben, und einige Einzelvertreter/in­nen. Wie wichtig die Möglichkeit ist, Bündnisse zu schließen und Absprachen zu treffen, konnte man hier sehen. Weil drei (rechte) Parteien ein Wahl­bündnis bildeten und sich auf gemeinsame Kandidat/innen einigten, haben sie 2022 weit mehr Direktmandate gewonnen als ihnen nach Zweitstimmen zugestanden hätten. Da­durch ha­ben sie mit 44% der Stim­men 57 % der Parlamentssitze gewonnen. Ausgleichs­mandate gibt es in Italien nicht.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.