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Der blinde Fleck

In der Debatte um den Ukrainekrieg – Hat Herfried Münkler eine „machtrealistische“ Option für den Frieden?

Der blinde Fleck in der Debatte um den Ukrainekrieg liegt darin, „Verhandlungen“ zu fordern, ohne aber die Konfliktlogik, die Verhandlungen entgegenstehen, mitbedacht zu haben. Wir sehen das bei Wagenknecht/Schwarzer plus AfD-Anhang. Hier läuft die Forderung nach Verhandlungen und einem Ende der Ukraine-Unterstützung letztlich auf einen von der Ukraine zu akzeptierenden Unterwerfungsfrieden hinaus. Auf einem ganz anderen Reflexionsniveau findet sich dieser „blinde Fleck“ leider auch bei Jürgen Habermas, der zwar nicht die Unterwerfung der Ukraine will, aber auch nicht beschreiben kann, wie jenseits der bloßen Forderung nach Verhandlungen der Weg zu einem halbwegs stabilen Frieden genauer aussehen könnte.

Herfried Münkler fokussiert in einem Beitrag für den „Spiegel“ (Paywall) genau diesen blinden Fleck in der Debatte. Münkler ist „Machtrealist“, also jemand, für den moralisch-normative Aspekte gegenüber den Strukturierungen der Staatenwelt durch schiere Macht eher die „zweite Geige“ spielen. Das hat ihm einige Kritik in Deutschland eingebracht, der ich mich zu einem guten Teil anschließen würde. Aber nichtsdestotrotz sind die Machtrealien mitzudenken, zumal und gerade dann, wenn man es mit einem Machtzyniker wie Putin zu tun hat, dem das Völkerrecht und normativ-moralische Erwägungen ziemlich egal sind. Was Münkler in seinem „Denken des Kriegs“ andenkt, ist ein Waffenstillstand, der von starken westlichen Garantien für die Ukraine getragen wird.

Im Augenblick und auf absehbare Zeit hätte die Ukraine von Russland wohl bestenfalls einen taktischen Waffenstillstand zu erwarten, den Russland nutzen würde, um nach einer Auffrischung der Kräfte erneut loszuschlagen. Es wäre irrational von der Ukraine, Russland eine solche Pause zu gewähren, falls Russland sich überhaupt darauf einließe – eben weil es dann später für die Ukraine nur noch schlimmer käme. Der Ukraine bleibt nach Münkler also nicht viel mehr übrig, als in einem ihr von Russland aufgezwungenen „Erschöpfungskrieg“ durchzuhalten. Und der Westen muss sie in diesem Kampf weiter unterstützen. Nur durch einen anhaltenden Widerstand könnte in der russischen Führung der Gedanke Raum greifen, dass man in diesem Krieg nicht weiter kommt.

Dafür, dass ein Waffenstillstand dann aber auch für die Ukraine und ihre Sicherheit rational wäre, müsste wiederum der Westen deutlich in Vorlage gehen. Er müsste der Ukraine – und Russland! – garantieren, dass ein erneuter russischer Angriff dazu führen würde, dass Russland auf dem Boden der Ukraine dann stärkere Kräfte entgegenstehen würden als nur die Ukraine alleine. Das aber hieße dann m.E. wohl etwas Ähnliches wie Nato-Artikel-5-Garantien, ggf. auf bilateraler Basis mit einzelnen westlichen Staaten und nicht unbedingt mit der Nato insgesamt. Aber eine solche realistische Drohung seitens des Westens wäre wohl notwendig, um den Frieden in der Ukraine – und damit in Europa! – halbwegs dauerhaft durchzusetzen.

Ob solche Überlegungen, die Münkler am Ende seines Beitrags knapp skizziert, wirklich praktikabel sind, vermag ich im Moment nicht zu beurteilen. Aber um Überlegungen dieser Art wird es gehen, wenn man den Bestand der Ukraine dauerhaft sichern und Europa vor einer jahrzehntelangen Bedrohung durch ein imperialistisches Russland bewahren möchte. Es sind solche Dinge, die man bedenken muss, wenn man jenseits der bloßen Forderung nach Verhandlungen realistisch etwas bewegen will.

Herfried Münkler im „Spiegel“:

„Bewegung kommt in die festgefahrene Lage erst, wenn die Seite mit den weiter reichenden Zielen, die sie mit Kriegsgewalt durchzusetzen sucht, einsieht, dass sie diese Ziele nicht oder nur zu einem für sie unbezahlbaren Preis erreichen kann. Die Seite mit den weiter reichenden Zielen ist per definitionem der Angreifer, im jetzigen Fall also Russland. Damit die politische und militärische Führung Russlands begreift, dass sie ihre Ziele nicht erreichen kann, muss sich die Ukraine im Erschöpfungskrieg als durchhalte­fähig erweisen. Das sicherzustellen ist nicht zuletzt die Aufgabe des Westens, wenn er verhindern will, dass die Ukraine den Krieg »nicht verliert«. Also muss er Waffen und Munition liefern.

Aber wie ist die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, solange sie ihre politisch defensiven Kriegsziele, die Wiederherstellung der territorialen Souveränität vor Kriegsbeginn, nicht erreicht hat? Vermutlich nur durch westliche Sicherheitsgarantien, die sicherstellen, dass die russische Seite, sollte sie nach einiger Zeit den Krieg wieder eröffnen, es mit stärkeren Kräften als nur denen der Ukraine zu tun hätte. Heißt: Wer im Westen den Krieg in der Ukraine wirklich beenden will, muss politische Risiken eingehen. Wer dazu nicht bereit ist, wird seinem Fortgang bloß tatenlos zuschauen müssen – auch wenn er sich im Schein-Aktivismus ergeht, den Angegriffenen zur sofortigen Kriegsbeendigung aufzufordern.“

Mehr zum Autor hier.

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

5 Kommentare

  1. Martin Böttger

    “Machtzyniker” – hmm, da kenne ich mehr als einen. Und ich kenne nur die auf “unserer” Seite …
    Ich hatte im Spiegel wg. Paywall nur die Schlagzeile gesehen, oftmals ist die nicht von den Autor*inn*en selbst: “Wer im Westen den Krieg wirklich beenden will, muss politische Risiken eingehen”. Mein erster Gedanke: was ist mit denen, die diese “politischen Risiken” nicht eingehen wollen? Sei es aus Klug- oder aus Feigheit? Nicht wenige ukrainische und russische junge Männer darunter. Hier wird denen geholfen, sofern sie es bis hierhin schaffen:
    https://www.connection-ev.org/
    Warum gehen nicht die die “Risiken” ein, die sie wollen, oft vom Schreibtisch aus? Steile Antwortthese: weil sie herrschen; weil sie es können und selbst nicht müssen.

    • Reinhard Olschanski

      Es geht nicht darum, neu in Risiken hineinzugehen, sondern um Risikoabwägung. Denn die Risiken sind längst da – für die Länder Ostmitteleuropas und Europa insgesamt. Sie würden unermesslich viel größer, wenn Russland „gewinnen“ würde und Putin mit seinem Neoimperialismus Erfolg hätte. Einen Waffenstillstand erreichen und ihn dann robust sichern, scheint mir unter allen Alternativen die im Moment am wenigsten riskante zu sein. Oder kennst Du eine bessere? Wenn ja, wäre ich gespannt.

    • Martin Böttger

      Wenn sich alle so schnell auf Waffenstillstand einigen könnten, wie wir beide, wäre vieles besser.

  2. A.Holberg

    Zunächst mal nur eine Frage: wie kommt Herr Olschansky auf die Idee, “Putin” beabsichtige im Fall eines Sieges über die USA in der Ukraine irgendwelche weiteren Länder anzugreifen? Dass das die gängige Propaganda solcher Länder wie Polen ist, ist bekannt, und ebenso bekannt sollte vielleicht auch sein, dass diese Propaganda im Wesentlichen dazu dient, in den – noch – reicheren NATO/EU-Staaten Gelder loszumachen.

  3. Gert Samuel

    Falls ich nicht völlig daneben liege, kommen eine Reihe von ehemaligen Militärs und Diplomaten (z.B. Vad, von der Schulenburg) zu deutlich anderen Ergebnissen in ihren Analysen als Münkler und der Autor: Durchhalteparolen solcher Art schaden in erster Linie den Ukrainerinnen und Ukrainern.
    Mir erscheinen diese als zynische Ratschläge zum Fortsetzen eines verheerenden Krieges.

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