Frau Bui kämpft

Am Wochenende las ich in der FAZ (Paywall) die Geschichte der Turnerin Kim Bui. Ich kannte sie nicht, weil ich Turnen von Kindheit an hassen gelernt habe, und es deswegen in meinem Medienkonsum vermeide. Schon in meiner Jugend in den 70ern empfand ich es als pervers, 16-jährige Mädchen durch den Medien-Fleischwolf zu drehen. In der Gegenwart wird nicht zuletzt dank #metoo die überbordend-kriminelle Seite dieses Treibens zur Kenntnis genommen. Dass Frau Bui im Erwachsenenalter von 34 Jahren nun engagiert publizistisch dagegen vorgeht, kann nicht hoch genug geschätzt werden.

Sie müssen nicht die FAZ-Paywall durchbohren, um mehr darüber zu erfahren. Es gibt eine ARD-Dokumentation, an der sie mitgewirkt hat: “Hungern für Gold” (Video 44 min).

Ich selbst habe mich, motiviert durch Freundschaften mit Betroffenen, früh journalistisch für das Politikum Essstörungen interessiert. Seitdem bin ich angeödet von der Oberflächlichkeit der öffentliche Diskurse zu dem Thema. Immerhin ein Fortschritt, dass mittlerweile öffentlich diskutiert wird, und die Millionen Betroffenen mit ihrem Schicksal nicht mehr allein sind. Beliebt ist wie so oft die Festmachung von Sündenböcken: Werbung, Mode, Medien und neuerdings wieder Werbung für Süsswaren. Auch die zweifellos grassierende Landplage ehrgeiziger Sportler*innen*eltern – sie sind selbst nur Kinder des sich reproduzierenden Zurichtungssystems.

Tatsächlich ist das Thema komplexer, und Frau Bui erklärt das auch treffend. Es handelt sich um eine umfassende Persönlichkeitsstörung, die durch die Gesellschaft wie sie ist, den real existierenden Kapitalismus, hervorgerufen wird. Die Essstörung ist ein Versuch des Individuums, über sich und sein Leben die Kontrolle, “innere Sicherheit” im wörtlichen Sinne, zurück zu gewinnen. Die grassierende Selbstoptimierung ist eines der Symptome dieser genussfeindlichen psychischen Massenverelendung. Den Rest meines Lebens werde ich zur Widerstandsbewegung dagegen gehören.

Schnecken sind ein Formel1-Rennwagen verglichen mit dem gesellschaftlichen Fortschritt hierzulande. Die Sportverbände wollen jetzt Tagungen zu dem Thema machen, wow! Aber gut, gegenüber der Lage zum Zeitpunkt meiner Freitag-Reportage 2006 ist das revolutionär. Verbunden mit den revolutionären Erfolgen von #metoo geht es eindeutig voran.

Ich frage mich aktuell, wann das Thema im Personal-Casting deutscher Medien ankommt. Die feiern sich derzeit selbst, weil Frauen jetzt auch Fussball nicht nur spielen, sondern sogar präsentieren dürfen. Was meinen Sie? Wann wird wird die erste Frau, die keine Model-Körperkriterien erfüllt, vor die Kamera gelassen? Wann wird es in Mediengrossunternehmen, wie es die deutschen TV-Anstalten sind, Gesundheitsprävention und betriebsärztliche Betreuung gegen Essstörungen geben?

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Ich liebe Schönheit. Wenn ich allerdings das Gefühl bekomme, dass sie erlitten worden ist und wird, überkommt mich eine Mischung von Übelkeit und Mitleid. Ist auch keine Lösung. Erforderlich ist Solidarität, im Betrieb und um ihn herum. Letzteres sind wir, das Publikum.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net