Wofür man Wiedergänger Hitlers braucht und der Fall Douma (Syrien) – Zum Schweigen deutscher Wissenschaftler, zum Versagen der OPCW und zur Komplizenschaft mit Islamisten in Syrien

Am 18. Februar 1998 berichtete CNN von einer Veranstaltung in den USA, an der die damalige Außenministerin Albright teilnahm. Zu den Argumenten, mit denen sie einen Krieg gegen den Irak befürwortete, gehörte der Besitz von Massenvernichtungswaffen und die Auffassung, Saddam wäre der neue Hitler. Laut CNN-Bericht erklärte Frau Albright unter der Überschrift „Worum es bei der Demokratie geht“ unter anderem: “Was wir machen ist, dass Sie alle nachts schlafen können. Ich bin sehr stolz darauf, was wir tun. Wir sind die größte Nation der Welt.“ Zu dem Zeitpunkt waren schon mehr als 500.000 Kinder wegen der US-Sanktionen gegen den Irak verhungert.

Noch aber hatte die NATO Serbien nicht bombardiert.

Das kam wenig später. Wie Augstein im Spiegel am 30. Mai 1999 schrieb, hatte dieser Krieg vor allem den Zweck, den Europäern klar zu machen, dass die Zeit, in der die NATO ein reines Verteidigungsbündnis sei, vorbei wäre. „Madeleines Krieg“ lautete der Titel des Beitrags. Augstein schrieb, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig war. Er schrieb, dass er nicht aus humanitären Gründen geführt wurde.

Ein hochspannender Bericht der BBC aus dem Jahr 2000 lieferte weitere Hintergründe, wie Albright die Ermordung von 45 Kosovaren zum Anlass nahm, eine humanitäre Verteidigungsmission zu erfinden, die keine war. Aus der UCK, bis dato als terroristische Vereinigung eingestuft, wurde nunmehr ein schützenswerter Partner. (Der Bericht enthält Hinweise auf die Bereitschaft der Briten, notfalls die Luftschläge durch einen Landkrieg zu ergänzen sowie auf eine geheime Verständigung zwischen Berlin und Moskau, den damaligen serbischen Diktator Milosevic dazu zu bewegen, den Einmarsch der NATO in den Kosovo zu akzeptieren. Laut BBC war dieser Plan erfolgreich.)

Die kriegerische Denklogik der Frau Albright entpuppte sich bereits 1993 in einer berühmt-berüchtigt gewordenen Bemerkung gegen über Collin Powell: „Wozu haben wir das phantastische Militär, wenn Sie immer darüber reden, dass wir es nicht benutzen können.“ Das war kein Alleinstellungsmerkmal von Albright. Bush dachte so, Obama, auch Biden. Und wenn man das eigene Militär nicht benutzen konnte oder wollte, schaffte man sich Stellvertreter, die man für sich kämpfen ließ. Egal wes Geistes Kind die waren oder sind.

Mit den immergleichen Argumenten, die seit Beginn der 90er Jahre zum Katechismus wurden: Eine Wiedergeburt Hitlers drohte nach der Erde zu greifen, humanitäre Katastrophenlagen bahnten sich an, Diktatoren griffen nach Massenvernichtungswaffen, die Demokratie war gefährdet bzw. musste exportiert werden. Es ist das alte Drehbuch von Frau Albright und Co. in immer neuen Schattierungen. Nur dass es heute keinen Augstein mehr gibt und keine BBC-Reporter, die das noch aufschreiben. Der aktuelle Hitler der Welt ist ein Russe, der am Horizont aufscheinende Hitler ein Chinese. Hitlerverschnitte regieren in Syrien, im Iran, in Nordkorea, in Venezuela, Kuba und wer weiß, wo noch.

Der Gedanke, der Reagan und Gorbatschow zusammenführte, dass man trotz Feindschaft und ideologische Grenzen eine gemeinsame Verantwortung für die Welt hätte, ist fast völlig zu Tode getrampelt und mit ihm inzwischen auch fast alle Abrüstungsvereinbarungen, die aus diesem Grundverständnis entsprangen. Es regieren Misstrauen, Konflikt und die Bereitschaft zur Konflikteskalation im Sicherheitsrat, aber auch seit Jahren in der OPCW, die das internationale Chemiewaffenverbot durchsetzen soll.

Wenn man der westlichen Politik und den allermeisten Medien glaubt, ist Russland an dieser Situation allein schuld und auf pervertierte Weise stimmt das auch. Denn Russland verweigert sich der Dominanz der USA, dem Konzept von Frau Albright und Co. Denn das es um US-„leadership“ geht, wird in Washington reflexhaft immer wieder betont. Das letzte Mal, dass Russland im Sicherheitsrat einer angeblich humanitären Mission des Westens zustimmte, war Libyen. Welche Tragödie daraus resultierte, weiß jeder.

Die USA und Russland setzten gemeinsam durch, dass Syrien sich verpflichtete, seine Chemiewaffen abzuschaffen. Heute ist die Frage der Chemiewaffeneinsätze in Syrien ein tiefer Konfliktfall. Die westliche Sicht lautet, dass Russland als militärischer Verbündeter von Assad dessen Verbrechen deckt, womöglich direkter involviert ist als angenommen. Heute gilt nicht nur Syrien als Gesetzesbrecher, was das Chemiewaffenverbot angeht. Auch Russland und China werden inzwischen Verstöße gegen die Konvention vorgeworfen.

Das begann im Fall Russlands ein Jahr nach der vollständigen Abschaffung der russischen Chemiewaffen mit dem „Fall Skripal“ (britische Verdächtigung). Mit dem „Fall Nawalny“ folgte die amerikanische. Russen versuchen zu morden, verwenden dazu verbotene Chemiewaffen eigener Provenienz und unterhalten ein geheimes Chemiewaffenprogramm – so wird es erzählt. So wird es mehrheitlich geglaubt und so wird die Diskussion auf der nächsten Überprüfungskonferenz der OPCW im Mai 2023 auch laufen.

Niemand drückt die Stopp-Taste.

Denn die Empörung des Westens erscheint als rechtens. Schließlich weiß ja jeder, wie es war, nicht wahr, und die Russen sind nun mal schuld, niemand sonst. So einfach machten es sich auch westliche Staatenvertreter, als nunmehr zum dritten Mal, erneut auf russische Initiative, eine Diskussion um den mutmaßlichen syrischen Chemiewaffenangriff auf Douma stattfand. Anlass war der Bericht des Investigation and Identification Teams (IIT), das seinen Befund der OPCW, der zuständigen Organisation für die Abschaffung chemischer Waffen, im Januar 2023 zuleitete und schlussfolgerte, dass die Verantwortung für den Giftgasanschlag in Douma sehr wahrscheinlich bei der syrischen Seite liege, aber auch eine Verstrickung Russlands insinuiert (Teil 6 bis Ziffern 6.22). Erneut kam es zu einer scharfen Konfrontation zwischen Russland und westlichen Staatenvertretern. Diese werfen Russland Desinformation und die Untergrabung der Autorität und Integrität der OPCW vor. Das ist auch die deutsche Position, die in der Diskussion des ITT-Berichtes in der OPCW vorgetragen wurde.

Denn Syrien bestreitet die Verantwortung für Douma. Russland wirft dem Westen vor, im Fall von Douma ein Ereignis inszeniert zu haben und verurteilt die (völkerrechtswidrige) Bombardierung Syriens durch die USA, Großbritannien und Frankreich zur „Vergeltung“ des Chemiewaffenanschlags. Beide Länder hatten damals ausdrücklich die Entsendung eines Expertenteams der OPCW nach Douma verlangt, und nicht der Westen, nachdem die OPCW bei früheren mutmaßlichen Anschlägen die Beschaffung von Beweismitteln an die Weißhelme outgesourct hatte. Die Konfliktsituation von 2018 wurde in einem Guardian-Artikel gut dokumentiert, einschließlich der damaligen Erklärungen des Weißen Hauses zu Douma.

Ein Abschlussbericht der OPCW vom März 2019 bestätigte die westliche Sicht auf die Ereignisse.

Damit sollte alles klar sein.

Dem wäre auch so, wenn es nicht innerhalb der OPCW zur Frage des betreffenden Abschlussberichts zu Konflikten um die wissenschaftliche Beurteilung der Untersuchungsergebnisse von Douma gekommen wäre und mit Ausnahme eines Experten alle übrigen Teilnehmer der Douma-Mission 2018 von der Abfassung der Berichte der OPCW ausgeschlossen worden wären. Ein geleaktes Dokument 2019 brachte alles ins Rollen, wobei es wichtig ist, hervorzuheben, dass keiner der OPCW-Experten, die innerhalb der OPCW protestierten, etwas leakte. Erst als ein Leak erfolgte, bekannten sich zwei öffentlich zu ihrer wissenschaftlichen Meinung. Ihre Aussagen und inzwischen bekannt gewordene Unterlagen legen eine politische Beeinflussung der fachlichen Arbeit der OPCW und Beweismanipulation nahe. Diese zu Whistleblowern gewordenen (ehemaligen) OPCW-Experten fordern, ihren fachlichen Dissens innerhalb der OPCW vortragen zu dürfen. Auch das wurde nicht gewährt.

Tatsache ist, dass es, wann immer das Thema aufkommt, von westlicher Seite umgehend heisst, dass es sich um russische Desinformation und einen russischen Versuch handele, die Integrität der OPCW zu unterminieren. Denn was die „Abweichler“ in der OPCW zu sagen haben, passt nicht ins Narrativ. Russland hört allerdings nicht auf, nachzubohren.

Das gilt beispielsweise für die Analyse zur Platzierung der Bomben, die ausweislich geleakter Dokumente in der OPCW nicht archiviert werden sollte, weil diese AnalyseV zum Schluss kam, die Bomben seien nicht aus der Luft abgeworfen worden. Das gilt auch für die Frage, wie im April 2018 43 Menschen in Douma starben. War deren Auffindungsstatus, auf Video festgehalten, konsistent ist mit einer schweren Chlorgasvergiftung, die unmittelbar zum Tode führte? Zu dieser Frage, und auch das ist bekannt, kontaktierten die OPCW-Experten der Douma-Mission Wissenschaftler in Deutschland.

Ausweislich von Notizen aus der OPCW sollen diese konsultierten deutschen Wissenschaftler eingeschätzt haben, dass das Opferbild nicht dem einer akuten Chlorgasvergiftung entspricht. Sie hätten den Eindruck gehabt, die Sache wäre gestellt (Was nicht die Frage löst, woran die 43 Menschen in Douma starben.) An dem Punkt ist auch der ITT-Bericht völlig vage (vgl. S. 43). Er verwendet zur Belegführung der These einer akuten Chlorgasvergiftung eine Studie, in der diese Symptomatik (Schaum vor dem Mund) überhaupt nicht erwähnt wird. (Wenn man bei Wikipedia die Symptome einer Chlorgasvergiftung nachschlägt, landet man ebenfalls bei dieser Studie.) Die Konsultation der deutschen Wissenschaftler ist in den offiziellen OPCW-Unterlagen nicht vorhanden und wird auch im IIT-Bericht nicht erwähnt.

Das bedeutet, dass es in Deutschland eine Gruppe von Experten gibt, sehr wahrscheinlich anerkannte Chemiewaffenexperte, die die ganze damalige Diskussion kennen müssen, die sich mit den OPCW-Experten, die in Douma waren, trafen, mit ihnen fachlich diskutierten. Keiner von ihnen hat den Mund aufgemacht. Sie haben weder widersprochen, was in internen (nunmehr öffentlich gewordenen) OPCW-Notizen stand. Sie haben aber auch nicht für die OPCW-Whistleblower gesprochen und ihnen fachlichen Rückhalt gegeben. Sie schweigen, obwohl gerade diese deutschen Experten besser als viele andere wissen müssten, dass es längst nicht „nur“ um Douma geht, sondern um die Frage, ob die OPCW das unparteiische, streng wissenschaftlich ausgerichtete Gremium ist, als das es konzipiert wurde.

Warum interessiert das den deutschen Mainstream nicht?

Um sich nicht dem Vorwurf russischer Desinformationsunterstützung auszusetzen? Um die Karriere nicht zu gefährden? Weil man nicht für einen wiedergeborenen Hitler spricht und russische Fragen aufnimmt? Weil man sich nicht in ein Boot mit Wikileaks setzt, denn Wikileaks hatte eine Anhörung zu den Douma-Ereignissen durchgeführt?

Der ehemalige Generaldirektor der OPCW, Bustani, stellte sich hinter die Forderungen der OPCW-Whistleblower, die er persönlich kennt. Er wollte vor dem Sicherheitsrat aussagen, aber auch das wurde von westlicher Seite geblockt. Dass das von Brasilien nicht vergessen ist, machte eine Bemerkung des brasilianischen Vertreters während der jüngsten Sicherheitsratssitzung zum Thema deutlich. (Anm.: Bustani wurde auf Betreiben der USA – rechtswidrig, wie später festgestellt wurde – seines Amtes enthoben. Er stand damals gegen einen Krieg mit dem Irak und wollte stattdessen den Irak in die Chemiewaffenkonvention bringen.)

So werfen alte Ereignisse lange Schatten.

Vor dem Sicherheitsrat trat zum zweiten Mal der aus Kanada stammende, unabhängige Journalist Aaron Maté auf, der als einer von ganz sehr wenigen seit fünf Jahren im Fall Douma recherchiert und der furchtlos genug ist, den ganzen Dreck, mit dem er deshalb seit Jahren beworfen wird, abzuschütteln. Er hat sogar Bellingcat beim Lügen erwischt. Maté stellt immer wieder die gleichen Fragen:

Warum lässt die OPCW nicht zu, dass ihre Experten ihre wissenschaftlichen Ergebnisse vortragen können?

Warum interessiert sich niemand für die wissenschaftlichen Fakten des Falls?

Warum schweigt der Mainstream?

Der IIT-Bericht (ab Punkt 5.3.) enthält ebenfalls bemerkenswerte Ausführungen der politischen Geschehnisse in dieser syrischen Region im Umfeld von Damaskus. Danach war Ghouta die „Hauptstadt“ der bewaffneten Opposition in Syrien, eine „strategische Bedrohung“ für das Assad-Regime und zwischen 2013 und 2018 eingekesselt. Was 2018 der UN-Generalsekretär als „Hölle auf Erden“ bezeichnete, stand spätestens seit 2016 laut Bericht unter dem Einfluss von vier bewaffneten Gruppierungen, die allesamt einen Islamischen Staat für Syrien anstreben, in dem das Scharia-Recht herrscht. Wer ab 2013 in der Region herrschte, ließ der Bericht offen.

2013/2014 muss in dieser Region der IS gewesen sein, denn er wurde von dort vertrieben. Zudem war dort seit 2013 die Hauptbasis von Jaysh al Islam, einer fundamentalistischen islamistischen Organisation, ebenfalls in Opposition zum Assad-Regime. Der IIT-Bericht führte in den Ziffern 6.10 bis 6.22 außerdem aus, dass sich die syrischen und russischen Militärangriffe auf die Region ab Februar 2018 intensivierten, Verhandlungen mit Jaysh al Islam zusammenbrachen und der Giftgasanschlag auf Douma und die Traumatisierung der Bevölkerung mit ursächlich dafür gewesen wären, dass sich schließlich einen Tag später Jaysh al Islam ergab.

Spätestens an dieser Stelle ist klar, dass dieser Bericht, so objektiv er sich geben mag, eine klare Parteinahme enthält: Der Chemiewaffenverbrecher Assad zwingt eine militärische Aufgabe der islamistischen Opposition herbei. Diese Opposition hängt zwar der Bildung eines islamistischen Staates und der Scharia an, aber hat Mitleid mit der von Assad (mit russischem Komplizentum) erneut traumatisierten bzw. chemisch vergifteten Zivilbevölkerung und streckt daher die Waffen.

Waren die, die das schrieben, nur naiv und glaubten einfach alles, was interessierte Seiten in einem mörderischen Konflikt behaupten oder unverschämt genug, bewusst den Konflikt mit Syrien und Russland weiter zu eskalieren? Denn jedem, der das liest, wird ja wohl klar: Radikale Islamisten sind die besseren Menschen im Vergleich zu Assad und seinen Unterstützern.

Aber womöglich darf man das auch schon nicht einmal mehr nur denken, geschweige denn schreiben, denn inzwischen gilt alles einer Armee von Papageien als russische Desinformation, was auch nur den Hauch eines Zweifels auf das Geschehen in Douma wirft. Das hat auch einen guten Grund. Denn die ersten „Zeugen“ des Vorfalls von Douma waren die „Weißhelme“ und um deren Rolle im Syrienkrieg gibt es ebenfalls Streit. (Die Darstellung erspare ich mir heute.)

Keinen Streit aber kann es darum geben, was der militärische Geheimdienst der USA zu den Konfliktlinien im Syrienkrieg unter Punkt B und C aufschrieb und was nie bekannt werden sollte: B: Die Salafisten, die muslimische Bruderschaft und Al Quaida sind die Hauptkräfte des Aufstands gegen das Assad-Regime. C: Der Westen ist auf ihrer Seite.

Oder wie der heutige außenpolitische Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Sullivan 2012 an Hillary Clinton schrieb: „Al Quaida ist auf unserer Seite. In Syrien.“

Wir glauben doch sehr gerne, dass die Aufständischen in Syrien alles moderate „Rebellen“ waren, allein der Demokratie und einer lichten Zukunft verbunden. Die hässliche Realität wurde schlicht ausgeblendet. Ausgeblendet ist auch, dass die Obama-Administration es sich fein ausgedacht hatte: Statt die damaligen Warnungen des eigenen Geheimdienstes vor der Entstehung eines Islamischen Staates in Syrien ernst zu nehmen, glaubte sie, der werde womöglich die Drecksarbeit erledigen (und Assad stürzen). Das entlockte zunächst der Journalist Mehdi Hassan General M. Flynn in einem längeren Interview 2015. Dann wurde ein Audio von einem Treffen des damaligen Außenministers Kerry mit syrischen Oppositionskräften geleakt, über das auch die NYT teilweise berichtete (Es ist also echt.). Auf diesem Treffen bestätigte Kerry indirekt das von General Flynn Gesagte (Ab Min 26:00). Denn er sprach darüber, warum Russland in den Krieg in Syrien eintrat (Darüber berichtete die NYT nicht.): Der IS wurde stärker, bedrohte das Assad-Regime. Russland wollte keine IS-geführte Regierung in Damaskus (in Arabisch: DAESH).

Tatsächlich hat der russische Kriegseintritt den „Regimechange“ in Syrien verhindert, von dem Kerry glaubte, den werde man durch die USA schon irgendwie unter Kontrolle bringen. Das alles lauert im Hintergrund der heutigen erbitterten Debatten um syrische Chemiewaffeneinsätze und russische Schuld. Nichts davon ist auch nur in irgendeiner Weise einer breiten Öffentlichkeit im Westen bekannt. Denn wäre dem so, dann wäre schon seit vielen Jahren größtes öffentliches Entsetzen in der westlichen Hemisphäre laut geworden, dass sich westliche Politik aus Kalkül mit Terroristen und Extremisten ins Bett legt, die mit westlichen Werten nichts gemein haben.

Dass mit allen Mitteln eine regime change-Operation (Assad muss weg) betrieben wurde, in deren Ergebnis etwa die Hälfte der syrischen Bevölkerung vertrieben, das Land zerstört wurde, Chemiewaffen zum Einsatz kamen und syrische Opfer des Erdbebens wegen westlicher Sanktionen nicht ausreichend Hilfe erhielten.Aber heute fragt niemand mehr nach, so wie einst 1996:

War es das alles wert?

Denn die Madeleine Albrights dieser Welt, die immer auf der Suche nach neuen Hassobjekten sind, haben sich multipliziert wie die Karnickel. Die greifen nach jeder Region. Aktuell ist Europa dran. Morgen Asien. In einer Zeit, in der ganze Gemeinschaften sich in Sekten verwandeln, mit gläubigen Jüngern von Phrasen und Gefühlsduseleien, längst blind geworden für Fakten, harte Interessen und historische Zusammenhänge, die buchstäblich jede Lüge dankbar aus der Hand fressen, wenn sie nur ins eigene Glaubensschema passt, ist wenig Hoffnung auf ein gutes Ende.

Es sei denn, es regte sich Neugier, Widerspruch und ein unerbittlicher öffentlicher Wille, all diese modernen Inkarnationen einer Madame Albright überleben zu wollen. Es ist schon 100 Sekunden vor Zwölf. Darüber sollten speziell auch die im Juni 2018 von den OPCW-Experten konsultierten deutschen Chemiewaffenexperten anfangen nachzudenken. Sie schulden nicht nur Deutschland die Wahrheit. Sie schulden sie der Welt.

PS: Bei der Gelegenheit könnten sie gleich noch ihre wissenschaftliche Meinung zu den Fällen Skripal und Nawalny sagen, denn wenn ich schreibe, dass diese Fälle alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirkung von Nervengiften auf den Kopf stellen, dann kann immer noch ein Schlaumeier kommen und behaupten, ich hätte null Ahnung. Aber auch da zieht man es vor, alles zu ignorieren. Denn die wissenschaftlichen Fakten sind auch in dem Fall auf meiner Seite.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.