Wird die Nato durch Kampfjet-Lieferungen zur Kriegspartei? – Die sogenannte Kampfjet-Koalition möchte Kiew Kampfflugzeuge liefern. Unser Autor befürchtet bei der Beteiligung Deutschlands eine Eskalation des Konflikts.
Auf dem G7-Gipfel in Japan Mitte Mai verlautbARTE der US-Präsident Joe Biden, die USA würden fortan die Ausbildung ukrainischer Piloten an der F-16, einem Kampfflugzeug US-amerikanischer Produktion der 4. Generation, zustimmen. Ob die USA auch selbst entsprechende Waffensysteme liefern werden, scheint intern noch nicht abschließend geklärt. Jedenfalls wollen die USA ihren Verbündeten hinsichtlich entsprechender Lieferungen keine Steine in den Weg legen.
Seit Wochen wurde die Debatte im Westen hinsichtlich der „Notwendigkeit“ der Lieferung von Kampfflugzeugen eskaliert. Man darf sich in Erinnerung rufen: Es hat nach der Zustimmung des Bundeskanzlers Olaf Scholz im Januar dieses Jahres keine 24 Stunden gedauert, da legte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit der Forderung nach Kampfflugzeugen nach.
Vor wenigen Wochen entstand schließlich eine sogenannte Kampfjet-Koalition einiger europäischer Nato-Staaten, darunter die Niederlande und Großbritannien. Derzeit wird nach bekanntem Muster seitens der Koalitionspartner und Teilen der Opposition Druck auf Bundeskanzler Scholz ausgeübt, dieser Kampfjet-Koalition beizutreten. Deutschland dürfe bei der Kampfjet-Koalition nicht außen vor bleiben, so der Tenor. Zwar verfügt Deutschland nicht, wie übrigens auch die F-16-Befürworter Großbritannien und Frankreich nicht, über die F-16, könnte aber durch flankierende Maßnahmen wie der Beschaffung der Bewaffnung von Luft-Luft-Raketen oder Luft-Boden-Raketen etc. mitwirken.
Nun scheint Selenskyj seinem Ziel tatsächlich ein Stück näher gekommen zu sein. Eine solche Entscheidung wirft eine Vielzahl von Fragen auf – auch hinsichtlich der rechtlichen Bewertung, ab wann nämlich der Rubikon zur Kriegsbeteiligung der Nato oder einzelner Nato-Staaten überschritten ist? Die ukrainischen Piloten benötigen zur Bedienung nicht nur des technisch anspruchsvollen Kampfflugzeugs, sondern auch der Waffen eine umfängliche Ausbildung durch westliche Ausbilder.
Wer eine MiG-29 fliegen kann, kann nicht automatisch eine F-16 fliegen und umgekehrt. Wie lange eine solche Ausbildung dauert, dazu gibt es unterschiedliche Aussagen. Allen Aussagen gemein ist, es benötige mindestens Monate. Und weiter: Wo sollen die Maschinen starten und landen? In der Ukraine oder auf dem Territorium eines Nato-Mitgliedsstaates? Dasselbe gilt für die Wartung der Maschinen – wird die Wartung von Technikern aus der Ukraine oder von Technikern aus Nato-Staaten gewährleistet und wo, in der Ukraine oder auf Nato-Territorium?
Auf welche Weise erhalten die ukrainischen Piloten die Zielkoordinaten für ihren Waffeneinsatz – von ukrainischen Quellen oder durch Drittstaaten, beispielsweise US-Drohnenaufklärungs- oder Nato-AWACS-Aufklärungs- und Feuerleitdaten? Hierzu ist es interessant, auf das zwischenzeitlich doch sehr bekannt gewordene Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“ von Mai 2022 zu verweisen.
Rechtliche Graubereiche
In dem Gutachten wird zunächst unterschieden zwischen dem Fall der Nicht-Kriegsführung und der tatsächlichen Beteiligung am Krieg. Im ersteren Fall unterstützt ein Staat oder eine Staatengruppe „lediglich“ die Verteidigungsfähigkeiten eines angegriffenen bzw. sich im Kriegszustand befindenden Staates durch Waffen- und Rüstungslieferungen, verlässt damit zwar die Ebene der Neutralität, behält jedoch den Status der am „Konflikt unbeteiligten Rolle“. Die Menge der Waffenlieferungen und die Qualität der Waffensysteme – ob eher defensiven oder offensiven Charakters – sei unerheblich für die rechtliche Bewertung. Die Schweiz, Südafrika und Brasilien beispielsweise behalten sich den Status der Neutralität vor, in dem sie Waffenlieferungen an die Ukraine dezidiert ablehnen.
Im zweiten Fall, der tatsächlichen Beteiligung am Kriege, leistet ein Drittstaat oder eine Staatengruppe Nothilfe oder verpflichtet sich sogar zur umfassenderen ad hoc kollektiven Selbstverteidigung. Das heißt nicht nur Waffenlieferungen, sondern auch das Ergreifen darüber hinausgehender Maßnahmen, die für eine Kriegspartei typisch sind. Das Eingreifen von Streitkräften von Drittstaaten wäre ganz unzweifelhaft ein Übertreten der roten Linie hin zur tatsächlichen Kriegspartei – unerheblich ob als Nothilfe deklariert oder im Sinne einer ad hoc kollektiven Selbstverteidigung.
Doch wie so häufig ist das Leben nicht nur schwarz und weiß. Dazwischen gibt es eine Reihe von Graustufen. So verweisen diverse Kanäle sozialer Medien ukrainischer als auch russischer Herkunft auf die Anwesenheit von Söldnern und „beurlaubten“ Soldaten aus Nato-Mitgliedsstaaten – insbesondere Polen und den USA –, die sich an Kämpfen beteiligen und auch bereits gefallen sind – also offiziell keine Angehörigen regulärer Streitkräfte sind.
Auch hinsichtlich der Nutzung von Flughäfen im Nato-Gebiet gebe es zwei verschiedene Szenarien: Würden F-16-Flugzeuge von dort in die Ukraine starten, um in der Ukraine für einen Einsatz zunächst nur stationiert zu werden, so wäre dies eher der rechtliche Graubereich. Würden jedoch diese Flieger vom Nato-Territorium aus zu direkten Kampfoperationen starten, so wäre die Einordnung als Kriegspartei wahrscheinlicher. Und in der Praxis können russische Aufklärungen nicht unbedingt erkennen, ob das in Polen oder dem Baltikum startende und Richtung Ukraine fliegende Kampfflugzeug quasi nur in die Ukraine überführt oder tatsächlich direkt in einen Kampfeinsatz geschickt wird. Die Bewertung wäre höchstwahrscheinlich die eines Kampfeinsatzes mit allen damit verbundenen Maßnahmen.
Eine weitere rechtliche Grauzone stellt die Bereitstellung von Aufklärungs- und Zieldaten durch die Nato-Mitgliedstaaten dar. In einem besonders spektakulären Fall gibt es die durchaus plausible Einschätzung, dass der russische Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“ nur mithilfe von Aufklärungs- und Zieldaten des Westens versenkt werden konnte. Laut ZDF-Beitrag („Moskwa dank US-Informationen versenkt?“) vom 6. Mai 2022 räumten die USA zwar ein, sie versorgten die Ukraine mit Geheimdienstinformationen, doch zugleich distanzierten sie sich, an der Versenkung der „Moskwa“ irgendwie beteiligt gewesen zu sein.
Und das aus gutem Grund, denn dies könnte als Schritt Richtung Kriegspartei bewertet werden. Auch die Ausbildung und Einweisung an den zu liefernden Waffen werden als rechtliche Grauzone zwischen dem Status als Nicht-Kriegsführungspartei und Kriegsführungspartei angesiedelt. Und genau diese Ausbildung an diversen westlichen Waffensystemen findet ja statt, auch in Deutschland.
Fazit
Alle vier genannten Beispiele (Söldner/„beurlaubte“ Soldaten, Einsatz von Kampflugzeugen, Weitergabe von Aufklärungsdaten sowie die Ausbildung an Waffensystemen) von Graustufen zeigen, dass die Gefahr einer steiler werdenden Rutschbahn in einen offenen Krieg zwischen der Nato oder zunächst einzelnen Nato-Mitgliedsstaaten und Russland immer größer wird. Die roten Linien Moskaus werden mit jeder neuen militärischen Unterstützungsmaßnahme des Westens für die Ukraine Schritt für Schritt „ausgetestet“.
Was für den Westen noch eine helle rechtliche Graustufe sein mag, könnte für Moskau bereits eine sehr dunkle Graustufe sein – es liegt immer im Auge des Betrachters. Es ist nicht der Westen, der bestimmt, wie Russland das westliche Engagement für die Ukraine rechtlich einordnet. Dass obliegt in der Natur der Sache liegend ausschließlich Moskau. Rechtliche Graustufen unterliegen letztlich einer politischen Interpretation und das sollte auch der Bundesregierung und der Opposition klar sein.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass auch die westlichen Regierungen bei allem Engagement gegenüber der Ukraine doch in allererster Linie eine Verantwortung für den Frieden und somit für das Wohlergehen ihrer eigenen Bevölkerung zukommt. Und dazu gehört ganz sicher, den Krieg nicht als „adrenalinförderndes Schachspiel“ oder als „Experiment“ zu betrachten und ihn damit zu einem großen europäischen oder gar zu einem Weltkrieg ausarten zu lassen, der in einem Armageddon enden würde. Diese Last der Verantwortung trägt auch Bundeskanzler Scholz.
Dr. Alexander S. Neu ist ehemaliges Mitglied des Verteidigungsausschusses (Obmann) und ehemaliges stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Zuvor sicherheitspolitischer Referent für die Partei Die Linke, 2000 bis 2002 und 2004 für die OSZE im ehemaligen Jugoslawien in diversen Verwendungen.
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