Atomkraftwerk Fukushima: Japan will verbrauchtes Kühlwasser in den Pazifik leiten – Japan möchte kontaminiertes Wasser ins Meer leiten – und macht sich damit keine Freunde unter den Anrainerstaaten Südkorea, China und Russland.

Die japanische Regierung und Tepco, der Energieversorger und Betreiber von Kernkraftwerken (KKW) in Japan, befinden sich in einer verzwackten Situation. In den nächsten Monaten soll damit begonnen werden, tritiumhaltiges Wasser, das bei der Kühlung des 2011 havarierten KKW Fukushima Daiichi anfällt, durch einen 800 Meter langen Untersee-Tunnel in den Pazifik zu leiten. Anrainerstaaten, Umweltverbände und die Fischereiindustrie protestieren heftig dagegen.

Das Thema stand auch beim G7-Gipfel im April in Japan auf der Tagesordnung. Zwar war der Gipfel den Themen „Klima, Energie und Umwelt“ gewidmet, der japanische Umweltminister spielte dabei aber keine wesentliche Rolle. Das METI, das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie (Ministry of Economy, Trade and Industry), war federführend. Es ist ein starker Verfechter der Atomenergie. Es hatte eifrig versucht, dass die „Einleitung des verarbeiteten Wassers“ im Abschlusskommuniqué der G7 gebilligt wird. Darin sollte festgehalten werden, dass die Verklappung weder für Menschen noch für die Umwelt schädlich sei.

Die G7 hat dem aber nicht zugestimmt. Der entsprechende Passus wurde im Paragraf 71 des Kommuniqués – insbesondere auch auf Initiative der deutschen Delegation hin – abgeschwächt. Im Kommuniqué steht auch, dass Japan hinsichtlich des Rückbaus und der Aufräumarbeiten in Fukushima gut vorankommt. In Fukushima läuft aber längst nicht alles nach Plan. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die erheblichen Schwierigkeiten Japans bei den Stilllegungs- und Rückbaumaßnahmen genauer betrachtet werden. Sie haben bereits über 84 Milliarden (!) Euro gekostet.

Aber nicht nur das: Die geplante Einleitung des aufbereiteten radioaktiven Wassers ins Meer könnte sich noch zu einem veritablen internationalen Konfliktfall entwickeln. In den havarierten Reaktoren 1–3 des AKW Daiichi befanden sich mehr als 1500 hoch radioaktive Brennstäbe. Am 28. Februar 2021 wurden die letzten sechs der 566 Brennstäbe aus dem Reaktorblock 3 entfernt. Im Reaktorblock 1 bleiben aber noch 392 und im Block 2 noch 615 Brennstäbe. In zehn Jahren wurde also nur rund ein Drittel der Brennstäbe geborgen.

Außerdem sind 900 Tonnen geschmolzener atomarer Brennstoff zu entsorgen. Allerdings fehlen wichtige Details über die genaue Menge und den Zustand der Kernschmelze im Inneren der Anlage. Solche Informationen sind aber notwendig, um die geeigneten Technologien für die Entfernung der restlichen Brennstäbe und der Trümmer zu entwickeln zu können. Und immer wieder werden neue Details bekannt. In einer Sitzung der Atomaufsichtsbehörde am 24. April 2023 berichtete Tepco, dass die geschmolzenen Brennelemente höchstwahrscheinlich Löcher im Druckbehälter des Reaktorblocks 1 verursacht haben. Zeitpläne sollen dessen ungeachtet Planungssicherheit geben und Sachverstand vermitteln.

Aufbereitetes radioaktives Wasser

Tepco und die japanische Regierung haben bereits Ende Dezember 2011 einen mittel- und langfristigen „Stilllegungsplan“ formuliert. Demnach sollen die Folgen der Havarie bis spätestens 2051 beseitigt sein. Allerdings hat die Regierung ihre Roadmap bis 2020 schon zum sechsten Mal überarbeitet. Bis zum Abschluss der Arbeiten wird es eher noch ein halbes Jahrhundert dauern. Täglich dringen mehr als 100 Kubikmeter Grundwasser in das Reaktorinnere, das so radioaktiv verseucht wird. Tepco hat deshalb eine sogenannte Eiswand gebaut, die 2017 fertiggestellt wurde und das Grundwasser am Eindringen hindern soll.

Die aufwendige Anlage, die den Boden um das Kraftwerk gefrieren lässt, konnte das Eindringen aber nicht gänzlich stoppen. Zur Lagerung des Wassers wurden 1000 massive Tanks auf dem Gelände des KKW aufgestellt. Nach einem heftigen Erdbeben in der Region im Februar 2021 mussten 53 dieser Tanks umgesetzt werden, da sie sich um bis zu 19 Zentimeter verschoben hatten. Deren Gesamtkapazität von 1,32 Millionen Kubikmeter ist bereits zu 96 Prozent ausgeschöpft.

Japan will deshalb über Jahrzehnte hinweg mehr als eine Million Tonnen aufbereitetes Wasser ins Meer leiten, obwohl es nicht vollständig von Radionukliden gereinigt werden kann und hohe Mengen Tritium enthält. Tepco wird von Umweltverbänden wie dem BUND oder Greenpeace kritisiert, weil es keine Angaben über die radioaktiven Reststoffe macht, die im Wasser verbleiben. Das Verfahren zur Dekontaminierung, ALPS (Advanced Liquid Processing System), kann nur 62 bestimmte Radionuklide behandeln. Das Ökosystem des Pazifiks würde folglich belastet, ohne dass die Konsequenzen genau bestimmt werden können.

Über die Auswirkungen herrschen allerdings ganz unterschiedliche und interessengeleitete Meinungen vor, die von entsprechenden wissenschaftlichen Studien unterfüttert werden. Sie reichen von Unbedenklichkeit bis zur langfristigen Zerstörung der Meeresressourcen. Von der IAEA wird die Einleitung des Wassers gebilligt. Sie begleitet den Prozess mit einer Taskforce. Anrainerstaaten wie Südkorea, China, Taiwan oder der Inselstaat Mikronesien kritisieren das Vorgehen dagegen.

Notlösungen und wirtschaftliche Verluste

Die Verklappung des verseuchten Wassers in den Ozean könnte zu immensen wirtschaftlichen Einbußen führen, wenn Exportbeschränkungen verhängt werden oder sich die Meerestiere aus der Region nicht mehr verkaufen lassen. Vor dem Reaktorunfall war die Fischereiwirtschaft von Fukushima von enormer wirtschaftlicher Bedeutung. Heute beträgt deren Wirtschaftskraft nur noch 14 Prozent des Niveaus von vor der Katastrophe; ganz abgesehen von dem Reputationsverlust des Industriezweigs.

Es verwundert deshalb nicht, dass sich auch der japanische Fischereiverband JF Zengyoren sehr deutlich gegen die Verklappung ausspricht. Greenpeace beziffert die Menge an radioaktiven Abfällen auf 17 Millionen Tonnen. Sie werden in großen Müllsäcken in gerodeten Gebieten und auf Feldern abgestellt. Dort sollen die Säcke bleiben, bis sie in ein Zwischenlager gebracht werden, das es noch nicht gibt. Auch ein Endlager für die hoch radioaktiven Atomabfälle aus den KKW ist nicht in Sicht. Selbst die Suche nach einem Standort dafür ist ins Stocken geraten. Derweil helfen Notlösungen.

Im Jahr 2016 gab das japanische Umweltministerium bekannt, dass Stoffe und Gegenstände mit weniger als 8000 Becquerel pro Kilogramm Cäsium nicht mehr als kontaminierter Abfall eingestuft werden und keinen Entsorgungsbeschränkungen unterliegen. Der kontaminierte Boden kann nun etwa für die Aufschüttung von Böschungen verwendet und Gegenstände können recycelt werden. Die landwirtschaftliche Produktion in Fukushima und benachbarten Regionen war nach der Havarie um fast 90 Prozent zurückgegangen. Sie hat sich mittlerweile aber wieder erholt. Der Agrarsektor konnte seine Exportmenge sogar über das Vor-Katastrophen-Niveau hinaus erhöhen. Nach wie vor bestehen aber in Dutzend Ländern außerhalb der EU weiter Einfuhrbeschränkungen für landwirtschaftliche Produkte.

Eine entsprechende Verordnung der EU wird im Juni dieses Jahres überprüft; auch deshalb will Japan vermitteln, dass sich die Lage vor Ort verbessert hat. Insgesamt wurden über 160.000 Anwohner und Anwohnerinnen aus der Region evakuiert. Mehr als 27.000 Personen können noch immer nicht in ihre Häuser zurückkehren, weil sie in Sperrgebieten liegen. Wie viele zurückkehren wollen, ist unklar. Mit dem Neubau von Straßen und Infrastruktur soll der Anreiz dazu erhöht werden.

Zugleich mehren sich die Stimmen, die sich für zusätzliche Entschädigungen an die Opfer aussprechen. Enormes menschliches Leid besteht auch weiterhin: Bei den Familien, die durch die Evakuierung der Region voneinander getrennt und provisorisch untergebracht wurden, treten bis heute psychische und physische Probleme auf. Viele Menschen aus der Region fühlen sich ausgegrenzt, sie leiden unter dem Stigma der Reaktorkatastrophe. Die umgesiedelten Kinder wurden an ihren Schulen gemobbt, als „verstrahlt“, „radioaktiv“ oder „ansteckend“ beschimpft.

Lehren aus der Katastrophe?

Tepco und die japanische Regierung werben um Vertrauen und versprechen Transparenz. Beide aber sind bei ihren Aufräumarbeiten sowohl mit nationalen wie internationalen Konflikten konfrontiert, die sie nicht ohne weiteres auflösen können. Auch gegen internationales Recht dürfte Japan verstoßen.

Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen UNCLOS (United Nations Convention on the Law of the Sea) verpflichtet die Vertragsstaaten, die Ökosysteme der Meere zu schützen und zu bewahren. Trotz PR-Kampagnen sowie bi- und multilateraler Gespräche gelingt es der Regierung bisher weder, die G7 als Unterstützer ihrer Maßnahmen zu gewinnen oder die Anrainerstaaten zu besänftigen, noch die Widerstände der Fischereiindustrie zu überwinden.

Dessen ungeachtet hält Japan an der Atomkraft fest: „Wir müssen die Kernenergie voll ausschöpfen“, gab Ministerpräsident Fumio Kishida Anfang dieses Jahres die energiepolitische Richtung vor. Im Februar 2023 hat das Kabinett sogar das Atomgesetz geändert. Atomkraft wird darin erstmalig als Staatspflicht bezeichnet. Nicht nur Leichtwasserreaktoren, auch Technologien wie die Modularen Kleinreaktoren (Small Modular Reactors, SMR) oder die Kernfusion sollen gefördert werden.

Die alten KKW können nun bis zu 70 Jahre am Netz bleiben, obgleich ganz Japan Erdbebengebiet ist. Ein erneuter Super-GAU wird ausgeschlossen. Auch nach Tschernobyl, das 1986 nicht hätte passieren dürfen, oder dem AKW in Saporischschja in der Ukraine, das nicht hätte zum Angriffsziel werden dürfen, folgt Japan dem Prinzip Hoffnung; anders lässt sich kaum erklären, warum sich Japan – bisher vergeblich – um den Segen der Staatengemeinschaft bemüht.

Lila Okamura ist Politologin und unterrichtet Umweltpolitik an der Senshu-Universität in Tokio. Achim Brunnengräber ist Politologe und forscht zur Klima-, Energie- und Atompolitik an der FU Berlin.

Über Achim Brunnengräber, Lila Okamura / Berliner Zeitung:

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