Geht Politikern etwas daneben, geraten sie unter Kritik. Oft führen Journalisten das Heer der Kritiker an. Sie finden leicht Resonanz, weil sich Fehler von Politikern unangenehm auswirken. Dabei weiß jeder Journalist aus eigener Erfahrung: Auch Journalisten geht manchmal etwas daneben, durchaus mit ähnlichen Folgen. Jüngstes Beispiel: die Berichterstattung über das Wahlverhalten der Türken in Deutschland. Sie war zum Teil falsch und irreführend.

Falsche Grundlagen

Bei der Stichwahl zum Präsidentenamt bekam Erdogan insgesamt 52,2 Prozent, darunter etwa 2,5 Prozent von Türken im Ausland. Die Türken, die im Ausland zur Stichwahl gingen, votierten zu 59,6 Prozent für Erdogan. Bei den türkischen Wählern in Deutschland fand er mit 67,2 Prozent sogar eine noch höhere Zustimmung.

In etlichen Medien hieß es nach der Wahl, zwei Drittel der wahlberechtigten Türken in Deutschland hätten für Erdogan gestimmt (hier und hier). Weil etliche Erdogan-Fans dessen Wahlsieg öffentlich bejubelten, fragten Politiker und Journalisten prompt: Wie können Menschen, die in einer freiheitlichen Demokratie aufwuchsen, einen Autokraten bejubeln? Was ist da schief gelaufen? Was muss sich ändern?

So berechtigt diese Fragen sind: Sie bauen auf einer falschen Grundlage auf. Erdogan wurde nicht von zwei Dritteln der wahlberechtigten Türken in Deutschland gewählt, sondern nur von zwei Dritteln der Wähler.

Unbeachtete Nichtwähler

Der Unterschied ist beträchtlich. Er gewinnt an Gewicht, weil die fehlerhafte und zum Teil auch noch unvollständige Berichterstattung über das Wahlverhalten der hier lebenden Türken eine Diskussion entfachte, die vielen von ihnen nicht gerecht wird.

Bei der Stichwahl für das türkische Präsidentenamt waren rund 1,5 Millionen Türken, die mit einem türkischen Pass in Deutschland leben, wahlberechtigt. Doch nur die Hälfte, nämlich 50,4 Prozent, ging zur Wahl. Es handelt sich um rund 761.000.

Nur geringfügig weniger Wahlberechtigte, nämlich rund 749.000, blieben der Stichwahl fern. Die Gründe der Nichtwähler, der Wahl fern zu bleiben, dürften vielfältig sein. Es gibt eine Menge Vermutungen, doch wenig Genaues. In der Berichterstattung fanden diese Menschen zu wenig Beachtung.

Niedrige Wahlbeteiligung

Von den 761.000, die sich an der Stichwahl beteiligten, votierten 67,2 Prozent für Erdogan. Es gaben ihm also rund 510.000 Wähler ihre Stimme. Das erscheint vielen Deutschen viel zu viel. Doch bezogen auf alle Wahlberechtigten schrumpft sein Erfolg stark – und zwar auf ein Drittel. Zwei Drittel der wahlberechtigten Türken in Deutschland stimmten nicht für ihn. Es handelt sich um einen bemerkenswert großen Teil.

Erdogans Wahlergebnis in Deutschland relativiert sich noch mehr, wenn man in Rechnung stellt, dass er im Unterschied zur türkischen Opposition während des Wahlkampfs in Deutschland die Möglichkeit und die Ressourcen hatte, große Propaganda zu betreiben. Er nutzte seine Chancen intensiv. Unter diesen Bedingungen fiel die Wahlbeteiligung mit 50,4 Prozent in Deutschland bemerkenswert niedrig aus.

Die Beteiligung an der Stichwahl erscheint sogar noch schwächer, vergleicht man sie mit jener in der Türkei. Dort lag sie bei 84,2 Prozent. In der Türkei herrscht Wahlpflicht, in Deutschland nicht. Ist die Freiheit, der Wahl fern zu bleiben, ein Grund für die hohe Zahl der Nichtwähler in Deutschland? Wäre es so, könnte sie sogar als Ausdruck der Opposition gegen Erdogan gewertet werden.

Verluste der AKP

Deutsche Politiker beklagen, der Wahlkampf in der Türkei sei unfair verlaufen. Erdogan beherrsche den Staatsapparat und die Medien und habe die Opposition massiv behindert. Dass er auch in Deutschland maßlos agitieren konnte, geht auf das Konto deutscher Politiker. Sie unterließen es, seinen Einfluss hier auf ein Normalmaß zu reduzieren. Auf diese Weise trugen sie dazu bei, die Chancen der Opposition bei der Wahl erheblich zu verschlechtern.

Es bleibt festzuhalten: In deutschen Medien wurde berichtet, Erdogan habe zwei Drittel der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland hinter sich. Tatsächlich ist es nur ein Drittel. Zwei Drittel der Wahlberechtigten versagten Erdogan die Stimme.

Im Vergleich zur Türkei-Wahl 2018 erlitt Erdogan mit seiner Partei AKP 2023 deutliche Einbußen, und zwar in Deutschland und in der Türkei. Bei der Parlamentswahl fiel die AKP in der Türkei von 40,7 Prozent auf 35,3 Prozent zurück, ein Verlust von 5,4 Prozentpunkten oder gut 13 Prozent.

Einbußen in Hochburgen

Dennoch fanden Erdogan in die AKP unter den türkischen Wählern in Deutschland mehr Zustimmung als in der Türkei. An diesem Befund, der viele Deutsche bestürzt, dürfte die hohe Zahl der Nichtwähler und der Umstand mitgewirkt haben, dass Deutschland dem Autokraten Erdogan hervorragende Bedingungen bietet, seine Anhänger optimal zu mobilisieren.

Trotz dieser günstigen Umstände ist der Zuspruch der türkischen Wähler in Deutschland zu Erdogans Partei AKP von 55,7 Prozent im Jahr 2018 auf 50,5 Prozent im Jahr 2023 gesunken, ein Verlust von 5,2 Prozentpunkten oder gut 9 Prozent.

Im Vergleich zur Parlamentswahl 2018 legte die AKP 2023 in keinem der 17 deutschen Wahlbezirke zu. In vier Bezirken schaffte sie es gerade noch, ihr Ergebnis von 2018 stabil zu halten. In 13 Bezirken verlor sie zwischen 0,9 Prozentpunkten (Münster) und 8,7 Prozentpunkten (München). Sogar in ihren Hochburgen musste sie deutlich Einbußen hinnehmen, in Essen 4,5 Punkte, in Köln 5,1, in Düsseldorf sogar 5,9.

Beträchtliche Risiken

Mit der unkorrekten Wiedergabe des Wahlresultats verbreiteten Journalisten und Politiker in der deutschen Öffentlichkeit den unzutreffenden Eindruck, die große Mehrheit der Türken in Deutschland, nämlich zwei Drittel, wäre Erdogan verfallen. Die Realität widerspricht diesem Eindruck.

Daran ändert auch nichts, dass Erdogan in der Stichwahl 2023 in Deutschland 2,4 Prozentpunkte mehr bekam als bei der Präsidentenwahl 2018. Dass sich die Mehrheit der Türken in Deutschland im Wahlergebnis 2023 wiederfindet, ist angesichts der hohen Zahl der Nichtwähler in Deutschland zumindest fraglich.

Viele Deutsche hofften, dass die Mehrheit, die sich Erdogan verweigert, größer wäre und dass noch mehr Wahlberechtigte den Mut fänden, ihm nach außen sichtbar den Rücken zu kehren. Dass viele Türken zögern, ist verständlich. Ein solcher Schritt ist mit großen Risiken verbunden, kann Repressionen sogar in Deutschland nach sich ziehen, den Besuch bei Verwandten in der Türkei zu einem gefährlichen Unternehmen machen und dort sogar zu schweren Strafen führen.

Neue Türkei-Politik

Dass nach der Türkei-Wahl in Deutschland die Zwei-Drittel-Mehrheit der Wähler für Erdogan zum Thema wurde, stieß der Grüne Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir an. Er zeigte sich über das Wahlergebnis empört. Er verlangt eine neue Türkei-Politik. Es ist bemerkenswert, dass ein grüner Politiker die rechtsextremen Türken in Deutschland thematisiert, während zur gleichen Zeit das Heizungsgesetz seines Partei- und Kabinettskollegen Habeck deutsche Wähler in Scharen der rechtsextremen AfD zutreibt.

Seit Jahren wird über eine neue Türkei-Politik geredet. Es fragt sich, warum es sie noch nicht gibt. Befürchtet die Bundesregierung, Erdogan könne seine Flüchtlingspolitik ändern, wenn er sich über Deutschland ärgere? In der Türkei leben 3,5 Millionen Syrer. Im Wahlkampf war Abschiebung ein großes Thema. Demnächst will Erdogan Putin treffen. Werden sie auch über die Flüchtlinge reden? Werden demnächst viele Syrer aus der Türkei nach Deutschland streben? Die grüne Außenministerin Baerbock hat gerade erst ausgeschlossen, Syrer nach Syrien abzuschieben.

Eine starke Minderheit unter den Türken in Deutschland vertritt rechtsextreme Ansichten. Diese Minderheit ist besorgniserregend. Sie steht nicht allein. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 stimmten 10,3 Prozent, nämlich 4,8 Millionen Deutsche, für die rechtsextreme AfD. Heute liegt sie nach der jüngsten ARD-Umfrage bei 18 Prozent. Die AFD ist so stark wie die SPD und deutlich stärker als die Grünen. In Teilen der Republik zählt die AfD sogar 28 Prozent. Läge es da nicht näher, sich zunächst an die eigene Nase zu fassen, ehe man sie über die Türken in Deutschland rümpft?

Die nächste Fehlprognose

Der Vollständigkeit und der Fairness halber sei hier erwähnt, dass viele deutsche Medien korrekt über das Ergebnis der Türkei-Wahl berichteten. Das nachlässige Agieren anderer Medien aber ähnelt jener Berichterstattung, die auch schon über den Wahlkampf vorherrschte. Viele Medien propagierten damals die Hoffnung, die türkische Opposition könnte Erdogan endlich besiegen. Der Wunsch hatte von der Wirklichkeit Besitz ergriffen.

Ähnliche Fehlprognosen wurden schon zu anderen Gelegenheiten in die Welt gesetzt. Beim Referendum über den Brexit 2016 rechneten viele Berichterstatter damit, dass es zugunsten der EU-Mitgliedschaft ausfallen würde. Als es anders kam, taten sie sich schwer zu erklären, warum sie die Lage falsch eingeschätzt hatten.

Als weiteren Fall aus dieser Pannenserie drängt sich die US-Präsidentenwahl 2016 auf. Viele deutsche Medien sagten einen Sieg der Demokratin Clinton voraus. Mit Trumps Erfolg wurde klar: Die Beobachter aus Europa hatten offensichtlich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen in den USA und die Eigenheiten des US-Wahlsystems aus dem Blick verloren. – Die jüngste Türkei-Wahl wirft die Frage auf: Welche Lehren sind aus den früheren Fehlprognosen gezogen worden?

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.