Buchbesprechung: „Gekränkte Freiheit“

Das Buch „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ist Ende 2022 im Suhrkamp-Verlag erschienen. Die beiden Soziolog*innen haben für ihre Studie über vier Jahre lang rund 1.200 Menschen aus der Querdenkerszene schriftlich befragt und rund 60 Personen direkt interviewt. Sie haben damit ihren eigenen Angaben zufolge eher die moderatere Szene erreicht, da natürlich Freiwilligkeit Voraussetzung der Befragungen war.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel und einen Schlussteil. Zentral ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit. Die Autor*innen knüpfen dabei an klassische Auseinandersetzungen zu diesem Thema an, vor allem an die Frankfurter Schule (Dialektik der Aufklärung; Adorno, Horkheimer), aber auch an Sigmund Freud und Erich Fromm. Hier soll allerdings nur die zentrale These des Buches vorgestellt werden, da sie für soziale Bewegungen insofern sehr relevant ist, da ein bestimmter moderner Protesttypus analysiert wird, der in Zukunft angesichts nicht nur gesundheitsbedingter sondern mutmaßlich vor allem klimabedingt notwendiger gesellschaftlicher Einschränkungen eine eher größere Rolle spielen wird.

Im Mittelpunkt des Buches steht das Kapitel „Libertärer Autoritarismus: Eine Bewegung der verdinglichten Freiheit“ (S. 171-206). In ihrer Studie beobachteten die Autor*innen „Menschen, die sich einst in der Friedensbewegung engagierten, die ihr Leben ökologisch bewusst gestalten und die nun gegen eine ‚Gesundheitsdiktatur‘ und ein manipulatives ‚Elitenkartell‘ auf die Straße gehen“ (171). Die Untersuchten kommen also teils aus eher alternativen Zusammenhängen, haben aber dann durch wahrgenommene Einschränkungen, die als Kränkungen des Selbst und der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten begriffen werden, einen „Drift“ bekommen und sich in Richtung Querdenkerszene entwickelt. Dies könne sich angesichts zukünftiger klimabedingter Einschränkungen verschärfen. (130 auf Autobahnen wäre für den Deutschen natürlich auch ein schwerwiegender Eingriff in seine Freiheitsrechte und ebenso eine solche Kränkung des „freien“ Selbst. Anm. MS).

Bezug genommen wird auf die Politologin Wendy Brown, die die rechtspopulistischen Wahlerfolge in den USA „als Folge einer neoliberalen Ausweitung des Privaten zulasten einer öffentliche Güter wie wirtschaftliche und soziale Sicherheit bereitstellenden Demokratie“ (172) ansieht. Allerdings identifiziere sich der libertäre Autoritarimus nicht primär mit einer Nation oder autoritären Führerperson, sondern mit dem „Ich“: „An die Stelle der übermächtigen externen Instanz tritt hier das Selbst als autonomes Subjekt. … Freiheit ist in dieser Sichtweise kein gesellschaftlich geteilter Zustand, sondern ein individueller Besitzstand“ (173).

Das Autoritäre in der libertären Haltung bestehe darin, dass es zur feindseligen Abwehr all jener komme, die für wahrgenommene Einschränkungen individueller Freiheit verantwortlich gemacht werden. „Libertär-autoritär sind sie demzufolge, weil sie sich an keine sozial verpflichtenden Normen mehr gebunden sehen, verinnerlichte Rücksichtnahmen abgestreift haben und obsessiv auf eine äußere Gefahr fokussiert sind.“ (178)

In der konkreten Analyse der Corona-Proteste stellen die Autor*innen zunächst fest, dass es sich um eine ambivalente, heterogene Bewegung handelte. Allerdings war „schon früh erkennbar, dass die Bewegung sich nicht nach rechts abgrenzte“ (254). Die AfD habe versucht, sich als einzige Opposition gegen die „Gesundheitsdiktatur“ zu profilieren. Die Bewegung habe sich mit der Zeit weiter nach rechts verschoben: „Im Frühjahr 2022 wurden die Querdenker:innen im Zuge der sogenannten ‚Montagsspaziergänge‘ von einer nach rechts offenen zu einer – zumindest in Teilen – offen rechten Bewegung, in der vielerorts Rechtsextreme eine tragende Rolle spielen.“ (255) Ebenso deutlich habe sich das Wahlverhalten der Befragten (Befragung aus 2020) nach rechts entwickelt: „Bei der Bundestagswahl 2017 hatten 15 Prozent der Teilnehmer:innen AfD gewählt, 2021 wollten dies 27 Prozent tun. 61 Prozent planten, alternativen Parteien wie ‚Die Basis‘ ihre Stimme zu geben.“ (257)

Im Schlussteil fordern die Autor*innen mehr Demokratie und Denken in Alternativen statt des Sichberufens auf Sachzwänge. Freiheit könne nur in Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeiten realisiert werden. „Die Freiheit der Zukunft braucht Solidarität“. (354) Mit dem französischen Philosophen Miguel Abensour fordern sie eine „rebellierende Demokratie“, „die den Staat herausfordert, die Demokratie dadurch erneuert und in eine wahrhafte Demokratie verwandelt“ (355). Dies sei das Gegenteil von Querdenkertum: „Eine vitale Herrschaftskritik von unten, die die Realität nicht bestreitet, sondern versucht, die Verhältnisse zu verändern.“ (355)

In dieser Kurzbesprechung konnten nur einige wenige Aspekte und die Hauptthese des Buches dargestellt werden. Insgesamt ist das Werk sehr empfehlenswert.

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022. 480 S., 28 Euro. Ein TV-Gespräch des SRF (Schweiz) mit Autorin und Autor gibt es bei 3sat: “Die neuen Konflikte der Freiheit – Immer mehr Menschen fühlen sich vom Staat gegängelt, gar entmündigt. Und zwar in Gesellschaften, die noch nie so viel Selbstbestimmung ermöglichten wie heute.” (Video 58 min). Martin Singe ist im Redaktionsteam des Friedensforum aktiv.

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