Zum “gewinnbaren Krieg der Ukraine” – oder tötet so viele Russen, wie Ihr nur könnt.

“We were told, ‘No, dig trenches and kill as many Russians as you can before it’s over.’ People thought our victory was impossible.” Reznikow, Verteidigungsminister der Ukraine. (Übersetzung: „Uns wurde gesagt: ‚Nein, grabt Schützengräben und tötet so viele Russen wie möglich, bevor es vorbei ist.‘ Die Leute dachten, unser Sieg sei unmöglich.“) Dieses Zitat findet sich in einem Artikel von Gideon Rose vom 13. Juni 2023 (“Der gewinnbare Krieg der Ukraine”) im renommierten Foreign Policy (hinter einer Bezahlschranke).

Gideon Rose ist ein amerikanischer Sicherheitsexperte, der seit Jahren beim einflussreichen Think Tank „Council on Foreign Relations“ ist. Im besagten Artikel plädiert er dafür, dass der Westen der Ukraine helfen sollte, ihr gesamtes Territorium von 1991 militärisch zurückzuerobern. Es ist ein gewinnbarer Krieg, meint er.

Dieser Artikel ist für alle hochinteressant, die verstehen wollen, wie Kriegstreiber „ticken“.

In einem ersten Teil legt Rose dar, niemand (im Westen) habe anfangs einen militärischen Sieg der Ukraine gegen Russland überhaupt für möglich gehalten. Die Pessimisten hätten gedacht, innerhalb von ein paar Tagen wäre Kiew erledigt, die Optimisten hätten an wenige Monate Widerstand geglaubt. Dazu zitiert er Veröffentlichungen. Aber dann hätte der Westen begriffen, dass das russische Militär schwach ist, und die Ukrainer fähig zu kämpfen.

Tatsächlich gab es in den ersten Kriegswochen ein Verlangen nach einem schnellen Kriegsende. Von Verhandlungen war die Rede. Auch der deutsche Bundeskanzler drang darauf. Aber das war, bevor der Westen den ukrainischen Präsidenten wissen ließ, dass ein Verhandlungsfrieden nicht auf der Agenda stünde.

Anlässlich des Besuches einer Delegation afrikanischer Staaten, die erst in die Ukraine und dann nach Russland fuhr, um Frieden zu suchen, enthüllte Putin, dass Ende März 2022 in Istanbul von der Kiewer Verhandlungsdelegation ein Abkommen über permanente Neutralität paraphiert worden sei. Im Gegenzug habe Moskau seine Panzer, die vor Kiew standen, zurückgezogen, so Putin. Als Zeichen guten Willens. Auch die Tagesschau berichtete über die Reise der afrikanischen Delegation. Aber von einem bereits paraphierten Abkommen war darin nicht die Rede. Es war nicht Russland, das damals die Verhandlungen abbrach. Das ist inzwischen klar, aber das soll nicht ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Und also schreibt auch Rose nicht darüber.

Stattdessen erinnert er an die zunächst zögerlichen Waffenlieferungen an Kiew. In dem Zusammenhang zitiert er den ukrainischen Verteidigungsminister, und man würde gerne wissen wollen, wer dem gesagt hat, sie sollten, solange sie (noch) könnten, möglichst viele Russen töten. Rose spart aus, dass die Ukraine vom Westen hochgerüstet wurde, angeblich, um Frau Merkel zu bemühen, damit sie besser vorbereitet wäre auf eine unvermeidliche russische Aggression.

Rose kümmert es nicht, ob die von ihm gewählte Eingangserzählung stimmt oder kompatibel ist mit dem Geschehen im Frühling 2022. Ihm geht es um etwas anderes: Um die Begründung, warum der Westen sich möglichst wenig Schranken auferlegen sollte bei seiner Unterstützung für den militärischen Kampf der Ukraine, die notfalls dauerhaft sein müsse. Die beste Option sei, Russland militärisch auf die anerkannten Grenzen von 1991 zurückzudrängen. Damit würde Folgendes erreicht: die Befreiung der Ukraine, eine solide Grundlage der regionalen Sicherheit. „Es würde beweisen, dass die liberale internationale Ordnung nicht nur Vergangenheit ist, sondern eine Zukunft hat. Und es würde das Gewinnermodell für die US-Führungsrolle in einem post-hegemonischen Zeitalter sein.“ (im Original: „It would liberate Ukraine. It would establish a solid foundation for regional security. It would prove the liberal international order has a future as well as a past. And it would provide a winning model for post-hegemonic U.S. global leadership.”)

Bisher überlebt

Nicht kleckern, sondern klotzen, lautet deshalb der Rat von Rose an den Westen, der sich nicht von möglichen russischen atomaren Drohgebärden einschüchtern lassen solle. Wenn die Ukraine keine Angst vor nuklearer Vergeltung hätte, die schließlich den hauptsächlichen Schaden davontragen würde, sollte auch der Westen nicht zimperlich sein. Es wäre nur ein Bluff und schließlich habe die Menschheit bisher überlebt. Zu dem Zweck zitiert er auch den ukrainischen Außenminister. Der ist sich sicher: Moskaus Waffen sind alt, wer weiß, ob die überhaupt funktionieren.

Aber auch die völlige Rückeroberung allen ukrainischen Territoriums wird, so Rose, unter Umständen den Krieg nicht beenden. Zu dem Zweck zitiert er einen ukrainischen Militär, der sagt „Russland muss noch mehr leiden, um seine Niederlage einzugestehen. Der Krieg wird nicht einmal vorbei sein, nachdem wir uns alles Territorium von 1991 zurückgeholt haben. Weil wir immer noch einen Feind zum Nachbarn haben.“

Nach dieser Logik, und Rose spinnt sie weiter, muss Russland unter Umständen durch einen neuen Eisernen Vorhang daran gehindert werden, seinen aggressiven Gelüsten nachzugeben. Solange es eben dauert, also bis Russland einsieht, dass seine imperialen Gelüste „nach Wiederherstellung der Sowjetunion“ auf Granit beißen. Bis es sich ändert und zahm geworden ist. Die Kosten werden hoch sein, aber der Schutz ist es wert. Auch die Ukraine muss sich nach Rose ändern und zu einem besseren Land werden, in dem alles funktioniert, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und wo auch der Kampf gegen Korruption gewonnen ist.

Nun weiß man besser, wie moderner Krieg funktioniert

In einem letzten Absatz wendet sich Rose den unmittelbaren Erkenntnissen aus der Kriegsführung zu. Nun weiß man besser, wie moderner Krieg funktioniert, kann die Tauglichkeit der Waffen genauer abschätzen. Rose räumt ein, dass der Krieg westliche Nachschubschwierigkeiten offenbARTE. Man sollte das als hilfreiche Warnung betrachten und die Kriegsproduktion entsprechend finanziell dauerhaft ankurbeln. Denn Rose ist sich sicher:

“Der Erfolg auf dem Schlachtfeld ist die ultimative Werbung für jedes Waffensystem, und dass die ukrainische Leistung bedeutet, dass die Nachfrage nach innovativer westlicher Artillerie, Rüstung und Luftabwehrsystemen nur steigen kann.“

Rose ist nicht der Überzeugung, dass sich die USA im Ukrainekrieg gegen den falschen Feind engagieren, wie manche in Washington glauben. Für ihn ist dieser Krieg ein Signal an China und Taiwan. Er freut sich, dass die USA nicht allein handeln, sondern eine Koalition anführen, nicht als Weltpolizist, nicht als Tyrann, sondern als „Arsenal der Demokratie“. „Und das alles“, so Rose, „effektiv und effizient, ohne eine Waffe abzufeuern oder einen einzigen Soldaten zu verlieren.“

Roses Überlegungen sind nicht die eines Außenseiters. Er schwimmt mittendrin in dem, was heute den westlichen „Mainstream” repräsentiert. Nur dass oft nicht so gnadenlos formuliert wird, der eine oder andere noch davor zurückzuckt, vom erbarmungslosen Töten von Russen zu fabulieren, anhaltende Feindschaft zu schwören oder ausdrücklich auf das Geschäft mit dem Tod zu verweisen.

Chronisches Angsthasen-Gewimmer

Es ist grausam und zynisch, wie mit diesem Krieg umgegangen wird, und mit allen jenen, die ihn bezahlen, ob nun mit Steuergeldern, mit Ängsten, mit Hunger und Frieren, mit eingeschränkten Lebensstandards oder mit schweren Traumata, lebenslangen körperlichen Einschränkungen oder gar dem Tod. Es ist widerlich, dass alle Versuche, und inzwischen gibt es mehrere, diesen Krieg zu beenden, als illusorisch oder unzeitgemäß abgetan werden. Es ist regelrecht fahrlässig, dass die Gefahr einer atomaren Eskalation heruntergeredet wird, so als handele es sich nur um chronisches Angsthasen-Gewimmer.

Am gefährlichsten aber ist die Verblendung, die zur Einteilung der Welt in ein dramatisch Böses (Russland, China) und ein dramatisch Gutes (der Westen, angeführt von den USA) führte. Sie geht mit einer absichtlichen Blindheit für Realitäten, Fakten und geschichtliche Abläufe einher, sofern diese dem Gut-Böse-Schema zuwiderlaufen. Geht es so zu Ende, wenn man spürt, dass der Abstieg vom Weltenthron nicht mehr aufzuhalten ist, den man nicht wahrhaben kann und schon gar nicht wahrhaben will? In Kriegszeiten herrscht Kriegspropaganda (auf allen Seiten). Die folgt gewissen Prinzipien. Wenn man die kennt und mit einer gesunden Portion Neugier und Skepsis ausgestattet ist, kann man sie aufspüren und immun dagegen werden. Man kann ihr aber, falls man arglos ist, auch verfallen. Denn sie ist omnipräsent.

Wenn man sich allerdings dann auch noch wie der berühmte „Schwarze Ritter“ in Monthy Pythons Spektakel “Monty Python and the Holy Grail” aufführt, nimmt es ein böses Ende. Wer spielt in unserer Zeit den „Schwarzen Ritter“?

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.