Der Internationale Thermonukleare Experimentierreaktor ITER, der im südfranzösischen Cadarache errichtet wird, belegt ein ziemlich großes Gelände. So scheint es jedenfalls von außen, wenn man mit dem Bus minutenlang an stacheldraht-bewehrten Zäunen entlangfährt. Dann stellt sich heraus, dass es sich um zwei Einrichtungen der Atomenergie handelt, deren Areale aneinander anschließen. Vor dem ITER erreicht man, von Aix-en-Provence kommend, zunächst eine Basis der französischen Kommission für Atomenergie CEA. Sie beherbergt Bürogebäude, Institute, Labors, technische Anlagen, Schuppen, teils neu, teils schon etwas heruntergekommen. Der eine oder andere lange nicht mehr benutzte Platz sieht aus, als ob dort Einiges vergraben liegt, was der Gesundheit keinesfalls zuträglich wäre. Sollten sich Kontaminationen im Wasser des nahen Flusses Durance ergeben, so können sie nicht von ITER kommen, denn dort wird ja erst gebaut, wohl aber von CEA.

Auch das ITER-Grundstück ist weit ausgedehnt und böte Platz für mindestens zwei herkömmliche Atomkraftwerke. Genutzt wird aber nur ein kleiner Teil davon, auf dem sich die dunkle quaderförmige Halle erhebt, in der sich die Fusionsmaschine mit ihrer Peripherie befindet. Rundherum sind weitere Gebäude angesiedelt, Montage- und Lagerhallen, eine gewaltige Umspannanlage für die Stromversorgung, die Kältetechnik, ein HeadquARTEr, eine Empfangshalle und typische Einrichtungen einer Großbaustelle, Unterkünfte, Fahrzeugparks, Feuerwehr, Sanitätsdienst.

Internationale Kooperation in einem gigantischen Technikprojekt

Communication Officer Sabina Griffith beginnt ihre Führung mit ein paar einleitenden Worten in der Cafeteria. Sie nennt beeindruckende Zahlen über die beteiligten Beschäftigten, das ausgehobene Erdreich und die Mengen an Stahl und Beton, die seit 2006 verbaut worden sind. Rekorde sind schon jetzt in Cadarache zu verzeichnen: die weltweit stärksten Magneten, die größte Anwendung von Supraleitungstechnik. Schnell wird klar, dass es sich um eine geschichtsträchtige Erstaufführung handelt. 35 Länder, vertreten durch sieben große Partner – EU, USA, Russland, China, Indien, Japan, Südkorea – haben sich zu einem gigantischen Technikprojekt verabredet, von dem noch nicht einmal feststeht, ob es jemals Erfolg haben wird.

Gerade darin sieht Griffith die Einmaligkeit von ITER begründet. Diese Einstellung unterscheidet sich wohltuend von dem Marktgeschrei vieler Startup-Firmen, die sich gegenseitig mit unrealistischen Erfolgsaussichten und Zeitangaben überbieten. Dass die deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger (FDP), auf dieser Welle mitschwimmt und die Fertigstellung eines ersten Fusionsreaktors in nur zehn Jahren für möglich erklärte, scheint bei ITER Unglauben und Verunsicherung hervorgerufen zu haben. Das ist ein Eindruck, kein Zitat: Mme Griffith drückte sich noch diplomatischer aus.

Für sie steht außer Frage, dass die aktuellen Anstrengungen in der Energietechnik den erneuerbaren Energien gelten müssten. Aber wie könne der steigende Weltenergiebedarf langfristig befriedigt werden, ohne den Planeten zugrunde zu richten? Dieses zentrale Zukunftsproblem rechtfertige den Großversuch in Cadarache, selbst wenn er scheitern sollte.

Realitätsschocks bereits erlebt

ITER hat seine Realitätsschocks bereits erlebt. Das Projekt, für das anfangs 5 Milliarden veranschlagt waren, wird nach heutigem Stand das Vierfache kosten. Auch der Zeitplan, 2025 mit Plasmaversuchen zu beginnen, um 2035 erstmals Fusionen zu erzeugen, dürfte sich kaum halten lassen. Während der Besichtigungstour berichtet Mme Griffith offen von zwei weiteren aktuellen Rückschlägen. Für die Innenbeschichtung des Tokamaks, des ringförmigen Tunnels, in dem das Fusionsplasma erhitzt und gebündelt werden soll, war Beryllium als Neutronenspender vorgesehen. Dagegen habe die Atomaufsicht Einspruch erhoben, weil es sich um ein strategisches – militärisches? – Material handele.

Das zweite Dilemma lässt sich in Augenschein nehmen, als wir schließlich das Innere des Reaktorgebäudes betreten. Dort ist ein riesiges, tausend Tonnen schweres Vakuumschild bereits an seinem Zielort installiert. Der Tokamak wird aus neun solchen Stahlteilen gebildet werden, die jeweils von zwei riesigen Magneten eingeschlossen sind, also insgesamt 18 Magneten. Als die Montage dieses ersten Teilstücks abgeschlossen war, berichtet Mme Griffith, habe es eine Feier mit vielen glücklichen und lachenden Gesichtern gegeben. Ein großes Transparent mit der Aufschrift “We have delivered”, wir haben geliefert, zeugt immer noch von jener Euphorie.

Doch das Vakuumschild muss wieder ausgebaut werden, weil es sich nicht in der erforderlichen Qualität mit seinen NachbARTEilen verschweißen lasse. Es muss zurück in die anliegende Assemblierungshalle. Dort wird es eng, denn das nächste Teilstück, wiederum eingeschlossen von zwei Magneten, wartet schon auf seinen Einbau.

Dieser Rückschlag ist frustrierend, aber immerhin reparabel. Anders verhält es sich mit dem Verzicht auf die Berylliumschicht. Ob sich die beabsichtigte Reproduktion von Tritium in der Anlage selbst ohne den Neutronenspender realisieren lässt, ist mehr als fraglich. Will jemand ITER ein Bein stellen und wenn ja, wer war’s und warum?

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung Jungle World, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Über Detlef zum Winkel / Gastautor:

Dipl.phys. Geb. 1949. 1967-1975 Studium der Physik, Diplomarbeit am Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY); Lehrer an Hamburger Schulen; freier Autor; Arbeit in Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke und gegen die Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens. Antifa. Seit 1991 Informatiker.