Ein “triumphaler Sommer” für die NATO? – Wie sich die Amerikaner und die NATO die Lage in der Ukraine schönreden

Ein triumphaler Sommer für das Bündnis – Mit dieser Einschätzung endet ein Meinungsartikel von David Ignatius, Redakteur und Kommentator bei der Washington Post vom 18. Juli, mit dem begründet wurde, dass in Sachen Ukraine alles eigentlich sehr gut läuft. Der gesamte letzte Absatz lautet wie folgt:

„Meanwhile, for the United States and its NATO allies, these 18 months of war have been a strategic windfall, at relatively low cost (other than for the Ukrainians). The West’s most reckless antagonist has been rocked. NATO has grown much stronger with the additions of Sweden and Finland. Germany has weaned itself from dependence on Russian energy and, in many ways, rediscovered its sense of values. NATO squabbles make headlines, but overall, this has been a triumphal summer for the alliance.”

Eigene Übersetzung:

Erster Satz: „Unterdessen waren diese 18 Monate Krieg für die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten ein strategischer Glücksfall mit relativ geringen Kosten (außer für die Ukrainer).“

Zweiter Satz: “Der rücksichtsloseste Antagonist (Anm.: gemeint ist Russland) des Westens wurde erschüttert.”

Dritter Satz: “Durch das Hinzukommen von Schwedens und Finnland ist die NATO deutlich stärker geworden.”

Vierter Satz: “Deutschland hat sich von der Abhängigkeit von russischer Energie befreit und in vielerlei Hinsicht seinen Sinn für Werte wiederentdeckt.”

Fünfter Satz: “NATO-Querelen führen zwar zu Schlagzeilen, aber alles in allem war dies ein triumphaler Sommer für das Bündnis.”

Diese fünf Sätze, und dafür muss man Ignatius fast dankbar sein, repräsentieren die Quintessenz dessen, wie in Washington auf diesen Krieg in Europa geblickt wird. Jeder mag sich die passenden Begriffe aussuchen, aber Worte wie Freiheit, Menschenrechte, Demokratieverteidigung wären fehl am Platz. Zu dem Zeitpunkt, als der Artikel geschrieben wurde, waren allein im Monat Juli schon fast 17.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten an der Front gefallen. Dem Autor ist es einen Klammerzusatz wert. Wen schert schon die Ukraine?

Jimmy Dore hat diesem Aspekt des Artikels eine eigene Sendung gewidmet. Die Frage muss allerdings ausgeweitet werden. Welche Nationen würden in einem ähnlichen Fall noch geopfert?

Die Ächtung der ganzen Welt wäre dem, der zu Atomwaffen greift, gewiss

Ein Planspiel, wie die USA vergelten würden, wenn Russland beispielsweise das Baltikum angreifen und eine taktische Nuklearwaffe gegen einen Stützpunkt in Deutschland einsetzen sollte, ist schon ein paar Jahre alt. Es stammt laut Fred Kaplan aus dem Jahr 2016 und wurde im Nationalen Sicherheitsrat der Obama-Administration durchgespielt. Zunächst auf Arbeitsebene. Diese kam zum Schluss, nicht atomar, sondern nur konventionell zu vergelten, denn die Ächtung der ganzen Welt wäre dem, der zu Atomwaffen greift, gewiss. Anm.: Eine taktische Nuklearwaffe hat etwas weniger Zerstörungskapazität als die, die gegen Hiroshima eingesetzt wurde.

Dann wurde das Planspiel wiederholt, diesmal auf Leitungsebene. Im Ergebnis wurde beschlossen, zur Vergeltung Weißrussland mit taktischen Nuklearwaffen anzugreifen. So trifft man Russland nicht direkt, aber den engen Sicherheitspartner.

Man muss kein Orakel sein, um zu verstehen, was seither in einigen weißrussischen Köpfen herumspukt, was man sich im Baltikum dazu ausmalt oder auf welche Ideen man etwa in der Gegend von Ramstein kommen könnte. Wie bitte? Wir werden von den Russen überfallen, getötet und verstrahlt, und dann trifft es Belarus? Aber es kommt noch schlimmer. In einem Interview mit NPR 2022 betonte Kaplan, dass damals niemand im Nationalen Sicherheitsrat der USA bei diesem Planspiel (auf Leitungsebene) an den nächsten Schritt dachte. Was passiert danach?

Klardenkende Menschen brauchen keine Phantasie, um zu verstehen, dass die erste eingesetzte „taktische“ Nuklearwaffe unweigerlich im nuklearen Inferno endet. Das hat der US-Präsident in seiner Armageddon-Rede im Oktober 2022 auch klar ausgedrückt. (Bei gewissen abgehalfterten NATO-Generälen scheinen dagegen solche „Planspiele“ in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.)

All das Geschwätz vom möglichen Einsatz taktischer Nuklearwaffen durch Russland fußt auf alten NATO-Annahmen, dass Russland konventionell schwach wäre und daher zu solchen Waffen greifen muss, als letztes Mittel. Wenn das die NATO ehrlich glauben würde, müsste sie alles Interesse haben, dass Russland auf keinen Fall so in die Ecke gedrängt wird, dass es nuklear um sich zu schlagen beginnt. Denn dann wäre aller Frieden futsch, die Sicherheit auch und alles Leben dahin. Aber so weit reicht das kohärente NATO-Denken eben auch nicht. Angst vor russischen Atomwaffen haben nur Feiglinge, und nur der Kreml schürt die Angst.

Was, wenn Russland den Krieg gewinnen würde?

In Foreign Affairs beschwor ein westlicher Experte, Freedman, eine andere Katastrophenoption: Was, wenn Russland den Krieg gewinnen würde? Das wäre eine „geopolitische Katastrophe“ für die NATO und würde einen direkten NATO-Russland-Konflikt sehr viel wahrscheinlicher machen. Dann ist es doch schon sehr viel besser, dass Russland verliert, so Freedman. Mit dieser Überlegung beschwerte sich Ignatius nicht. Für den gehört zum „Glücksfall“, dass Russland „erschüttert“ wäre. Er glaubt unverdrossen, dass Russland dabei ist, den Krieg zu verlieren, und die ukrainische (Gegen)Offensive nur langsamer vorankomme als ursprünglich gedacht. Daher, so Ignatius, solle man nicht die Nerven verlieren. Alles ginge in die richtige Richtung.

Das versicherte auch der ukrainische Verteidigungsminister gegenüber CNN: 2024 werde die Ukraine den Krieg gewonnen haben. 2024, zum 75. Jahrestag der Gründung der NATO wird sie NATO-Mitglied sein, ihr östlichstes Schild. Weil sie nicht nur weiß, wie man die Russen besiegt, sondern dann auch besiegt haben wird.

Dass die Gegenoffensive etwas schleppend läuft, begründete der Verteidigungsminister damit, dass die Ukraine das Leben ihrer Soldaten schone. Es ist ein eigenartiges Verständnis von Soldatenschonung, wenn allein seit dem Beginn der ukrainischen (Gegen)-Offensive etwa 26.000 Soldatinnen und Soldaten getötet wurden. Das ist eine horrende Zahl (und entspricht nicht ganz der Hälfte aller Verluste der USA im Krieg gegen Vietnam). Lässt man alle bisherigen Siegesbotschaften der Ukraine Revue passieren, kämpft sie sich von Sieg zu Sieg, wenigstens im Herzen.

1.000 Tote pro Tag

Und doch hatte der ukrainische Verteidigungsminister auch in gewisser Weise Recht. Als die Ukraine ihre (Gegen)Offensive begann, lagen die Todeszahlen zeitweilig bei über 1000 pro Tag. Als sie ihre Taktik änderte, fielen die Verlustzahlen etwa um ein Viertel. Dafür aber wird sie nun auch gescholten (siehe etwa Bundeswehr).

Ignatius erzählte auch etwas über Deutschland: Wir haben uns „befreit“ von unserer Abhängigkeit von russischer Energie. Laut Baerbock ist diese Befreiung Grund für die Rezession in Europa. Schuld ist die russische Aggression. Der Anschlag auf NordStream, der bei Ignatius unerwähnt bleibt (bei Baerbock auch), markiert in diesem Verständnis nur das physische Ende unserer deutschen Selbstbefreiung. Wie schade, dass wir unseren Unterstützern bei diesem Akt der Selbstbefreiung nicht öffentlich danken können. Denn wir wissen ja nicht und sollen auch nicht erfahren, wer final tätig wurde. Die Russen waren es jedenfalls nicht.

Ignatius führt nicht so genau aus, was er meint, dass wir in „vielerlei Hinsicht“ unseren Sinn für Werte „wiederentdeckten“. Welche Werte könnten das denn sein, die in Deutschland vergessen und nun plötzlich wiederentdeckt wurden? Ich dachte bisher, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte seien das, was den Grundbestand an westlichen Werten ausmacht. So dachte das auch der Deutschlandfunk Kultur, der im November 2022 ein Feature zum „Niedergang des Westens“ machte, das sich im Schwerpunkt allerdings darauf bezog, was falsch gemacht worden sei in den letzten 30 Jahren, wobei auch Begriffe wie Demokratieexport (Regimechange) und westliche Anmaßung und Überheblichkeit fielen. Die damalige Sendung endete ganz optimistisch.

Aber vielleicht wollte Ignatius lediglich einen schön klingenden, leider etwas verschwurbelten Satz schreiben, bevor er zum ekstatischen Befund gelangte: Alles in allem ein triumphaler Sommer. Die NATO hat sich ausgedehnt und ist stärker geworden.

Ist das so?

“Erosion der Militärmacht der USA”

RAND legte im Mai 2023 eine sehr ausführliche Studie vor (ein Auftragswerk des Pentagon). Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie die „Erosion der Militärmacht der USA und ihres Einflusses umgekehrt“ werden kann. Im Kern schreiben die Autoren, dass die militärische Überlegenheit des Bündnisses unwiderruflich verloren gegangen ist. Die Natur der Kriegsführung habe sich gewandelt und die militärisch-technologische Überlegenheit der Allianz sei dahin (Anm.: Zeitenwende?). Russlands Militär sei „revitalisiert“, China der strategisch ernsthaftere Konkurrent (und aufgepasst: es gibt Dissens zwischen den USA und Taiwan, was militärische Vorstellungen angeht).

Die nach dem Ende des Kalten Krieges vorherrschende Lage, so RAND, dass die USA überall in der Welt notfalls auch mit konventioneller Kriegsführung ihre Interessen durchsetzen konnte, sei überholt. In der Sprache von RAND: „In den folgenden Jahrzehnten (Anm.: nach dem Ende des Kalten Krieges) genossen die US-Streitkräfte eine beneidenswerte Erfolgsbilanz gegen die Streitkräfte anderer Nationen.“ (Ich will an dieser Stelle nicht kommentieren, worin diese „Erfolgsbilanz“ tatsächlich besteht.)

Die USA, so RAND weiter, müssen allerdings nicht mehr auf Überlegenheit auf allen Gebieten setzen, wenn sie und ihre Alliierten in den nächsten Jahren konzertierte Anstrengungen unternehmen, unter anderem durch stärker Investitionen in die Rüstungsproduktion und auch die militärische Positionierung der NATO veränderten, darunter durch eine klare Aufstockung der militärischen Kapazitäten im Osten Europas und durch die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Vorsichtshalber schreiben die RAND-Autoren, dass sie nicht überrascht wären, sollten ihre Ansichten nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Sie warnen allerdings in dem Fall vor „unangenehmen Überraschungen“.

Nun ist RAND 2023 keineswegs der erste Think Tank, dem aufging, dass die Welt sich verändert, und dass die westliche Fähigkeit nach dem Ende des Kalten Krieges, überall auf der Welt ungehindert militärisch zu agieren, eingeschränkt ist, bzw. die technologische Überlegenheit bei bestimmten Waffensystemen verlorenging. 2020 war das bereits im Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz (damaliges Motto „Westlessness“) auf S. 14. nachzulesen.

Eine Konfliktquelle

Darüber nachgedacht haben nur die wenigsten. Was bedeutet es denn, wenn eine Macht mit eisernem Besen den Globus kehrt, ganz nach Gusto? Wer so dominant agieren kann, erzeugt berechtigte Angst, Unsicherheit und Instabilität und ist – ob man das nun will oder nicht – eine Konfliktquelle. Aber, ganz nach Newton, so etwas erzeugt auch Gegenwehr und wie man inzwischen sieht, ziemlich heftige.

Zwar machte Putin im Jahr 2018 einige neue Waffenentwicklungen in Russland öffentlich, darunter die Hyperschallwaffen, aber wir wissen ja, dass die Russen lügen. Offenbar scheinen auch westliche Geheimdienste nicht den blassesten Schimmer vom militärisch-industriellen Potential Russlands gehabt zu haben. Wie anders ist erklärlich, dass die NATO weder hören noch verstehen wollte, was Moskau an der europäischen Lage so beunruhigte, bevor sich Moskau nach dreizehn Jahren entschloss, durch völkerrechtswidrige Aggression in der Ukraine (gemeinsam mit dem Donbass) das zu erreichen, was vertraglich mit den USA, NATO und EU nicht gelang. So sind viele unangenehme Überraschungen (mir liegt es fern, die Tragödie des Krieges in der Ukraine herunterzureden oder die russische Aggression zu rechtfertigen) längst eingetreten, und außerhalb der westlichen Blase wird das auch korrekt widergespiegelt.

Es ist fatal, dass diese „unangenehmen Überraschungen“ nach wie vor in der öffentlichen aber auch politischen Wahrnehmung der internationalen Lage im Westen keine Rolle spielen, vom Lauf des Ukraine-Krieges ganz zu schweigen. Was man nicht oder nicht korrekt wahrnimmt, kann man nicht korrekt bewerten, und das führt dann auch nicht zu den richtigen politischen Schlussfolgerungen.

Nehmen wir den Ukraine-Krieg. Er wäre vermeidbar gewesen, hätten die USA, die NATO und die EU Russland ernst genommen und auf Augenhöhe über die Befriedung der tiefen Streitpunkte verhandelt. Lieber spinnt der Westen bis heute die Mär vom Krieg, der vom Himmel fiel und sich aus imperialen Gelüsten Russlands erklärt, die dem Land quasi genetisch innewohnen. Auf falschen Annahmen fußt die politische Bereitschaft des Westens, die russische Aggression zu benutzen, um einen Stellvertreterkrieg zu führen, mit dem Russland ein für alle Mal der Garaus gemacht werden soll. Ökonomisch glaubte man an ein brüchiges Land, das nur von Öl und Gas lebt. Finanziell war der Rubel schon beinahe „Schrott“. Politisch sah man nur eine aufgezwungene Despotie. Militärisch bestand die Vorstellung darin, dass die reformierte ukrainische Armee, westlich gedrillt und mit westlicher Technik ausgerüstet, einem maroden Haufen russischer Truppen gegenübersteht, ohne Kampfmoral, mit primitivem und immer mehr schwindendem Gerät (so dass am Ende nur Schaufeln in russischen Händen wären), ohne erfolgversprechende militärische Doktrin.

Kanonenfutter, Plünderer, Vergewaltiger Mörder – immer die Andern

Auch im CNN-Interview bediente der ukrainische Verteidigungsminister diese Annahme. Nicht die ukrainische, sondern die russische Seite sehe in ihren Soldaten lediglich Kanonenfutter. Und im Übrigen seien das alles nur Plünderer, Vergewaltiger und Mörder. So muss man sich nicht damit auseinandersetzen, dass dieser Krieg immer noch nicht total geführt wird. Noch kann man nach Kiew mit dem Zug reisen, noch stehen die allermeisten Regierungsgebäude (mit Ausnahme der Geheimdienstzentrale). Man kann natürlich glauben, dies wäre ein Verdienst der Patriot-Luftabwehr-Systeme oder ukrainischer Tomatendosen, die, falls im rechten Moment geworfen, Hyperschallwaffen vom Himmel holen. Aber es stimmt auch: der Krieg wird mit immer härteren Bandagen geführt. Die Anschläge auf die Häfen der Ukraine zeigen es.

Die reale Lage ist, dass die Ukraine inzwischen mit ihrer dritten (und letzten) Armee kämpft, noch einmal ausgerüstet mit einem Patchwork an westlichem Gerät, das keine westliche Armee in Friedenszeiten tolerieren würde, geschweige denn in einem echten Krieg. Jedes Teil verlangt eine andere Bedienung, jedes eine andere Wartung usw., von den ukrainischen Soldaten ganz zu schweigen, die zwar in der gleichen Uniform stecken, aber weder uniform noch ausreichend lange trainiert wurden. Der Ukraine gehen die kriegserfahrenen, motivierten Kräfte aus, war im ukrainischen Fernsehen zu hören.

Hinzu kommt, dass keine Waffengleichheit besteht. Die russische Seite ist überlegen. Das war schon in den geleakten Pentagon-Papieren in der Washington Post im April nachzulesen. Mittlerweile schwinden auch die Bestände an westlichen Waffen, die weiter geliefert werden könnten, die westliche Produktion kommt auch nicht nach, und die eine „Wunderwaffe“ existiert nicht. Was als Krieg daherkommt, ist das abschließende Verheizen der ukrainischen Armee und die absehbare militärische Demütigung der NATO, die ihr den Rücken stärkt. Kein Wunder, dass die Bundeswehr nun mal schon vorsichtshalber mit dem Finger auf die Ukraine zeigte: Hätten die Ukrainer nur auf westliche Empfehlungen zur Kriegsführung gehört, dann wäre alles ganz anders, meint ein interner Bericht der Bundeswehr, den irgendjemand absichtsvoll BILD zuschob. ZDF berichtete.

Was soll das? Erst wird die ukrainische Gegenoffensive über Monate gehypt, die Ukrainer förmlich reingetrieben (ich erinnere mich, dass der Generalstabschef der ukrainischen Armee höchst skeptisch diesem Schritt gegenüberstand), und dann, wenn es nicht so läuft, wie sich das der Westen dachte, liegt es an den Ukrainern, die angeblich nichts richtig machen und unter anderem Kampferfahrungen höher bewerteten als westliches Training? Da halte ich es lieber mit dem Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa. Der hat wenigstens einmal öffentlich zugegeben, dass sich die NATO (einschließlich Bundeswehr) diese Art von Kriegsführung gar nicht vorstellen konnte, die heute auf ca. 1000 km Frontlänge abläuft.

Wenn das volle Debakel sichtbar werden wird, was dann?

Werden es die USA dann so machen wie in Afghanistan – sich absetzen, die vielen menschlichen Opfer abbuchen und nie wieder ein Wort über diesen Krieg verlieren? Für Europa wäre das kein Trost, denn unser Kontinent ist längst teilweise zerstört. (Wenn es nach Donald Trump ginge, müssten die europäischen Alliierten auch noch bezahlen, was die USA der Ukraine an Waffen geliefert haben.) Aktuell üben sich der US-Präsident und sein Außenminister, aber auch die Chefs von CIA und MI 6 in Realitätsverweigerung. Sie erklärten Russland für längst besiegt, in der Hoffnung, dass das auch die Russen wissen (offenbar noch nicht). So kommt man vielleicht noch einige Monate über die Runden und dann? Die NATO hat so viel in diesen Krieg investiert.

Werden sie versucht sein, den Empfehlungen der erwähnten RAND-Studie zu folgen: Anpassung der militärischen Ausrüstung der NATO an die Kriegsführung des 21. Jahrhundert durch massiv gesteigerte Rüstungsbudgets und eine ganz drastisch veränderte permanente Positionierung der NATO an den Grenzen zu Russland? Dann ist man zwar im Dauerkonflikt. Dann ist auch noch das letzte NATO-Versprechen im Rahmen der NATO-Russland-Akte von 1997 gebrochen, aber das kann man propagandistisch zumindest als Reaktion auf die russische Aggression verkaufen, und in der Rüstungsindustrie klingelt die Kasse weiter.

Man könnte selbstverständlich auch zur Schlussfolgerung kommen, dass ewige Feindschaft kein erstrebenswerter oder gar vernünftiger Zustand sein kann. Dass dadurch die Sicherheit aller noch fragiler wird und wertvolle Zeit, Ressourcen und politisches Kapital verschleudert werden, die es für den globalen Kampf gegen die anderen Überlebensrisiken braucht. Aber dazu müsste man sich aus der Propagandafalle befreien, in die man sich selbst gesperrt hat. Gemeint ist die Philosophie, dass Abschreckung, Vergeltung und die militärische Entscheidung auf dem Schlachtfeld die Dinge zum Besseren wenden werden. Man kann nicht einerseits Russland zum ewigen Paria und Hauptgegner des Westens erklären und andererseits erwarten, dass sich Russland vom Schlachtfeld zurückzieht.

Aggression lohnt sich nie

Was es nicht politisch bekommt, ertrotzt es sich militärisch. Das war die russische Nachricht beim Kriegsbeginn. Die Nachricht des Kriegsverlaufs lautet: Wir entmilitarisieren die Ukraine (und faktisch peu-à-peu auch die NATO) so lange, wie Ihr nicht mit uns redet, diesmal auf Augenhöhe. Die NATO entgegnete bisher, dass sich Aggression nicht lohnen dürfe. Sie setzt weiter auf militärischen Sieg und das Ausbluten Russlands und lässt die Ukrainer für sich sterben. Aggression lohnt sich nie, wenn man sich die Folgen bisheriger Aggressionen seitens der NATO bzw. einer „Koalition der Willigen“ anschaut. Aggressionen machen nichts besser, weder in den überfallenen Ländern noch im überfallenden Land. Aber das hat bisher niemanden vom Völkerrechtsbruch abgehalten, und bisher hat es auch noch nirgends zur dauerhaften politischen Stigmatisierung geführt. Sonst säßen einige westliche Länder, allen voran die USA, schon längst am Katzentisch der Menschheit (immerhin okkupieren die USA aktuell ein Drittel Syriens). Deshalb ist auch Russland nicht international isoliert, und es liegt auch nicht am Boden, wie die NATO hofft.

Eine dauerhafte politische Verständigung, verbunden mit der Demilitarisierung der internationalen Beziehungen, bedeutet keine Billigung militärischer Aggression, wohl aber die Anerkennung, dass man Folgen einer Aggression nicht mehr ungeschehen machen kann. Dabei meine ich nicht zuallererst Territorium, ich meine die verlorenen Leben. Aber eine solche Verständigung würde künftige Aggressionen unmöglich machen, stabilen Frieden und die verlässliche Sicherheit bringen, die sich die allermeisten Menschen auf der Welt wünschen.

Da das die NATO nicht versucht, kann man sich nicht des Verdachts erwehren (und die RAND-Studie deutet in diese Richtung), dass es am Ende nur darum geht, weiter zu schalten und zu walten, wie es den USA gerade gefällt: heute Russland, morgen der Iran und übermorgen vielleicht China? Jedenfalls hat es sich weder in Washington noch in Brüssel oder in Berlin herumgesprochen, dass niemand mehr alleine, weder als Staat oder Staatengruppe, noch als Militärbündnis Sicherheit und Frieden global herstellen kann. Nicht in Zeiten des Klimawandels. Nicht in Zeiten dramatisch großer Fluchtbewegungen. Nicht in Zeiten neu aufstrebender Mächte. Nicht bei der neuen militärischen Lage, die zuletzt RAND beschrieb.

Die notwendige Verständigung wäre allerdings ein kompletter Bruch mit der Vergangenheit.

Eine solche Verständigung gab es weder nach dem Zweiten Weltkrieg noch nach dem Ende des Kalten Krieges. Aber es hat Ansätze dafür gegeben. So wurde die Kuba-Krise beigelegt. So wurden wichtige Abrüstungsschritte auf den Weg gebracht. So entstanden die Verabredungen in der Charta von Helsinki 1975 und die Beschlüsse von Paris 1990. Nur damals hatte der Westen auch noch Vertrauen in seine Anziehungskraft.

Heute, eine Reihe von Kriegen in Europa später, ist es sehr viel komplizierter als im Kalten Krieg. Der Ballast der letzten 30 Jahre, der Ballast aller inzwischen geführten Kriege auf der Welt, der Ballast des Krieges und seiner Folgen in und für die Ukraine und darüber hinaus, ist enorm. Zudem steht die EU wirtschaftlich sehr viel schwächer da als vorher. Die Deindustrialisierung Deutschlands hat eingesetzt, und die Unterordnung der EU im transatlantischen Verhältnis macht auch nichts einfacher. Die Rüstungsindustrie müsste transformiert und drastisch geschrumpft werden. Das sehen deren Aktionäre gewiss höchst ungern.

Zudem ist das allermeiste Vertrauen aufgebraucht, auf allen Seiten, und die Wunden sind tief. Auch „Westlessness“ gehört dazu. Es gibt regelrecht eine Paranoia, dass der Westen von allen Seiten angegriffen werde. Das ist das Gegenstück zu Regime change. Wer glaubt, Demokratie exportieren zu können, hält nichts für stabil, auch nicht die eigenen (demokratischen) Verhältnisse. Wer überall äußere Feinde sieht, sieht über kurz oder lang auch überall innere Feinde.

Sehnsucht nach Frieden und Freiheit ist unbesiegbar

Und dennoch, es gibt es keine andere Alternative zur ewigen Feindschaft als die Bereitschaft, wieder ernsthaft miteinander zu reden und zu verhandeln. So wie es keine vernünftige Alternative dazu gibt, dass sich die westlichen Demokratien von allen autokratischen Versuchungen befreien, die derzeit als notwendig zur Verteidigung der westlichen Demokratie ins Feld geführt werden.

Wer die Demokratie retten will, muss auf Friedenskurs gehen. Allein die menschliche Sehnsucht nach Frieden und Freiheit ist unbesiegbar. Es ist schon fast egal, in welcher Reihenfolge man es buchstabiert: Freiheit in Frieden, Frieden in Freiheit? Was ist Frieden ohne Freiheit, was Freiheit ohne Frieden?

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.