2020 ging das Geflüchtetenlager in Flammen auf. Als Brandstifter wurden sechs junge Afghanen verurteilt. Ein Rechercheteam zeigt jetzt: Es gibt noch einige offene Fragen
Legte man in den Tagen nach dem Feuer von Moria im September 2020 seine Hand auf den verbrannten Boden von Moria, hob sich eine weiße Ascheschicht in die Luft, leicht wie Puderzucker. Der Boden war noch warm. Holzbalken ragten schwarz verkohlt wie Zeigefinger in die Luft, die Zelte ringsum, in sich zusammengefallen, erinnerten an verbrannten Kaugummi. Bis auf das Knacken der Glut in den versenkten Olivenbaumstümpfen hörte man nur mehr den Wind auf dem Gelände, auf dem zuvor noch etwa 12.000 bis 13.000 Menschen in dicht gedrängten Zelten gelebt hatten.
Was war in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 auf der Insel Lesbos passiert, wie konnte das gesamte Lager einfach so niederbrennen?
Nur eine Woche nach dem Brand, am 16.09.2020, sagte der griechische Migrationsminister gegenüber CNN, sechs junge Afghanen hätten das Feuer gelegt und seien bereits festgenommen worden. Die Feuerwehr hatte zu diesem Zeitpunkt ihre Untersuchung des Brandes noch nicht abgeschlossen. Laut Prozessbeobachter:innen verstieß der Minister mit seinen Aussagen gegen die Unschuldsvermutung. Nach der Brandkatastrophe, über die Medien weltweit berichteten, wollte der Minister womöglich suggerieren: Wir haben alles unter Kontrolle.
Die Anklage beruhte auf den Aussagen eines Kronzeugen, der zur Verhandlung gar nicht erschien
Der Vorwurf gegen die jungen Männer lautete: Sie sollen das Feuer gelegt haben, um ihre Verlegung auf das griechische Festland zu bewirken. Kurz vor dem Brand waren im Lager Proteste gegen die restriktiven Corona-Bestimmungen ausgebrochen.
Ein Jugendgericht verurteilte im März 2021 zwei der sechs Angeklagten zu fünf Jahren Haft, die später im Berufungsverfahren auf vier Jahre reduziert wurden. Laut ihren Anwält:innen wurde einer der jungen Männer vergangenes Jahr aus der Haft entlassen, der andere befinde sich derzeit in „administrativer Untersuchungshaft“, solange die Neuaufnahme seines Asylverfahrens geprüft werde.
Die vier anderen verurteilte ein reguläres Gericht im Juni 2021 zu zehn Jahren Haft. Drei von ihnen wurden von den griechischen Behörden als volljährig angesehen, obwohl sie afghanische Ausweise vorwiesen, laut denen sie zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Tat minderjährig gewesen sein sollen. Diese seien aber nicht als Originale anerkannt worden, sagen ihre Anwält:innen.
Prozessbeobachter:innen kritisierten das Verfahren damals: Die Verhandlungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weder Journalist:innen noch unabhängige Beobachter:innen hatten Zugang zum Gerichtssaal. Begründet wurde das mit Corona-Sicherheitsmaßnahmen. Laut den Anwält:innen der Angeklagten wurde außerdem keine Übersetzung der Anklageschrift bereit gestellt. Und: Die Anklage beruhte zu großen Teilen auf den Aussagen eines Kronzeugen, der zur Verhandlung gar nicht erschienen war. Dabei war er die einzige Person, die in einem schriftlichen Statement bei der Polizei erklärt hatte, die angeblichen Brandstifter gesehen zu haben. Die Anwält:innen wandten außerdem ein, dass der Zeuge die Angeklagten möglicherweise deshalb fälschlich beschuldige, weil diese zu einer rivalisierenden afghanischen Volksgruppe gehören würden. Das Gericht überzeugte diese Argumentation nicht, es stützte sich laut den Anwält:innen der Angeklagten in seinem Urteil dennoch auf die schriftliche Zeugenaussage.
Zwei Jahre später, am 6. März 2023, legte die Forschungsgruppe Forensic Architecture mit ihrem Berliner Büro Forensis ein 24-minütiges Video als Gegenuntersuchung vor, in dem die laut Forensic Architecture „schwachen und widersprüchlichen Beweise“ beleuchtet wurden, die zum Urteil der ersten Instanz geführt hatten. Die Rechercheagentur wurde 2010 von dem israelischen Architekten Eyal Weizman am Goldsmiths, an der University of London, gegründet. Finanziert wird sie durch Zuschüsse, Einnahmen aus Aufträgen und Ausstellungen ihrer Arbeit. Ihr Ziel: mithilfe von 3-D-Modellen und Computeranimationen Tatorte zugänglich machen, mutmaßliche staatliche Desinformationen aufdecken und Menschenrechtsverletzungen, auch durch Unternehmen, dokumentieren.
Das Ergebnis der Gegenuntersuchung: So, wie es der Kronzeuge darstellte, könne es nicht gewesen sein
Beauftragt wurde das Rechercheteam von den Anwält:innen der Angeklagten. Es sollte die Ausbreitung des Feuers in jener Nacht kartieren. Nach einer monatelangen Untersuchung erstellte das Team eine Zeitachse, um nachvollziehen zu können, wo die Brände am 8. September 2020 begannen und wie sie sich im Lager verbreiteten. Die Rechercheur:innen stützen sich dabei auf Hunderte von Videos und Fotos, die in jener Nacht von Lagerbewohner:innen aufgenommen wurden, und werteten Zeug:innenaussagen und Gerichtsakten aus. Durch die Überprüfung der Metadaten des gesammelten Materials konnte das Team die Dokumente in die richtige chronologische Reihenfolge bringen und sie dann geografisch verorten, um ein 3-D-Modell des Lagers zu erstellen.
Die Schlussfolgerung: Auch wenn die Rechercheur:innen sich nicht festlegen, wie das Feuer ausgebrochen ist, sind sie der Meinung, dass es nicht so abgelaufen sein kann, wie es der Kronzeuge in seiner Aussage darstellte.
Der Zeuge gab zum Beispiel an, die ersten Flammen in Zone 9 gesehen zu haben. Die lag im südlichen Bereich des Lagers, neben Zone 12. Wenige Minuten später habe er fünf der Angeklagten gesehen, die auch die Zone 12 in Brand gesteckt hätten. Dabei brannte Zone 9 an diesem Abend – wie aus Satellitenbildern ersichtlich ist – nicht ab. Auch sei unklar, so das Rechercheteam, warum der Zeuge von seinem Standpunkt aus nicht sah, dass das Feuer in der Mitte des Lagers begonnen hatte, nicht im südlichen Bereich.
Die Untersuchung bestätigt damit den Bericht der Feuerwehr aus den ersten Tagen nach dem Brand. Der besagte, dass das Feuer im südlichen Bereich durch vom Wind transportierte Flammen ausgebrochen sei.
Neben den zusammengetragenen Daten geht die Recherchegruppe in ihrem Bericht auch auf die Vorgeschichte des Großbrandes ein. Das Feuer, das in dieser Nacht ausbrach, soll demnach das 247. seit der Errichtung des Lagers 2013 gewesen sein. Allein in den neun Monaten zuvor soll es zu über 100 Feuern gekommen sein.
Die Gründe dafür: Die Zahl der Asylsuchenden im Lager stieg zeitweise auf 20.000 Menschen an. Auf einem Gelände, das für 2.840 Menschen angelegt war. Durch die fehlende Stromversorgung saßen viele Bewohner:innen nachts an Feuerstellen, da sie die einzigen Wärmequellen auf dem Gelände waren. Sie kochten Milchpulver für Babys über den Feuern auf oder erhitzten Steine, um sie in kalten Nächten unter die Decken im Zelt zu legen. Immer wieder sprangen Funken über. Auch durch die wenigen chaotisch verlegten Stromkabel im Kernlager kam es regelmäßig zu Kurzschlüssen. Im Sommer erhöhte der trockene Boden und die Hitze die Brandgefahr. Sicherheitsvorkehrungen wurden nicht getroffen.
Im März 2020 kam ein sechsjähriges Mädchen bei einem Feuer ums Leben. Die griechischen Behörden gingen von einem Unfall aus. Im September 2019 starb eine afghanische Frau mit ihrem Kind bei einem Brand in ihrem Container, ausgelöst durch eine defekte Glühbirne.
„Das unmenschliche Management des Lagers brauchte schnell einen Sündenbock für eine Katastrophe, die vorprogrammiert war“
Für Dimitra Andritsou, die hauptverantwortliche Forscherin von Forensis, ein klares Zeichen dafür, dass das Feuer mit Ansage kam. Ausgelöst durch die strukturelle Vernachlässigung der Menschen, die noch verschärft wurde durch die Corona-Pandemie in den Monaten zuvor. Im Nachhinein wollte man dann ihr zufolge schnelle Signale setzen: „Das unmenschliche Management des Lagers brauchte schnell einen Sündenbock für eine Katastrophe, die vorprogrammiert war“, glaubt Andritsou.
Die Recherchen von Forensic Architecture wurden nicht zufällig im März 2023 veröffentlicht: Zu diesem Zeitpunkt sollte eigentlich das Berufungsverfahren von vier der sechs verurteilten Afghanen beginnen. Ziel des Berichts war es, zum Gegenstand der Gerichtsverhandlung zu werden. „Wir versuchen immer sicherzustellen, dass der Staat, die Polizei und in diesem Fall auch die Justiz kein Monopol auf die Beweise und die Beweisführung haben – und auch darauf, wie sie an die Öffentlichkeit gelangen“, sagt Andritsou.
Das griechische Migrationsministerium meldete sich auf mehrfache Anfrage von fluter.de wegen einer Stellungnahme zum Bericht von Forensic Architecture und Forensis nicht zurück. In anderen Medienberichten zu dem Thema gab es an, dass nicht das Ministerium, sondern die Justiz für diese Fälle zuständig sei. Eine Anfrage beim zuständigen Gericht blieb unbeantwortet, was nicht ungewöhnlich ist: Gerichte in Griechenland äußern sich erfahrungsgemäß nicht zu laufenden Verfahren.
Die Asylsuchenden auf Lesbos leben heute in einem zunächst temporär angelegten Lager, das mittlerweile zu einem sogenannten „Closed-Controlled-Access-Center“ (CCAC) umgebaut wurde. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kritisierte erst kürzlich die „eingeschränkte Bewegungsfreiheit“ der Menschen und bezeichnete die neuen CCAC-Lager als „gefängnisähnliche Einrichtungen“.
Das Berufungsverfahren wiederum wurde vertagt. Der Grund: Zeitmangel und ein Generalstreik. Der nächste Gerichtstermin ist für den 4. März 2024 angesetzt – also ein Jahr später als geplant. Bis dahin bleiben die vier Verurteilten wohl in Haft.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE / Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitungen 4.0 International veröffentlicht. Autor/-in: Franziska Grillmeier für fluter.de/bpb.de
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