Warum ich ausgerechnet hier an einen Witz aus DDR-Zeiten denken musste – Unser Autor hat sich San Francisco einmal genauer angesehen und festgestellt: Die lange Wartezeit bei der Passbehörde ist hier das kleinere Übel.
Der bekannte Song „Are you going to San Francisco“ von John Phillips von The Mamas & The Papas aus den Sechzigern, bekannt in der Version von Scott McKenzie, besagt, dass man unbedingt Blumen im Haar haben sollte, wenn man nach San Francisco kommt, wo man einige „sanfte Menschen“ treffen würde. Wir hatten keine Blumen im Haar und die einzigen, die wir zu den frühen Stunden in den Straßen Downtown San Francisco antrafen, waren gebrochene Menschen, Drogenabhängige und Obdachlose, und das in großer Stückzahl. Überall roch es nach Urin, Kot und Erbrochenem.
Die Bürgersteige ganzer Straßenzüge waren mit Zelten vollgestellt. Im letzten Jahr soll es sogar eine richtige Zeltstadt vor dem Rathaus gegeben haben, wie ich später erfuhr.
Menschen leben in Zelten
Dass ich ausgerechnet in San Francisco an einen Witz aus DDR-Zeiten denken würde, der mir sogleich im Hals stecken blieb, hätte ich mir nie träumen lassen. In dem Witz kommt Erich Honecker zurück von einem Staatsbesuch in der Mongolei, von dem er die Erkenntnis mitbringt, dass man außerhalb der Hauptstadt auch in Zelten wohnen kann. Der Witz war auf das DDR-Wohnungsbauprogramm gemünzt, das ins Stocken geraten war.
Mit den Zelten waren die in der Mongolei bis heute üblichen Jurten gemeint. Die Straßen von San Francisco im Jahr 2023 sind nicht von Großfamilien mit Jurten bevölkert, sondern von Obdachlosen in Zelten. Viele haben auch nur einen Schlafsack.
Meine Frau kommt aus Kalifornien, weswegen ich im Sommer zwei Monate dort war. Die Hauptstadt Kaliforniens, Sacramento, ist eine Stunde von Grass Valley entfernt, dem Heimatort meiner Frau. Grass Valley ist eine Kleinstadt im Nordosten Kaliforniens am Fuße der Sierra Nevada mit 13.000 Einwohnern.
Braucht man einen Pass, so wie meine Frau, kann man ihn nicht in Grass Valley beantragen und auch nicht in Sacramento, sondern muss ins drei Stunden entfernte San Francisco fahren. Diese Praxis ist durchaus üblich in den USA. Manche müssen sogar in einen anderen Bundesstaat fahren, um an einen Reisepass zu gelangen.
Die Wartezeit für einen neuen Pass betrug in San Francisco bereits vor Corona 9 bis 13 Wochen. Jetzt dürfte sie eher 13 Wochen plus X betragen. Nicht nur in Berlin hapert es mit der Personalausstattung der Behörden.
Da meine Frau im Ausland lebt und wir wenige Tage später nach Berlin zurückfliegen wollten, bestand berechtigte Hoffnung, dass man dies als ausreichende Gründe akzeptieren würde, um in den Genuss eines Express-Services zu kommen. Ob man ihr auch wirklich innerhalb eines Tages einen neuen Pass ausstellen würde, das konnte ihr zuvor niemand bei der Passbehörde sagen. So machten wir uns auf den Weg nach San Francisco, um es herauszufinden.
Diebstähle und Einbrüche an der Tagesordnung
Zu früher Morgenstunde fanden wir zunächst ausschließlich Menschen, die in gewisser Weise „sanft“ waren, wie in dem bekannten Song beschrieben, allerdings eher im Sinne von abgestumpft und betäubt. Ein Grund dafür ist die Droge Fenthanyl, die nicht nur in San Francisco ein großes Problem ist, auch weil mit ihrer Beschaffung Diebstähle und Einbrüche verbunden sind.
Viele Geschäfte in San Francisco stehen deswegen heute leer, oft sind die Eingänge und Scheiben mit Holzplatten verbarrikadiert. Schilder an Fensterscheiben von Autos weisen darauf hin, dass sich ein Einbruch nicht lohne, weil sich keine Wertsachen im Wageninneren befänden.
Auch in den selbstfahrenden Autos, die immer mehr Menschen alleine, also ohne Fahrer, durch eine dystopische Kulisse befördern, dürfte kaum etwas zu holen sein, sieht man von den unzähligen Kameras auf dem Fahrzeugdach ab. Ich musste an Filme wie „Soylent Green“ und „Idiocracy“ denken. In beiden Filmen werden Straßen einer amerikanischen Großstadt von verwahrlosten Menschen bevölkert.
Die Nähe zum Silicon Valley mit Hightech-Unternehmen wie Apple, Google und Facebook hat die Preise für Mietwohnungen und Häuser in der Stadt in den vergangenen Jahren explodieren lassen. Rund 35.000 Menschen gelten in San Francisco und der Bay-Area aktuell als obdachlos.
Öffentliche Plätze fallen durch das Fehlen von Bänken auf, was Obdachlosen einen dauerhaften Aufenthalt erschweren soll. In nicht wenigen Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel, denen in aller Regel die Glasscheiben fehlen, haben sie sich mit ihren Schlafsäcken niedergelassen.
Die Wohnungskrise ist außer Kontrolle geraten, Familien mit einem Einkommen von 120.000 Dollar gelten offiziell als arm. Diese Ziffer hat das amerikanische Ministerium für Wohnungsbau festgelegt, sie ist die höchste im ganzen Land. Politiker und Hilfsvereine fordern deswegen nun sogar Bürger auf, Obdachlose bei sich aufzunehmen.
Wirtschaftlich stärkster Bundesstaat
Ein Problem, das auch in Berlin nicht ganz unbekannt ist, wenngleich nicht in diesem Ausmaß. Auch in der deutschen Hauptstadt gibt es hin und wieder Zelte von Obdachlosen. In aller Regel werden die Leute, die darin leben, von Ordnungsamt und Polizei rasch zum Abbau ihrer Unterkunft bewegt. Auch Berlin zieht viele Obdachlose aus dem Rest des Landes und aus dem Ausland an.
Ähnliches gilt auch für San Francisco, wobei hier das milde kalifornische Klima hinzukommt. Ein weiterer Unterschied ist, dass San Francisco eine nicht unbedeutende Stadt im wirtschaftlich stärksten Bundesstaat der USA ist, der immerhin 14 Prozent zum Gesamtbruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten beiträgt und darüber hinaus, wäre er ein Nationalstaat, die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt darstellt, vor Großbritannien, Frankreich und Indien.
Es war ein sonniger Tag Ende Juli, an dem wir kurz nach sieben Uhr morgens in San Francisco ankamen. Eine knappe Stunde später tauchten die ersten Menschen, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch eine Wohnung hatten, auf den Straßen von Downtown San Francisco auf, die zuvor praktisch ausschließlich von Obdachlosen und Suchtkranken bevölkert waren.
Es waren vor allem Mitarbeiter der Stadt, unter anderem der Passbehörde, zu der wir wollten, die sich auf dem Weg zur Arbeit einen Kaffee holten. In Downtown San Francisco gibt es heute nur noch wenige Cafés, und an ihren Eingängen patrouillieren in aller Regel Mitarbeiter der Firma „Urban Alchemy“, die darauf achten, dass keine Obdachlosen in das Café gelangen.
Meine Frage, ob sie von der Stadt oder von einer Privatfirma bezahlt werden, konnten die Mitarbeiter nicht recht beantworten. Unklar ist auch, ob die Mitarbeiter von „Urban Alchemy“ wirklich für Ruhe und Ordnung sorgen, nicht nur in San Francisco, sondern auch in Los Angeles und Sausalito in Kalifornien und Austin in Texas. Denn es gibt Kritik an der „gemeinnützigen Organisation“, die sich vor allem aus ehemaligen Häftlingen rekrutiert und „non profit“ sein soll.
Obwohl offiziell kein Sicherheitsdienst, zeigt eine Suche auf LinkedIn Mitarbeiter von „Urban Alchemy“, die sich selbst als solche bezeichnen. Es war kurz nach 9.30 Uhr, als meine Frau ihren Antrag auf einen neuen Pass bei der Behörde, bei der es einen regen Andrang gab, abgeben konnte. Um 15 Uhr am Nachmittag sollten wir wiederkommen.
Auch in Berlin muss man auf seinen Pass warten, wenngleich nicht so lange wie in San Francisco. Dort sind es nur sechs bis acht Wochen. Und man braucht ebenfalls zwei Termine, die oft nicht ganz einfach zu ergattern sind. Einen Termin, um den Pass zu beantragen. Den anderen, um ihn abzuholen.
Ob der Pass meiner Frau wirklich am Nachmittag fertig sein würde, konnte uns immer noch niemand garantieren. Dass man ihren Antrag entgegengenommen hatte, nahmen wir als gutes Omen. Da wir jetzt frei und nichts weiteres geplant hatten, gingen wir runter zur Market Street, der bekanntesten Straße in Downtown San Francisco, in der sich unter anderem die Twitter-Zentrale befindet.
Das Technologie-Unternehmen Uber hat die Market Street bereits verlassen. Twitter könnte dem Vorbild bald folgen. Mit Ausnahme eines lichtdurchfluteten Großraumbüros von „Urban Alchemy“ stehen die Räumlichkeiten nahezu aller großen Geschäfte, Hotels, Banken und Fast-Food-Ketten heute leer und Nachmieter sind nur schwer zu finden.
Eine Tourismus-Region
Trotzdem treibt es weiterhin Touristen hierher, vor allem wegen der Endstation der historischen Cable Cars. Auch wenn gegen Mittag einige Besucher der Stadt auf der Market Street unterwegs sind, dominieren auch jetzt Obdachlose und Suchtkranke das Straßenbild. Bei ihrem Anblick stelle ich mir die Frage, was Touristen antreibt, sich durch von obdachlosen und suchtkranken Menschen bevölkerte Straßen kutschieren zu lassen? Eine Antwort will mir nicht einfallen.
Meine Frau, die in den Neunzigern selbst einige Jahre in San Francisco gelebt hatte, verglich ihren aktuellen Eindruck mit dem Gefühl, das sie Anfang der Neunziger als 17-Jährige bei ihrer Reise in die Sowjetunion Gorbatschows hatte: ein gebrochenes Reich, das bald darauf unterging. Vielleicht so gebrochen wie viele Menschen in San Francisco heute?
Auch ich war schon mehrfach hier gewesen. Das San Francisco von heute hat mit der Stadt, wie ich sie kenne, nichts mehr zu tun. Ob sie auch untergehen wird? Wer weiß.
Pünktlich um 15 Uhr waren wir zurück in der Passbehörde. 16.30 Uhr, die Behörde schließt offiziell um 16 Uhr, hielt meine Frau ihren neuen Pass freudestrahlend in den Händen.
Um der Rush Hour aus dem Weg zu gehen, fuhren wir nicht sogleich aus der Stadt, was um diese Uhrzeit viele tun, sondern „nur“ zur Golden Gate Bridge. Hier gab es ausschließlich Touristen, dazu einen fantastischen Blick auf die imposante Hängebrücke, dem vielleicht bekanntesten Wahrzeichen San Franciscos, die ehemalige Gefängnisinsel Alcatraz und rüber zur Stadt.
Obdachlose und Drogenabhängige waren dort nicht auszumachen. Fast war es so wie in dem Song von John Phillips: „If you come to San Francisco – Summertime will be a love-in there“.
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