Einen wunderschönen guten Morgen! Noch 165 Tage bis zur WM, und die argentinische Albiceleste wird durch überragende Leistungen langsam zum heißesten Titelanwärter. Weltmeister Kylian Mbappé von Paris Saint-Germain sah das vor zwei Wochen in einem Interview mit TNT Sports Brasil ganz anders. Sein Favorit ist Frankreich, in jedem Fall ein europäisches Land. Die Auswahlen Argentiniens oder Brasiliens hätten kein vergleichbares Niveau. Den Fußball in Südamerika hält er für unterentwickelt, weshalb die vier letzten Weltmeisterschaften nach Europa gegangen seien.

In den sozialen Netzwerken ließen die Memes nicht lange auf sich warten. Etliche Kollegen Mbappés fühlten sich hart auf den Schlips getreten. Beispielsweise Fabinho von Champions-League-Finalist FC Liverpool, der treffend bemerkte, dass Flugreisen nach Südamerika, um mit der jeweiligen Auswahl zu kicken, elf bis zwölf Stunden dauern, und dass es etwa in Bolivien sehr schwer sei, halbwegs auf Augenhöhe zu kicken. Bolivien trägt seine WM-Quali-Spiele auf 3.600 Meter Höhe aus, die Luft dort ist ziemlich dünn. Dass auch Ecuador und Peru einen ähnlichen Höhenvorteil haben, erwähnte Fabinho gar nicht erst, auch nicht die tropische Bruthitze von Barranquilla, wo Kolumbien seine Heimspiele austrägt. Er hätte auch anmerken können, dass Flugreisen innerhalb Südamerikas mitunter ähnlich lange dauern wie Interkontinentalflüge. Die Bemerkung, dass Argentinien und Brasilien jede WM-Quali-Gruppe Europas gewinnen würden, vergaß er freilich nicht.

Was hätte es auch genützt, wenn Fabinho Mbappé die Welt außerhalb von Paris erklärt hätte? Der Sohn eines Kameruners und einer Algerierin hat sich offensichtlich noch nicht so viele Gedanken über die Welt gemacht. Er kann nichts dafür, dass er heute nicht als »Sans-Papiers« in einem Flüchtlingsboot kauert und auf die Hilfe von international diskriminierten Seenotrettern bauen muss. Hätte aber so laufen können. Der weltweit größte Friedhof befindet sich auf dem Grund des Mittelmeers.

Überhaupt: Weshalb sollte man ausgerechnet von Fußballmillionären, die vom Scheckheftballtreten leben, so etwas wie politisches Bewusstsein erwarten? Andererseits: Wo kommen die Superstars der europäischen Ligen her? Sind nicht die meisten von ihnen Afrikaner oder Südamerikaner? Die argentinischen Fußballer wachsen meist in Villas Misérias auf, die brasilianischen in Favelas, das ist noch immer so. Mbappé hat täglich mit ihnen zu tun, reden sie nie? Wie überheblich kann ein Mensch sein?

Okay, Kylian, ich erklär’s dir. Du wurdest gekauft. Südamerikaner werden gekauft. Im schönen Jahr 2000, an dessen Ende du zwei wurdest, gab es 1.400 argentinische Fußballer in den europäischen Klubs. Niemand stellte mehr als die Gauchos. Aber diese Fußballer gingen schon damals nicht mehr mit 18 oder 20 nach Europa, wie zur Zeit Maradonas, sie wurden ihren Eltern, damals noch gedeckt durch die FIFA, bereits mit zwölf, dreizehn abgekauft. Megatalente, die ihre zukünftigen Nationalmannschaftskollegen nicht kannten und die größtenteils nicht mal im eigenen Land in der Primera División debütierten. Sie wurden zu Soldaten in fernen Ländern, wo oft nur Landsleute deine Freunde respektive Bezugspersonen sind. Kannst du nicht wissen, könntest du aber. So, nun leg dich wieder hin, du armer Reicher.

Dieser Beitrag erschien vor über einem Jahr, am 8.6.2022, in der Jungen Welt – und ist bis heute aktuell geblieben. Die fussballerische Prophetie des Autors hat sich bei der WM in Qatar erfüllt. Heute erschien in der Jungen Welt sein aktueller Überblick über die südamerikanischen Kontinentalwettbewerbe. Über die schweigen sich alle anderen deutschsprachigen Sportmedien seit Jahrzehnten aus – und dokumentieren so ihre fussballerische Ahnungslosigkeit. Fussballlehrer, die ihnen das zu verstehen geben, wie es z.B. Lucien Favre nie gescheut hat, werden wg. angeblich mangelnder Medienkompetenz schnell entlassen.

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