Der Tag, an dem Willy Brandt vor der Uno sprach – Am 26. September 1973, vor 50 Jahren, hielt Willy Brandt seine erste Rede vor den Vereinten Nationen. Unser Autor war dabei und erinnert sich an den Tag.

Es gab viele Themen und Ereignisse, die wir an jenen sonnigen Septembertagen des Jahres 1973 in New York diskutierten. Am 18. September waren beide deutsche Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen worden.

Am gleichen Tage wurde in Helsinki die Schlussakte der KSZE – der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit – von 35 Staaten aus Ost und West, einschließlich Bundesrepublik und DDR, unterzeichnet. Dabei handelte es sich um ein Dokument der Verpflichtung zur Achtung der Grenzen, der friedlichen Regelung von Streitigkeiten und der Unveräußerlichkeit von Menschenrechten.

Militärputsch in Chile 1973

Eine Woche zuvor – am 11. September 1973 – war Chiles sozialistischer Staatspräsident Salvador Allende durch einen Militärputsch mit kräftiger Unterstützung der CIA gestürzt worden. Die offiziell verbreitete Nachricht lautete, er habe sich das Leben genommen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, die Putschisten hätten ihn umgebracht.

US-Präsident Nixon hielt sich bedeckt. Für Washington galt die Monroe-Doktrin von 1823. Die USA wollten neben Kuba kein weiteres sozialistisch-kommunistisches Nest vor der Haustür. Zur Zufriedenheit der Wirtschaft in Chile begann unter General Pinochet im September 1973 eine 17-jährige Zeit des Leidens und der Unterdrückung.

Mich hatte das State Department, Henry Kissingers Außenministerium, im August 1973 zu einer fünfwöchigen Informationstour „from coast to coast“ eingeladen. Höhepunkt und Abschluss war der 26. September in New York – der Tag, an dem zum ersten Mal ein deutscher Bundeskanzler eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hielt.

Die Bundesrepublik und die DDR wurden per Akklamation in die Weltorganisation aufgenommen. UN-Generalsekretär Kurt Waldheim (der 1980 als österreichischer Staatspräsident wegen seiner NS-Vergangenheit in die internationale Isolation geriet) wollte eine geräuschlose Zeremonie und beschränkte sich in seiner Rede auf die Beschwörung des „Geistes der Entspannung“.

Protest gegen die Aufnahme der DDR

Doch dann ergriff der Uno-Botschafter Israels das Wort und protestierte gegen die Aufnahme der DDR, weil sie sich ihrer moralischen Verpflichtung durch den Holocaust entziehe. Darauf – offenbar aus Gründen der Gleichbehandlung – wandte sich der Vertreter von Guinea-Bissau gegen die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland. Seine Begründung gewann erst 50 Jahre später an Gewicht: Bonn habe sein afrikanisches Land bei der Entkolonialisierung im Stich gelassen.

Die Boulevard-Presse sprach von einem „Eklat“. Doch beide Proteste verhallten nahezu ungehört. Willy Brandt hatte es an diesem Tag im Uno-Gebäude ziemlich eilig. Zum einen wollte er keine längeren Kontakte mit der DDR-Delegation unter Außenminister Otto Winzer, der ebenfalls sprach und die veränderte internationale Position der DDR betonte – es war tatsächlich ein Freudentag für die DDR-Führung, denn jetzt war ihr Staat in der internationalen Gemeinschaft angekommen.

Willy Brandt wusste außerdem, dass seine Freunde in der Sozialistischen Internationale (wie sich herausstellte: vergeblich) auf ein kritisches Wort von ihm zum gewaltsamen Sturz von Salvador Allende rechneten. Brandts Freund Egon Bahr hatte für solche Fälle einen Spruch in schonungsloser Offenheit bereit: „Seit Adenauer waren alle Bundeskanzler in Bonn freie Mitarbeiter der CIA.“

Brandts erste Rede vor den Vereinten Nationen war keine seiner besten, die er je gehalten hat. Er las vom Blatt, seine Körpersprache war verhalten. Doch es war unverkennbar der Brandt, der 1971 den Friedensnobelpreis erhalten hatte und der ab 1977 den Vorsitz in der Nord-Süd-Kommission führte, die Elend und mangelnde Gerechtigkeit in der sogenannten Dritten Welt anprangerte.

Es war Willy Brandts erste Rede vor der Uno

Brandt sagte, er spreche als Deutscher und als Europäer. In der Region, in der ehemals so viele blutige Konflikte entstanden seien, gehe jetzt eine Politik der Verständigung aus. Die Bundesrepublik Deutschland wolle in der internationalen Politik Mitverantwortung übernehmen, ohne dabei die Hoffnung und das Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands aufzugeben.

Es müsse gelingen, die Gewalt als Mittel zur Lösung von politischen Konflikten zurückzudrängen. Not in der Welt bedeute immer Konflikt. „Wo Hunger herrscht, gibt es auf Dauer keinen Frieden!“ war der Appell Brandts unter dem Beifall der Delegierten.

Eine gänzlich andere Situation als 50 Jahre später bei der Rede von Kanzler Scholz vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. 1973 bewegten sich Ost und West in der Hoffnung und der Euphorie der Entspannung – nicht nur in Deutschland, wo 1972 ein neues Berlin-Abkommen in Kraft getreten war und 1973 der Grundlagen-Vertrag zwischen Bundesrepublik und DDR geschlossen wurde.

Vor allem die DDR konnte zufrieden sein. Frankreich schickte Jacques Jessel noch 1973 als Geschäftsträger für eine Botschaft nach Ost-Berlin. 1974 eröffneten Großbritannien und die USA ihre diplomatischen Vertretungen in der DDR. Wieder einmal schienen alle Grenzen abgesteckt und die Weltordnung zementiert.

Alexander Kulpok ist Journalist und Autor. Er arbeitete im Sender Freies Berlin, zunächst im Jugendfunk, dann als Reporter, Redakteur, Moderator und schließlich lange als Leiter der ARD-/ZDF-Videotextredaktion. Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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