Wie ein früherer oberster Soldat der USA in Europa die Katze aus dem Sack ließ: der Kalte Krieg ging nie zu Ende – und was das alles mit der deutschen Einigung zu tun hat
„Russland war und ist seit Jahrzehnten eine existentielle Gefahr für Europa und die Vereinigten Staaten…… In diesem Krieg geht es um soviel mehr als nur um die Ukraine“ – Ben Hodges, ehemaliger Oberkommandierender der NATO- Streitkräfte in Europa, 27. September 2023, bei 60 Minutes. Braucht es eigentlich noch weitere Beweise, dass im Westen das Kalte-Kriegs-Denken niemals einschlief, man praktischerweise in den „Russen“ erst in Gestalt der Sowjetunion, dann in Gestalt des Rechtsnachfolgers Russland den ewigen Feind erblickt(e) und dass das Nato-Politik beeinflusste?
Es gab einmal eine Zeit, in der scheinbar der Kalte Krieg zu Grabe getragen wurde. Manchem gilt das Treffen zwischen Gorbatschow und Bush in Malta im Dezember 1990 als dieser Moment. Unzweifelhaft ist, das sich mit der Charta von Paris 1990 eine Möglichkeit eröffnete, die alte Block-Konfrontation durch Zusammenarbeit und eine geteilte neue Sicherheitsordnung zu ersetzen. Es scheint in Deutschland beinah vergessen, dass der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und die Bewegung in Richtung Deutscher Einheit dafür wie ein Katalysator wirkte.
Der Fall der Berliner Mauer war nicht nur ein Symbol des Niedergangs der real-sozialistischen DDR. Es war ein Akt der Selbstbefreiung. An jenem Tag zertrümmerten Menschen, die in Berlin von Ost nach West und von West nach Ost friedlich die Grenze überschritten und jene, die sie gewähren ließen, ein ganzes völkerrechtliches Vertragswerk – die Rechte der vier Alliierten standen nur noch auf dem Papier. Gleichzeitig waren rund 400.000 sowjetische Soldaten in der DDR stationiert. Das alles war eine unerhörte, revolutionäre Situation, von keinem vorausgesehen, in keiner außen- oder sicherheitspolitischen Rechnung vorhanden.
Hinzu kommt, dass spätestens mit dem 10-Punkte-Plan von Helmut Kohl, dem damaligen Kanzler der Bundesrepublik, die Idee einer deutschen Einigung greifbare Züge annahm. Auch das lag vielen Ländern schwer im Magen. (Anm.: wie ich einer Veröffentlichung des Nationalen Sicherheitsarchivs der USA entnahm, war dieser 10-Punkte-Plan nur mit einem sogenannten Gesprächskanal der Bundesrepublik -alt- mit dem Kreml abgesprochen, nicht aber mit Gorbatschow selbst, und auch nicht mit den USA, mit dem Ergebnis, dass alle zunächst zutiefst irritiert waren.)
Das Gedächtnis der Völker reicht weit in die Vergangenheit
Alles hatte damit zu tun, dass vom großen Deutschland in der Mitte Europas zweimal im 20. Jahrhundert verheerende Kriege vom Zaun gebrochen worden waren. Niemand konnte das ignorieren. Denn das Gedächtnis der Völker reicht weit in die Vergangenheit, so wie die außenpolitischen Archive aller Staaten.
Man kann sich das so vorstellen wie Erinnerungen von Ehepartnern in einer problematischen Beziehung. Solange die Sonne am Ehehimmel scheint, ist scheinbar alles in Ordnung, aber bei jedem Wölkchen zieht einer von beiden eine Erinnerung, die sich tief einbrannte, aus der Tasche. Ein Vergessen auf immer gibt es nicht, nicht in der Beziehung zwischen Menschen, und alle Staatenbeziehungen sind letztendlich dem vergleichbar.
Hinzu kommt, dass der Grundsatz, der nicht nur für die Verfolgung der europäischen Juden gilt, fortbesteht: Was einmal war, bleibt immer möglich. Er gilt für alles.
Kurzum, während die allermeisten Ost- und Westdeutschen in den Tagen und Monaten der Jahre 1989 und 1990 vor allem damit beschäftigt waren, das Geschehene zu begreifen, einzuordnen und einen politischen Willen zu entwickeln (in Ostdeutschland führte das in der einzigen freiheitlichen Wahl zur Volkskammer im März zur Zustimmung zum Konzept eines Beitritts nach Art 23 GG), bestand die internationale Aufgabe darin eine neue „Ordnung“ in die entstandene „Unordnung“ zu bringen, ohne den Prozess der demokratischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, einschließlich in der Sowjetunion, zu gefährden.
Offiziell wurde das damals zunächst mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag und mit der Zustimmung der damaligen Europäischen Gemeinschaften (Rat und Parlament) zur deutschen Einigung erreicht, aber auch im Rahmen der KSZE in Paris im November 1990 festgemacht. Aus den Verabredungen jener Zeit resultiert der (russische) Vorwurf, dass damals die Sowjetunion mit dem falschen Versprechen betrogen wurde, dass die deutsche Einigung auf keinen Fall zu einer Osterweiterung der NATO führen würde. Das wurde später bestritten, bzw. so interpretiert, als hätte es sich allein darum gehandelt, dass sich die NATO-Truppenstationierung nicht auf Ostdeutschland ausdehnen sollte, so wie es auch im Zwei-Plus-Vier-Vertrag fixiert ist.
Ein Blick in die Archive legt die Versprechen offen, die Gorbatschow gegeben und dann gebrochen wurden. Er zeigt auch, dass Gorbatschow und Bush in Malta im Dezember 1989 die Perspektive eines geeinten Deutschlands besprachen und Gorbatschow damals die Hoffnung damit verband, dass das zu einem gemeinsamen europäischen Haus führen würde.
Archivaufzeichnungen belegen ebenfalls, dass Gorbatschow nicht gegen einen Nato-Beitritt des geeinten Deutschlands war und ergo auch nicht gegen einen permanenten Fuß der USA in Europa, immer unter der Voraussetzung, dass die USA und die Sowjetunion das neu Entstehende gemeinsam gestalten würden. Gorbatschows Vorstellung war, beide Militärblöcke in eine europäische Sicherheitsarchitektur zu überführen. Die europäische Verankerung der Sowjetunion war für ihn auch eine Voraussetzung für das Gelingen der Perestroika.
Archiv-Dokumente zeigen, dass sich Gorbatschow bei dem wichtigen Treffen mit Bush in Camp David Anordnungen widersetzte, die er von der Moskauer Führung mit auf den Weg bekommen hatte – die lehnte die deutsche Einigung unter den gegebenen Umständen ab. Gorbatschow hatte Vertrauen in die Versprechen des Westens, hatte er doch selbst in Malta 1989 Bush versichert, dass er einer wäre, der sein Wort hält. Das sei Garant für Vertrauen. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Die Ablehnung einer Nato-Erweiterung und die Forderung nach einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur erhielt auch Jelzin aufrecht. Er wurde ebenfalls betrogen.
Spätestens beim Nato-Einsatz gegen Serbien (Kosovo-Krieg) wurde auch dem Allerdümmsten klar, dass der Nato-Russland-Rat nur eine Krücke war, um Russland ruhigzustellen, und dass dieses Konstrukt keine Möglichkeit einer echten Konfliktlösung auf Augenhöhe bot. Nun könnte man argumentieren, dass die NATO qua Gründungsvertrag nicht nur auf die Charta der Vereinten Nationen, sondern auch auf friedliche Streitbeilegung verpflichtet ist (Art 1 Nato-Vertrag). In der Praxis hat das die NATO nicht geschert.
In der Nato-Russland-Verständigung von 1997 wurde festgelegt, dass die Nato keine permanenten Truppen in das östliche Nato-Gebiet verlegen würde und auch keine Atomwaffen. Hat sie sich daran gehalten?
Aber warum hätten sich die USA (und ihre Verbündeten) auch an politische Absprachen halten sollen, empfanden sie sich doch als die einzig verbliebene Supermacht. Sie hatten den Niedergang der Sowjetunion, ihre Auflösung erlebt. Die „Russen“ (umgangssprachlich für die Sowjetunion) lagen am Boden, brauchten Geld – wer musste also noch „Rücksicht“ nehmen, geschweige denn eine gemeinsame Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft Europas akzeptieren?
Den alten Feind als neuen anzusehen, hatte sehr viel Verlockung, und Hodges Einlassungen bestätigen das. Tief verwurzelter Russenhass und eine damit verbundene Siegermentalität paarten sich schnell mit der Doktrin, niemals wieder einen Herausforderer amerikanischer Übermacht zuzulassen.
Der Westen schrieb sich die demokratischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa auf die eigene Fahne. Auch das entsprach nicht den damaligen Vorstellungen Gorbatschows. Er wandte sich gegen die Terminologie „westlicher Werte“. Er fand, universelle Werte wären der bessere Begriff. Im Übrigen sollte es den Völkern überlassen bleiben, welchen Weg sie wählen. Erstaunlicherweise fand er dabei Rückhalt beim damaligen Papst. Der sagte, die Kirche in Europa könne im Gefolge des demokratischen Aufbruchs in Europa nunmehr „mit beiden Lungenflügeln“ atmen, mit ihrer westlichen und ihrer östlichen Tradition.
Das “Neue Denken”
Immer wieder wird darauf bestanden, dass im Zuge der deutschen Einigung nichts in vertragliche Form gegossen wurde, was später von russischer Seite als Vertrauensbruch eingeschätzt wurde. Das übersieht allerdings, dass 1990 der Zug in Richtung Einheit immer schneller rollte und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nicht für die ganze Nato sprechen konnten. Wer diesen Prozess nicht aufhalten wollte, musste sich auf das Wort der damals Handelnden verlassen.
Heute mag das naiv klingen, damals war es die große Geste der Sowjetunion gegenüber unserem Land, weil deren Anführer begriffen hatte, dass keine Macht der Welt die Selbstbestimmung eines Volkes aufhalten kann, aber allen Völkern gemeinsam ist, dass sie ihre Zukunft nur vereint meistern können. Er hatte das in seiner Rede vor den Vereinten Nationen 1988 so eindrücklich dargelegt, dass damals sogar die New York Times jubelte. Das war das „Neue Denken“.
Das war das Denken, dass schon Kennedy als Lehre aus der Cuba-Krise zog. Heute denkt nur noch eine Minderheit so. Die Sprache der Macht hat die Sprache der Vernunft fast völlig verdrängt: Es den Russen zu zeigen, Russen zu töten, hat sehr viel mehr Konjunktur als jede Forderung nach Verständigung. Das wird als schwach, naiv, und im extremsten Fall als verräterisch portraitiert. Und dennoch, am 33. Jahrestag der deutschen Einheit muss man daran erinnern, dass mit ihr die Hoffnung auf ein „gemeinsames Haus Europa“ verbunden war und in Paris 1990 auch niedergelegt wurde. Die Abwesenheit dieses gemeinsamen Hauses bezahlen wir heute bitter in Gestalt des Ukraine-Krieges.
Es hätte nicht so kommen müssen, wenn die USA und im weiteren Sinne die Nato und damit auch das vereinte Deutschland sich nicht in der Siegerpose gewähnt hätten, die der „russischen Mittelmacht“ auf der Nase herumtanzen konnte und in der Nato das triumphale Streitross sahen (und sehen). Wie sonst sind die unverhüllten Äußerungen des aktuellen Nato-Generalsekretärs zu verstehen, der vor dem Europäischen Parlament jüngst äußerte: Russland wollte die Neutralität der Ukraine, weniger NATO, aber darüber hat die Nato selbstverständlich nicht verhandelt. Und nun (juche!), hat Russland „mehr Nato“ bekommen.
Hochmut
Auch Deutschland gehörte zu den Nato-Ländern, die Verhandlungen um die im Dezember 2021 niedergelegten russischen Sicherheitsinteressen ablehnten. Was wir tun, geht niemand etwas an, lautete die Devise und dieser Devise sind leider alle Regierungen des vereinten Deutschlands im Nato-Rahmen seit 1990 gefolgt.
Nun gibt es aber das alte Sprichwort, dass Hochmut vor dem Fall kommt.
Inzwischen geht es nicht mehr nur um die Neutralität der Ukraine, die Russland Ende März 2022 mit der Ukraine ausgehandelt hatte, nicht mehr um die damit verbundene Wiedereingliederung des Donbass in ukrainisches Staatsgebiet. Dieser Zug ist abgefahren, weil der Westen die Ukraine 2022 daran hinderte, diesen Vertrag abzuschließen. Einer der ukrainischen Unterhändler wurde sogar ermordet, und das war gewiss auch als symbolische Warnung gemeint: Keine Verhandlungen. Es geht um Siegfrieden….
Heute lautet das deutsche veröffentlichte Meinungsbild, wir hätten mit der ganzen Vorgeschichte dieses unsäglichen Ringens um die Ukraine nichts, aber auch gar nichts zu tun. Schlimmer noch, die Kriegs-Vorgeschichte wird bestritten. Russland hat den Krieg aus dem Nichts begonnen, so lautet die Mär. Dessen Wesen sei schon immer aggressiv und imperial gewesen. Belege werden nicht geliefert.
Das alles ist unwürdig und ahistorisch. Es ist dumm und brandgefährlich. Denn wer die Kriegsursachen nicht erkennt, findet auch keinen Weg zu Frieden. Wer auf Feindschaft setzt, so wie Hodges, also eine praktische „Erbfeindschaft“, die von der Sowjetunion auf Russland überging, verkennt, was solche Attitüden in der europäischen Geschichte anrichteten und wie das das eigene Land vergiften kann (und weiter vergiften wird).
Starrsinnig und realitätsverleugnend
Es ist ja nicht zufällig, dass Ostdeutsche diesen aktuellen Krieg in der Ukraine differenzierter betrachten. Sie haben in bester Erinnerung, wie starrsinnig und realitätsverleugnend die SED-Diktatur war, wie mit Staatsgewalt jede „abweichende“ Meinung unterdrückt wurde. Das will niemand zurück. Ostdeutsche haben auch erlebt, dass die Hoffnung auf eine Veränderung nicht nur aus Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakei kamen, sondern auch aus der Sowjetunion. Sie haben in bester Erinnerung, dass Siegermentalitäten den deutschen Einigungsprozess prägten und bis heute prägen. Die FAZ bezeichnete jüngst die Einigungsfeiern als „Therapiesitzung“. Nur für wen?
Die allermeisten Ostdeutschen sitzen immer noch am Katzentisch der bundesdeutschen Gesellschaft, nirgendwo wirklich präsent in den zentralen gesellschaftlichen Strukturen, mit unterbrochenen Erwerbsbiographien und viel weniger Geld oder Erbvermögen ausgestattet als die lieben Landsleute jenseits der Elbe, so wie Russland an den Katzentisch der sogenannten westlichen „regelbasierten Ordnung“ verbannt werden sollte – solange, bis es sich endlich fügt.
Und möglicherweise sitzt in Ostdeutschland auch der Schock tiefer als im Westen des Landes, dass auch die eigene Regierung lügt, wenn es ihr in den Kram passt. Das war in der Vorstellung Ostdeutscher von Demokratie nicht vorgesehen. Und doch, es gibt eine starke gemeinsame Stimme in unserem Land, die von Ost nach West und von Nord nach Süd reicht und das ist so ermutigend: Es ist der gemeinsame Wille zum Frieden. Wir sind 88 Prozent!
Multipolare Weltordnung ist nicht aufzuhalten
Was gäbe es also Besseres, als dieses zutiefst Gemeinsame am 33. Jahrestag der Deutschen Einheit zum Ausgangspunkt einer neuen deutschen Außenpolitik zu nehmen, die Zuhören, das Bemühen um Verständnis und Verständigung und ein Aufeinanderzugehen beinhaltet. Das erwarten die Länder des globalen Südens von uns, denn bei denen regiert die Vernunft und der Zukunftswille. Die entstehende multipolare Weltordnung, die Gorbatschow schon 1989 vorhersah, ist nicht mehr aufzuhalten.
Zumal der Versuch der proklamierten „Zeitenwende“, mit den Säbeln zu rasseln, „den Russen“ endlich zu zeigen, was eine Harke ist, und Russland kaputtzuschlagen, eindeutig jämmerlich gescheitert ist. Jeder, der diesen Kurs weiterführt, opfert das Volk, das angeblich gerettet werden soll – die Ukraine. Er verdammt aber auch uns zu ewigem Hass, wenn nicht sogar zu einem offen geführten Dritten Weltkrieg, der nur im Untergang aller enden kann.
Lieber Martin,
Wie kann man Petra Erler nur danken – dass sie ihr immenses Wissen nicht für sich behält, sondern mit ihrer erarbeiteten Fähigkeit der kritischen Vernunft analysiert und verständlich mitteilt. Ihr Mut, das gängige NATO-Narrativ, das die Wesenszüge des Imperialismus bemänteln soll, blosszustellen, verdient als Unterstützung die Hochachtung der Demokraten.
Mit sehr dankbaren Grüssen – auch an den Beueler Extra-Dienst, der stetig verantwortungsbewusst zur notwendigen Verbreitung der lebens-wichtigen Erkenntnisse von Petra Erler beiträgt – rudolf schwinn.
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