Die Wahlergebnisse von Hessen und Bayern sind ein demokratisches Desaster. 18.6% AfD in Hessen, 16.0% in Bayern, zweit- und drittstärkste Partei in beiden Bundesländern, FDP in Bayern atomisiert und in Hessen knapp 5%. Das Ergebnis der CDU/CSU zeigt zum einen, dass die CDU mit gemäßigten Tönen mehr Wähler gewinnt, als mit schrillen, populistischen Tönen von Söder, der weiter Prozente verlor, indem er die Grünen zum Hauptfeind erklärte. Ein Rechtsruck, scheinbar ohne Ende, denn Merz’ Handlanger Linnemann begann schon am Wahlabend im Interview mit Bettina Schausten seine rassistischen Parolen von “Überforderung” “Flüchtlingskrise” weiterzuspinnen.

Infolgedessen haben die Wähler*innen in Bayern und Hessen nicht gezögert, das Original, nämlich die AfD zu wählen und sie zur zweitstärksten Kraft zu machen.

Verfall der politischen Kultur und Tabubruch der seit 1949 geltenden Schamgrenze

Was in Bayern stattgefunden hat, erinnert fatal an den Wahlkampf der rechtsliberalen DVP im Reichstagswahlkampf 1930. Diese klebte ein Plakat, auf dem drei Marschsäulen in Richtung auf eine Sonne mit “Deutschlands wiedererlangte Größe” strebten, links die “Deutsche Volkspartei” (DVP) Gustav Stresemanns,  in der Mitte die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) Hugenbergs und rechts die NSDAP Adolf Hitlers. CSU, Freie Wähler und AfD in Bayern haben in ähnlicher Weise mit rechten Parolen auf dem Rücken von Flüchtlingen Politik gemacht und gewonnen. Dass dies im 21.Jahrhundert in Deutschland möglich ist,  ist eine Schande. Denn zählt man die Stimmenzahlen der konservativen und rechten Parteien zusammen, ergibt dies für Bayern nahezu 70%. Nein, natürlich darf man die CSU als Sonderfall nicht ausschließlich zum konservativen oder gar rechtsradikalen Spekturm zählen, aber erschrecken muss insbesondere, dass trotz der populistischen Kampagne Aiwangers die AfD diesmal noch sowiel dazu gewinnen konnte. All dies zeigt, dass sowohl die CSU und ad personam Markus Söder mit seinem Günen-Bashing bei gleichzeitiger Kampagne gegen Migranten, als auch Aiwanger mit seiner unbelehrbar antisemitisch-rassistischen Opferhaltung, das Signal gesendet haben, dass Rechtsaußen zu sein wieder hoffähig in Deutschland ist.

Rechtsextrem zu sein, ist am 8. Oktober 2023 ein Stück mehr salonfähig geworden

Die Haltung von Söder, Aiwanger und ihren beiden Parteien im Bierzelt und die verharmlosende Haltung zur offensichtlich antisemitischen Jugendsünde des stellvertretenden Ministerpräsidenten, diese zu leugnen oder als Kampagne gegen ihn, das arme Opfer, umzudeuten, hat verfangen. Sie ist nichtsdestotrotz ein Schlag gegen die politische Kultur. Dieser Akt des politischen Verfalls von Anstand und demokratischer Verantwortung hat den Wähler*innen signalisiert, dass rassistische, antisemitische und menschenverachtende Äußerungen “nicht so schlimm” sind. Aiwanger hat zu 100% Trump kopiert, der für seine rassistische und asoziale Kategorisierung von Menschen Zustimmung bekommt, indem er sich zum Opfer von “political correctness” stilisiert. Nichts anderes macht die AfD. Eine Erklärung für diese Verrohung des politischen Diskurses und dass diese so verfängt, ist nicht einfach.

Abstiegsängste des Kleinbürgertums haben Hitler an die Macht gebracht

Bei der Analyse, wer die AfD wählt, wird oft auf “Proteststimmen” verwiesen. Ich bin der Auffassung, dass diese These zu kurz greift, als ginge es nur darum, die Regierung abzuwatschen. Wäre dies so, dürfte die AfD in Hessen eigentlich nicht so gut abgeschnitten haben. Denn Schwarz-Grün hat Hessen nicht schlecht regiert. Aber darum geht es gar nicht. AfD, CDU im Bund und die BILD-Zeitung sowie den verschiedensten Gruppen, die derzeit die Republik nach rechts zu rücken versuchen, haben ein gemeinsames Thema – den Rassismus der Flüchtlingspolitik, der letztlich auf der Ideologie der Ultrarechten vom “Austausch der Bevölkerung” fußt. Hinzu kommen die berechtigten sozialen Ängste, die auf den Auswirkungen von Neoliberalismus und Internetkonzernen beruhen. Die Entvölkerung der Innenstädte, das Sterben des Kleinhandels und der Gastronomie im Zuge von Corona und Amazon, die Verslumung bestimmter Innenstädte, Segregation und Ghettobildung – all dies sind Anzeichen des Niedergangs, die vor allem Kleingewerbetreibende, Handwerker, Selbständige und vom demografischen Wandel betroffene Unternehmer verängstigt.

Abstiegsängste der Mittelschicht begünstigen die AfD

Die Stützen der AfD sind sehr oft in keiner Weise von den beschriebenen Entwicklungen betroffen. Idealtypisch ein Nachbar eines meiner Familienmitglieder: Selbständiger in einer wohlhabenden Wohngegend im Schwarzwald, Haus nicht unter 300 qm Wohnfläche, 2 Autos, 3 Harley-Davidson Motorräder, stv. Vorsitzender des örtlichen Schützenvereins mit ordentlichem Waffenarsenal im Keller, verheiratet mit einer Französin. Verschickt auf Whatsapp rassistische Sprüche, Fotos und menschenverachtende Filme, ist nach Aussage von Nachbarn kein Nazi, sondern “hat halt was gegen Neger”.  Ein Nachbar meint, ihm müsse eigentlich der Waffenschein und die Waffen entzogen werden, andere halten ihn für einen harmlosen Schwätzer. Aber eins ist sicher: Er wählt AfD aus Überzeugung.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net