Fussballerisch im Hochspannungszustand. Wenn heute wieder eine SMS von Bettina Tull “Du brauchst nicht zu weinen” eintrifft, weiss ich: das Wochenende kann ich aus der Erinnerung streichen. Anders Gerhard Schröder. Der erinnert mich dieses Wochenende an Vieles. Anlass ein Interview, das von sog. Leitmedien dröhnend beschwiegen wird. Und von der Berliner Zeitung am Montagmorgen (23.10.) digital eingemauert wurde; wenn Sie durch die Mauer nicht durchkommen, kann ich helfen. Daran erkenne ich: auf Substanz kommt es denen nicht an. Der Kerl hat viele andere Meinungen als ich. Aber er ist kaum dümmer geworden, als er als Bundeskanzler (und Juso-Vorstzender 1978-80) schon war. Olaf Scholz weiss das ganz genau. Vielleicht ist mein Schröder-Verhältnis davon begünstigt, dass ich ihn immer aus der Distanz beobachtete: von wem ich wenig erwartete, der konnte mich – so wenig wie der Asylrechtsabräumer der 90er Oskar Lafontaine – auch nicht enttäuschen.
Heute ist der 40. Jahrestag der grössten Massendemonstration, die die West-BRD jemals gesehen hat. Ich war Backstage im Hofgarten dabei, als Vertreter der Vereinigten Deutschen Studentenschaften (VDS) im Koordinierungsausschuss (KA) der Friedensbewegung. Der DLF widmete dem heute immerhin sein “Kalenderblatt” (Audio 5 min.), dank Programmdirektorin Teichmann, die sich damit vor 3-4 Zeitungsverlagsmilliardärsfamilien auf den Rücken legt, nicht mehr lesbar, sondern nur hörbar. Wer den Sender unter diesen Umständen gegen diese Milliardär*inn*e*n verteidigen soll, ist Frau Teichmann vielleicht egal, weil sie nur wenig jünger als ich ist, also nah an der Rente.
Wie kommichdrauf? Ich war dabei. Habe das u.a. mit Andreas Zumach, und etlichen, die schon tot sind, mitorganisiert. Ich bin stolz darauf, und bereue bis heute nichts. Im Gegenteil.
Gerhard Schröder hatte damals den Juso-Vorsitz bereits abgegeben, und war über den Wahlkreis “Hannover-Land” in den Bundestag eingezogen. Die beste Analyse dieser merkwürdigen Stadt hat vor einigen Jahren Lutz Hachmeister geliefert, als Film und Buch.
Zuvor hatte Schröder die Jusos befriedet und zu seinem eigenen Karrieresprungbrett zugerichtet. Respekt, dafür war einige Intelligenz erforderlich. Der Schlingel bezeichnete sich und seine Fusstruppen als “Antirevisionisten”. Sie gaben sich damit noch linker als die verrufenen Stamokaps, denen sich der Hamburger Olaf Scholz anschliessen musste, um überhaupt (Macht-)Land zu gewinnen.
Jusos links überholt
Bei uns Jungdemokraten gab es seinerzeit einen parallelen Konflikt, der aber andersrum ausging. Schröder profitierte davon, dass niemand Geringeres als Egon Bahr persönlich (damals SPD-Bundesgeschäftsführer) seinen Juso-Vorgänger Benneter (“Stamokap”) feuerte, weil der zusammen mit Kommunist*inn*en im Hofgarten für Frieden und Abrüstung demonstrieren wollte. Wir Jungdemokraten waren anders als die Jusos keine Partei(unter)Gliederung, sondern ein selbstständiger Verband. Wir entschieden in Bingen 1977 mit knappster Mehrheit: wir machen da mit, weil es richtig ist. Und überholten so die Jusos links, und das auf Dauer. Unsere Bundesvorstandsmitglieder Hanspeter Knirsch und Michael Kleff, damals im Team “Vorsicht”, traten zurück.
Noch im November 1976 hatten wir alle zusammen gegen die DDR-Ausbürgerung Wolf Biermanns demonstriert. Sogar Dieter Dehm (auch eines Tages in Hannover gelandet) hat dabei mitgemacht. Ich war gerade mal einen Monat in Bonn angekommen, zum Zivildienst. Die Demo von vielen hundert Leuten sammelte sich an der Diplomatenrennbahn am Vorwärts-Verlagsgebäude (ja, sowas gab es damals) und marschierte dann auf der B9 zur Ständigen Vertretung der DDR. Der gegenüberliegende Bahndamm diente als Bühne für die Redner. Das war, neben Michael Kleff von uns, Otmar Schreiner für die Jusos. Nur mit einem Megafon bewaffnet redeten sie die Demo warm und heiss. Die anschliessende Nacht wurde lang. Unsere sehr attraktive Stadtschülersprecherin aus Mülheim/Ruhr war dabei, aber an Details kann ich mich nicht mehr erinnern (vielleicht “Die Kerze” in der Königstrasse? gibts auch nicht mehr).
Stabil geblieben – bis heute
Beide Demoredner blieben in ihrem folgenden Lebenslauf auf sensationelle Weise politisch stabil. Michael Kleff wurde von den meisten Leuten, die damals gegen ihn stimmten, rechts überholt. Die prominenteste Figur, die damals dabei war, heisst Wolfgang Kubicki. Otmar Schreiner kandidierte als vorgeblicher Juso-“Rechter” (“Reformsozialisten”) sowohl gegen den später abgesetzten Benneter als auch gegen Schröder vergeblich um den Juso-Vorsitz. Und jetzt, meine Güte, ist der tapfere, solidarische, kämpferische Kerl schon über zehn Jahre tot.
Legen Sie seinen Lebenslauf mal neben den Schröders. Welch ein Verlust für die Linke, und für die deutsche Demokratie. Wenigstens Michael Kleff hat noch ähnlich fiese Erkrankungen überlebt. Diese Lebensläufe sind jede politische Erinnerung wert.
Und was bedeutet es, dass wir nicht nur bis heute politische (!) Freunde geblieben sind, und unsere Organisationen in diesen sehr hitzigen Kontroversen nicht gespalten haben? Lag es daran, dass es nur Festnetztelefon und Schreibmaschine (immerhin schon elektrische, auch solche mit Kugelkopf) gab? Gezwungenermassen ging also jeder Äusserung eine vielfache Zeit zum Denken voraus. Das hatte auch Vorteile.
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