Vor genau 40 Jahren, am 15. Dezember1983, fällte das Bundesverfassungsgericht seine Grundsatzentscheidung zu der für 1983 geplanten Volkszählung und schuf damit das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“, aufbauend auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Abs. 1.1 GG) und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2,1 GG). Das Urteil gilt als Meilenstein des Datenschutzes.
Die Volkszählung sollte im Frühjahr 1983 in Form einer Totalerhebung stattfinden. Dazu sollten Beamte und Beauftragte der öffentlichen Verwaltung alle Haushalte aufsuchen und nicht nur die Personenzahlen, sondern auch eine Reihe weiterer Daten erheben. Als Kosten waren 370 Mio. DM eingeplant, 600.000 Zählerinnen und Zähler sollten eingesetzt werden. Erfasst werden sollten u.a. Wohnsituation, weitere Wohnsitze, Arbeitsweg, Miethöhe, Schule und Studium, Ausbildung und Beruf, Erwerbstätigkeit sowie Kinderbetreuung.
Ungeachtet der gesetzlich zugesicherten Anonymität sollte es den Verwaltungen gestattet sein, ihre Einwohnermelderegister mit den erhobenen Daten wie Name, Anschrift, tatsächlicher Wohnsitz, Geburtsdatum, Geschlecht, Familienstand, Konfession und Staatsangehörigkeit abzugleichen. Manche Kommunen lobten Kopfprämien für die Entdeckung nicht Angemeldeter aus. In München gab es 2,50 DM für eine deutsche und 5,00 DM für eine ausländische Person. Da muss man sich fragen, wie die gesetzliche Vorgabe, dass „die gewonnenen Erkenntnisse nicht zu Maßnahmen gegen den einzelnen Auskunftspflichtigen verwendet“ werden dürfen, mit diesem Abgleich vereinbar ist.
Die Pläne lösten eine beispiellose Protestwelle aus. Pazifisten und Feministinnen, Gewerkschafter und Politiker, Schriftsteller und Wissenschaftler bekundeten ihren Widerstand und riefen zum Boykott auf. Mehr als 500 Verfassungsbeschwerden wurden eingelegt, unter anderem von Anwälten, Politikern und Rechtsprofessoren, aber auch von Parteien wie den Grünen und den Liberalen Demokraten. Die Kläger/innen beanstanden u.a., dass die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf freie Meinungsäußerung verletzt würden, dass der Rechtsweg ausgeschlossen sei, dass sich die persönlichen Angaben und die erfragten (anonymen) Daten auf einem gemeinsamen Fragebogen befänden, dass die Intensität der Fragen Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulasse, dass einige Fragen nicht vom Gesetz gedeckt seien,
Unter dem Motto „Politiker fragen, Bürger antworten nicht“ fanden sich Volkszählungsgegner verschiedenster Herkunft zu einer Boykottbewegung zusammen. Aufkleber und Plakate verkündeten „Meine Daten gehören mir“, und an Haustüren klebten Texte wie „Betteln, Hausieren und Volkszählen verboten“. Man warnte vor dem „Überwachungsstaat“ und forderte den „Gläsernen Staat“ statt den „Gläsernen Bürger“. Georg Orwells Schreckensschilderung „1984“ wurde zu einem viel gelesenen und zitierten Buch.
Offenbar waren viele Leute durch Videoüberwachungen im öffentlichen Raum, Rasterfahndung, Wanzenaffären und staatliche Schnüffelei (Beispiel Radikalenerlass) sensibilisiert. 51% der Bevölkerung hegten laut einer ZDF-Umfrage Misstrauen gegen die Volkszählung, jeder Vierte wollte sich nicht beteiligen. Simulationen bewiesen zudem, dass ohne großen Aufwand eine De-Anonymisierung möglich und die konkrete Person anhand der im Fragebogen gemachten Angaben zu identifizieren sei. Die ZEIT brachte es damals auf den Punkt: „Der demokratische Staat hat keinen Anspruch darauf, das per Fragebogen zu erfahren, was Eheleute einander verheimlichen.“
Die Kreativität der Volkszählungsgegner war überraschend. Wer nicht boykottieren wolle, sollte den Fragebogen mit unauffälligen Falschangaben füttern. Bestimmte Behandlungen des Fragebogens würden die Auswertung durch Lesegeräte verhindern. Das (laut Staatsanwaltschaft verbotene) Ausschneiden der Kennnummern zwinge zur Übertragung der Daten auf einen neuen Fragebogen. Als Zähler/in getarnte Personen könnten die Fragebögen einsammeln.
Nach einer mündlichen Verhandlung über die eingelegten Verfassungsbeschwerden machte das Gericht im April 1983 die Anträge der FDP-Politikerinnen Maja Stadtler-Euler und Gisela Wild sowie des Jurastudenten Gunther Freiherr von Mirbach zur Grundlage der weiteren Behandlung und setzte durch einstweilige Anordnung die Durchführung der Volkszählung bis zur Entscheidung in der Hauptsache aus. In seinem Urteil vom 15.12.83 stellte das Gericht dann fest, dass zahlreiche Vorschriften dieses Gesetzes erheblich und ohne Rechtfertigung in Grundrechte des Einzelnen eingriffen. Diese Regeln seien nichtig und das gesamte Gesetz verfassungswidrig. Die Beschwerdeführer würden in ihrem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ verletzt. Dieses sei ein vom Grundgesetz geschütztes Gut.
Datensammlungen unter Nutzung moderner Informationstechnik, die von den Betroffenen nicht überblickt werden könnten, stellen nach Ansicht des Gerichts eine Gefährdung der freiheitlichen Grundordnung dar. Wer nicht wisse, welche Informationen über seine persönlichen Daten und sein Verhalten gespeichert, verwendet und weitergegeben würden, passe sich aus Vorsicht an, verzichte möglicherweise auf die Wahrnehmung von Grundrechten und werde in seiner individuellen Handlungsfreiheit beeinträchtigt. Das Grundgesetz gewährleiste jedoch die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.
Mit seinem Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht fünf Leitsätze auf: 3)
1. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst den Schutz des Einzelnen gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten.
2. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nur durch ein überwiegendes und klar begründetes Allgemeininteresse eingeschränkt werden.
3. Nur bei der Erhebung anonymisierte Daten für statistische Zwecke kann eine enge und konkrete Zweckbindung der Daten nicht verlangt werden.
4. Das Volkszählungsgesetz muss um verfahrensrechtliche Vorkehrungen ergänzt werden, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sichern.
5. Die Übermittlungsregelungen des Volkszählungsgesetzes – mit Ausnahme der Weitergabe zu wissenschaftlichen Zwecken – stellen einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar.
Das Bundesverfassungsgericht erkannte die Gefahr, dass gesammelte Daten zu einem nahezu vollständigen Persönlichkeitsprofil zusammengesetzt werden können. Dadurch werde ein Gefühl der Überwachung erzeugt. „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und dauerhaft gespeichert, verwendet und weitergeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verwendungsweisen aufzufallen.“ Aufgrund eines solchen „nachhaltigen Einschüchterungseffekts“ werde man seine Freiheitsrechte nicht mehr wahrnehmen und damit seine Persönlichkeit nicht mehr frei entfalten. Auch das Gemeinwohl sei betroffen, da es auf der freiwilligen Mitwirkung der Bürger/innen fuße.
Diese Gefahr ist aufgrund der Fortentwicklung Informationstechnologien noch deutlich größer geworden. Alle Menschen hinterlassen pausenlos Datenspuren, die Rückschlüsse auf ihr Leben ermöglichen. Überwachungskameras filmen, Onlineshops speichern das Konsumverhalten, der bargeldlose Zahlungsverkehr dokumentiert die finanziellen Verhältnisse, beim Surfen im Internet werden IP-Adressen erzeugt und gesammelt. Und die erfassten Daten werden gehandelt.
Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung seien – so das Gericht – nur im überwiegenden öffentlichen Interesse, auf der Grundlage von Gesetzen und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Ein aktuelles Beispiel sind die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Da der Staat die Verantwortung für den Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung trägt, sind – so der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages – Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zulässig.
Das Volkszählungsurteil hatte erhebliche Auswirkungen. Es sorgte nicht nur für den Stopp der geplanten Volkszählung, die auf einer modifizierten Grundlage erst 1987 erfolgte, sondern bedingte auch die Überarbeitung einer Vielzahl von Statistikgesetzen und beeinflusste die Gestaltung von Gesetzen wie der Datenschutz-Grundverordnung oder des Bundesdatenschutzgesetzes. Im Rahmen der Steuererhebung dürfen z.B. nur noch die wirklich zur Steuerermittlung notwendigen Informationen eingefordert werden. Ein besonderes Problemfeld ist die Verarbeitung personenbezogener Daten in Beschäftigungsverhältnissen. Hier besagt das Bundesdatenschutzgesetz, dass diese nur insoweit erhoben und verarbeitet werden dürfen, wie dies für die Begründung, Durchführung und Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses notwendig ist.
Aufgrund des Urteils wurden die Fragebögen neu konzipiert und die personenbezogenen Daten vom Fragebogen getrennt, um die Anonymität der Befragten besser zu schützen. Die Volkszählung wurde nunmehr für 1987 angesetzt. Ihre Akzeptanz sollte durch eine aufwändige Werbekampagne unterstützt werden, doch führten Aussagen wie „Sicherung der Renten“, “Schaffung von Arbeitsplätzen“ oder „Abbau der Benachteiligung der Frau am Arbeitsplatz“ eher zur Verstärkung der Bedenken als zur Schaffung von Glaubwürdigkeit.
Die Kritik richtete sich vor allem gegen den wachsende Datenaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten sowie die Datensammlungen der Wirtschaft. Rasch bildete sich ein breites Bündnis verschiedener sozialer und politischer Gruppen, das zum Boykott der Volkszählung aufrief. Unter anderem waren die Grünen, Teile der Gewerkschaften und der Kirchen und Juristenverbände beteiligt. Die Jungdemokraten, einst Jugendorganisation der FDP, richteten ein „Koodinierungsbüro gegen den Überwachungsstaat“ ein.
Politik und Verwaltung reagierten mit Hausdurchsuchungen, Beobachtung durch den Verfassungsschutz, Speicherung der Daten von Volkszählungsgegnern beim Bundeskriminalamt, Androhung von Bußgeldern, Streichung von öffentlicher Förderung und Strafanzeigen wegen „Sachbeschädigung“. Mit diesem Vorwurf wurde der Aufruf zum Abschneiden der Kontrollnummern auf den Erhebungsbögen bewertet. Auch der Autor war – weitgehend folgenlos – Objekt eines solchen Strafverfahrens.
Ungeachtet dessen wurde die Volkszählung durchgeführt. Nach Angaben zuständiger Ämter wurden zwischen 7% und 15% der Fragebögen nicht abgegeben. Die Kritiker werteten dies als Erfolg, die Bundesregierung sah darin ein Scheitern des Boykottaufrufs. Umstritten waren auch der statistische Wert der ermittelten Daten und der Einfluss von Verfälschungseffekten. Unstrittig ist, dass es bei den Bevölkerungszahlen vielfach erhebliche Differenzen zwischen den Ergebnissen der Volkszählung und der statistischen Fortschreibung der 1970 erhobenen Daten gab.
Wegen seiner Wirkung kann man im Volkszählungsurteil von 1983 ein Lehrstück an Demokratie sehen. Ein breiter Widerstand hat letztlich eine von allen politische Parteien befürwortete Maßnahme verhindert. Das Verfassungsgericht hat sogar ein neues Grundrecht geschaffen, das nicht nur für die umstrittene Volkszählung galt, sondern weit in die Zukunft den Schutz der Daten der Bevölkerung sichert. Als Gewinner in diesem Rechtsstreit können sich daher letztlich die gesamte Gesellschaft fühlen, nicht nur die Personen, deren Klagen das Bundesverfassungsgericht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, und die vielen anderen Kläger/innen, die das gleiche Ziel verfolgten.
Jedoch ist Skepsis angebracht, ob sich bei vergleichbarem Anlass wieder eine breite Protestbewegung bildet. Die Sensibilität für Datenschutzbelange ist offenkundig gesunken. Viele Leute, vor allem jüngere, geben heute bereitwillig und großzügig ihre Daten preis, an Unternehmen, Institutionen, den Staat, soziale Netze und oft auch an obskure Organisationen. Die Sammlung personenbezogener Daten ohne Einwilligung oder gesetzliche Erlaubnis ist allerdings unzulässig und kann Ansprüche auf Unterlassung oder gar Schadensersatz auslösen.
Schreibe einen Kommentar