Ein Gespräch mit Bundesministerin der Justiz a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
„Zum Zweiten ist ‚Sicherheit‘ kein eigenständiges Recht im Sinn eines durchsetzbaren Rechtsanspruchs von Bürgern gegen den Staat. Es ist vielmehr ein Zustand und eine Grundlage dafür, dass die Staatsgewalt als legitim (also ‚berechtigt‘, ‚richtig‘, ‚glaubwürdig‘) angesehen wird. Sicherheit ist ein Maßbegriff, aber keine Qualität an sich – es geht immer um Sicherheit von etwas vor etwas. Wenn in einem Satz die ‚Sicherheit der Meinungsfreiheit‘ gefordert wird und im nächsten die ‚Sicherheit der persönlichen Ehre‘, bemerkt man, dass es ‚darauf ankommt‘ und dass sich aus dem Begriff der Sicherheit kein Maßstab ergibt, wie man die beiden Sicherheiten miteinander vereinbaren soll.“ (Thomas Fischer, Genau gegen Willkür, in: Der Spiegel, Kolumne „Recht haben“ 24. Mai 2019 – Paywall, sowie in: Thomas Fischer, Recht haben – Vermischtes aus der Welt des Strafrechts, München, Droemer Verlag, 2022)
Thomas Fischer setzt sich in der zitierten Kolumne mit dem Anliegen des ehemaligen Strafverteidigers und Bundesministers des Innern Otto Schily auseinander, eine Art „Recht auf Sicherheit“ einzuführen. Er nennt drei Argumente, denen gemeinsam ist, dass die im Grundgesetz verbrieften Rechte eines Menschen nicht durch einen politisch für notwendig erachteten Bedarf von „Sicherheit“ ausgehebelt werden dürfen, zumal es auch schwer sein dürfte, „Sicherheit“ klar und eindeutig zu definieren.
Eben dieser Konflikt zwischen Sicherheitsinteressen und den Grundrechten war bereits mehrfach Gegenstand von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Einige dieser Urteile hat eine der bekanntesten liberalen Politikerinnen in Deutschland, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, gemeinsam mit Gerhart R. Baum und Burkhard Hirsch sel.A. erwirkt. Aufsehen erregte im Januar 1996 ihr Rücktritt vom Amt der Bundesministerin der Justiz wegen des auch von ihrer Partei, der FDP, befürworteten „Großen Lauschangriffs“, den das Bundesverfassungsgericht acht Jahre später für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte.
Das Amt der Bundesministerin der Justiz übernahm sie zwei Mal, einmal in den Jahren 1992 bis 1996, dann wieder in den Jahren 2009 bis 2013. Sie war 2003 bis 2009 Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und wirkte dort im Ausschuss für Recht und Menschenrechte mit. Im Jahr 2018 wurde sie vom damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet in das Amt der ersten Antisemitismusbeauftragten des Landes berufen. Um absolut unabhängig zu sein, übt sie dieses Amt ehrenamtlich aus. Sie ist Autorin zahlreicher Hörenswert demnächst auch ihr Beitrag im Podcast der ZEIT „Alles gesagt“.
Demokratie braucht Streit und Klarheit
Norbert Reichel: Anfang Februar 2024 erleben wir zahlreiche Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und AfD, ausgelöst durch Veröffentlichungen des Investigationsnetzwerks Correctiv über ein Treffen, in dem die „Remigration“ von Menschen diskutiert und geplant wurde, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, aus dem einzigen Grund, dass sie aus Sicht der Teilnehmer nicht deutsch genug wären. Fast jeden Tag lesen wir in Zeitungen weitere Informationen zur Verbindung von AfD und ausgewiesenen Rechtsextremisten, zur Frage, was „faschistisch“, was „nationalsozialistisch“ bedeute. Die Demonstrationen gegen die AfD finden in allen Landesteilen statt, in großen und in kleinen Städten und Gemeinden, in Ost und West. Wir erleben begleitend eine sich intensivierende Debatte über den Schutz der Verfassungsgerichte in Bund und Ländern, über die Frage eines Verbots der AfD oder der Aberkennung von Grundrechten nach Artikel 18 Grundgesetz, insbesondere für den Vorsitzenden der AfD in Thüringen. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass jetzt doch Teile der Zivilgesellschaft aufgewacht sind, dass für viele jetzt viel mehr sichtbar geworden ist, dass die AfD nicht irgendeine Partei ist, die man aus Protest einfach mal wählt, sondern dass es in weiten Teilen der AfD Auffassungen gibt, die nicht mit unserer Verfassung vereinbar sind. Der Verfassungsschutz sagt, dass drei Landesverbände und die Jugendorganisation der AfD „gesichert rechtsextremistisch“ sind. Die Ansage selbst hat für sich noch nicht zu Protesten der Bürgerinnen und Bürger geführt. Aber durch das von Correctiv, einer Nicht-Regierungsorganisation, in der viele Journalisten arbeiten, aufgedeckte Treffen im Dunklen hat das Thema eine andere Wahrnehmbarkeit gefunden, mehr Aufregung, mehr Engagement. Das unterstütze ich. Wichtig ist, auch die Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die sagt, denen da oben müssten sie es mal zeigen, die wüssten gar nicht, wie es ihnen gehe. Dort nimmt jeder ja gerne in Anspruch, das Volk zu sein, und behauptet, die Regierung regiere am Volk vorbei. Ich sehe noch nicht, dass wir eine grundsätzliche Wende hätten. Aber eine aufgewachte Zivilgesellschaft, das ist erst einmal gut.
Was müsste für eine „grundsätzliche Wende“ geschehen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es müsste viel stärker die eigentliche Gefahr wahrgenommen werden, die von der AfD droht, von ihrer völkischen Ideologie, von ihrem Verständnis, wer zu unserer Gesellschaft, zu unserer deutschen Gesellschaft dazugehöre und wer nicht, und dass die AfD dies definiere. Das ist keine neue Ideologie. Wir haben das bei der AfD immer schon herausgehört, auch in einzelnen Äußerungen. Diese Ideologie knüpft an die völkische Ideologie der Nationalsozialisten an. Noch nicht ausreichend erkannt ist meines Erachtens die damit verbundene Gefahr, das Gift, das damit in breite Teile der Bevölkerung eingebracht wird. Deshalb reicht es nicht, wenn wir mit Vehemenz und tollen Plakaten sagen, wir wollen keine Nazis. Es ist auch ein Auftrag an Regierende, zu aller erst eine Politik zu machen, die die unterschiedlichen Interessen ausgleicht. Das gehört zu einer Demokratie, das ist auch der Grund, warum Churchill sagte, die Demokratie sei „die schlechteste aller Staatsformen, abgesehen von allen anderen“. Dieses Aushandeln, diese Suche nach Kompromissen, die Aufnahme unterschiedlicher Interessen, dabei nicht nur ein Interesse zu berücksichtigen, dieser Prozess des Aushandelns muss anders vermittelt werden als das zurzeit geschieht und nicht in der Form der Selbstdarstellung Einzelner.
Das ist meines Erachtens auch eine Frage der Darstellung in den Medien. Diese konzentrieren sich gerne auf bestimmte Politiker, die sie gegenüber anderen hervorheben. Außerdem scheint mir eine Art von Harmoniebedürfnis zu bestehen. Wenn sich Parteien oder auch Teile von Parteien intern streiten, wird das als Problem markiert, obwohl Streit untrennbar zur Demokratie gehört. Ob der Stil, in dem manche ihren Streit austragen, immer angemessen ist, ist eine andere Frage.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Streit gehört zur Demokratie. Gäbe es ihn nicht, hätten wir Friedhofsruhe. Dann könnten Parteien, die eine Mehrheit haben, machen was sie wollen, Diskurs um die besten Lösungen fände nicht mehr statt. Natürlich muss das sein. Aber was in meinen Augen nicht sein muss, ist, dass man als Regierung, egal, ob man aus zwei oder drei Parteien besteht, noch keinen abgeschlossenen Vorschlag hat, den man mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutieren könnte, aber dennoch unabgestimmt in die Öffentlichkeit geht. So entsteht die Wahrnehmung, die wissen ja selbst nicht richtig, was sie wollen, die stehen ja gar nicht hinter einem Vorschlag, den sie vielleicht sogar schon im Kabinett beschlossen haben, den sie dann im Bundestag, in Expertenanhörungen, auch in die breiten Zivilbevölkerung hinein, über Parteien und Initiativen, erörtern könnten. Wenn da schon Unsicherheit besteht, worüber reden wir dann? Gibt es überhaupt etwas, auf das wir uns verlassen können? Oder sind das zufällig zusammengetragene Meinungen, und sobald der erste sagt, das passt mir nicht, geht alles zurück auf Null?
Das Problem liegt darin, dass Bürgerinnen und Bürger keine ordentliche Grundlage bekommen, um ihre Anliegen einzubringen. Der gesamte Prozess, über den es zu Vorschlägen und Beschlüssen der Regierungen kommt, ist in meinen Augen zurzeit schlecht.
Da reagieren aus meiner Sicht alle demokratischen Parteien, auch die Oppositionsparteien, zurzeit nicht gerade geschickt.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, aber der Ball liegt zuerst einmal bei den Regierenden, weil man eine Mehrheit im Parlament hat und damit auch Gesetze mit Mehrheit beschließen kann. Das ist der Vorteil von Regierungen. Opposition kann die Finger in die Wunden legen. Aber auf alle Fälle ist es gut und richtig, wenn man Dinge mit der Opposition gemeinsam angeht, gerade in wirklich schwierigen Fragen, zum Beispiel in Migrationsfragen, in Fragen der Verteidigungspolitik. Ich sehe da immer das gesamte demokratische Spektrum in der Verantwortung, ich sehe nicht, wie man das mit der AfD verhandeln könnte. Aber natürlich mit der demokratischen Opposition. Es ist richtig, dass man den Austausch pflegt.
Eine wichtige Frage, die Regierung und demokratische Opposition miteinander so früh wie möglich erörtern sollten, ist zum Beispiel die nach der Absicherung des Verfassungsgerichts. Das Gericht ist auch für Bürgerinnen und Bürger der letzte Ort, an den man sich bei Verletzung ihrer Grundrechte wenden kann. Gibt es eine Gefahr der Blockade, wie wir das in anderen Ländern erlebt haben, zuletzt in Polen? Ist es erforderlich, dass wir das Verfassungsgericht im Grundgesetz besser verankern? Für eine Grundgesetzänderung brauchen wir eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Da muss man von Anfang an gemeinsam diskutieren und darf nicht irgendwann etwas vorlegen, nach dem Motto, jetzt macht mal mit, es geht ja ums große Ganze.
Opposition hat eine wichtige Rolle, aber sie darf nicht nur destruktiv sein, sie muss auch Alternativvorschläge einbringen.
Das Bundesverfassungsgericht
In diesem Kontext geht es um die Wehrhaftigkeit der Demokratie. Im Englischen klingt es mit dem Begriff der „militant democracy“ etwas martialischer als im Deutschen. Vielleicht gar nicht mal so falsch. Es geht ja nicht darum, sich mal gegen etwas zu verwehren, sondern um scharfe Instrumente, mit denen Grundrechte geschützt werden sollen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Das Bundesverfassungsgericht nahm im Jahr 1951 seine Arbeit auf. Es hat sich seit dieser Zeit zu einer Institution entwickelt, die die Bürgerinnen und Bürger schätzen, in das sie das größte Vertrauen haben, in Umfragen zwischen etwa 70 und 80 Prozent. Das heißt nicht, dass alle Bürgerinnen und Bürger mit dem Gericht zu tun haben. Aber das Gericht hat in hochkontroversen Debatten mit seinen akribisch begründeten und sehr sorgfältig erstellten Entscheidungen immer wieder für Stabilität gesorgt. Ich kann bei all meiner Wert- und Hochschätzung nicht genug Worte finden. Das ist bei den Bürgerinnen und Bürgern auch so angekommen. Sie sehen es nicht als ein abgehobenes Gericht, sondern als eine Institution, die das Leben in unserer Republik in den letzten 75 Jahren mitgeprägt hat.
Die Frage lautet: Ist es im Sinne einer funktionierenden Gewaltenteilung, einer wehrhaften Demokratie auch gegen Angriffe ausreichend geschützt? Wir kennen die Gefahr aus anderen europäischen Staaten, beispielsweise der fürchterlichen Regierungszeit der PiS in Polen, die die Gerichtsbarkeit, einschließlich des Verfassungsgerichtes – um es mal ganz vulgär zu sagen – geschreddert hat, mit ganz vielen Maßnahmen, die erst einmal harmlos daherkamen, aber letztlich dazu gedacht waren, die Politik der PiS widerstandslos abzusegnen. Das haben Vertreter der PiS auch deutlich so gesagt. Ein solches Vorgehen muss verhindert werden. Das ist der Kernpunkt.
Das Verfassungsgericht kann mit einfacher Mehrheit nicht abgeschafft werden. Es ist in Artikel 93 Grundgesetz und in Artikel 94 Grundgesetz verankert. Alles Weitere ist in einem Bundesgesetz geregelt: die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter, die Amtszeit von zwölf Jahren, die nicht verlängert werden kann, damit niemand im Hinterkopf eine Entscheidung von einer möglichen Wiederwahl abhängig macht. Dieses Bundesgesetz kann mit einfacher Mehrheit geändert werden, das Grundgesetz nur mit Zweidrittelmehrheit.
Wehrhafte Demokratie bedeutet, dass bestimmte Dinge Bestand haben, auch gegen massiven Druck und gegen massive Angriffe. Es gibt die Ewigkeitsgarantie für die Grundrechte der Artikel 1 bis 20 Grundgesetz. Diese dürfen überhaupt nicht geändert werden, auch nicht mit Zweidrittelmehrheit.
Zur wehrhaften Demokratie gehören starke Institutionen, das Verfassungsgericht und die unabhängige Justiz. Deshalb befürworte ich eine Debatte darüber, welche Dinge so wichtig sind, dass sie im Grundgesetz aufgenommen werden sollen. Auch zwei ehemalige Verfassungsrichter haben ihre Vorschläge eingebracht. Es geht nicht um die Frage, wen ich möglicherweise mit welcher Regelung wie schädigen oder beeinträchtigen könnte. Es geht um eine grundlegende Säule unseres Systems, Deshalb finde ich wichtig, dass das Vorhaben aufgegriffen wird. Das sollte sehr sorgfältig geschehen, auch mit Stellungnahme des Verfassungsgerichtes, eben nicht in einem abgeschlossenen Hinterzimmer. Beschlossen werden muss dann mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag.
Ewigkeitscharakter hat auch die Gliederung der Bundesrepublik Deutschland in Bund und Länder. Wir haben auch in den Ländern Verfassungsgerichte. Müsste dort nicht ebenso gehandelt werden?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die Verfassungsgerichte in den Ländern sind unterschiedlich ausgerichtet. Sie hängen oft an einem Oberlandesgericht, tagen nicht regelmäßig, sondern werden einberufen, wenn es ein Verfahren gibt. Die meisten Verfassungsrichter haben auch ehrenamtliche Richterinnen und Richter. Diese werden vom Parlament gewählt, darin ist jede im Landtag vertretene Partei vertreten. Das muss kein Abgeordneter sein, das bietet sich auch nicht unbedingt an. Ich kenne das aus Bayern. Dort war ich in der letzten Legislaturperiode ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht. Auch die AfD ist seit ihrer Präsenz im Landtag dort vertreten.
Auch in den Ländern muss darüber nachgedacht werden, ob und wie in den Landesverfassungen eine Festigung des Verfassungsgerichtes vorgenommen werden sollte. Diese Debatte ist noch gar nicht so richtig angelaufen. Es gibt Überlegungen, auch im Verfassungsblog, wie man auch in den Ländern gegen Verfassungsfeinde, gegen Demokratiefeinde, die einen parlamentarischen Mantel umgehängt haben, vorgegangen werden kann. Ich halte diese Debatte für notwendig.
Wir hatten schon einmal einen konkreten Punkt: In einem östlichen Bundesland sollte ein Richter nach Ende seines Abgeordnetenmandats für die AfD und seiner damit verbundenen Beurlaubung in den Richterdienst zurückkehren. Es war nicht so einfach, ihn aus dem Richterdienst herauszuhalten. Er hatte sehr stramme Positionen als Abgeordneter, die allerdings wegen der Indemnität und der Unabhängigkeit des Abgeordnetenmandats nicht berücksichtigt werden dürfen. Aber er hatte seine Haltung auch anderswo und regelmäßig geäußert. Es gelang schließlich, ihn aus dem Dienst herauszuhalten. Auch deshalb wurde diskutiert, wie man dieses Verfahren verbessern könnte.
Die Auswahl der Richterinnen und Richter
Damit sind wir bei dem wesentlichen Punkt der Auswahl und Benennung der Richterinnen und Richter.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist einer der entscheidenden Punkte.
Ich darf auf das schwierige Beispiel der USA verweisen. Die Richterinnen und Richter des Supreme Court sind auf Lebenszeit benannt. Theoretisch und etwas zugespitzt formuliert wäre denkbar, dass irgendwann neun Hundertjährige entscheiden.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Theoretisch. Ich bewundere ja Ruth Bader-Ginsburg, eine ganz tolle Frau, die starb, als Trump noch ihre Nachfolge benennen konnte.
Das tat er dann auch und setzte es in Senat und Kongress mit den dortigen Mehrheiten durch, im Gegensatz zu Obama, der am Ende seiner Amtszeit darauf verzichten musste, eine frei gewordene Position zu besetzen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Anstand kennt Trump ja nun nicht.
Ich bin immer noch davon überzeugt, dass Trump nicht gewählt wird.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich auch! Wir sollten auch nicht immer von der Apokalypse Trump reden, sondern darüber, wie wir demokratische Kräfte stärken könnten, damit er nicht gewählt wird.
Ein wichtiger kleiner Exkurs. Aber welche Schwachstellen haben wir in Deutschland bei der Benennung der Richterinnen und Richter?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Auch bei dieser Frage geht es zurzeit um das Verfassungsgericht. Die Wahl erfolgte früher in den Richterwahlausschüssen des Parlaments, die nach der Stärke der Fraktionen besetzt sind, unter Mitwirkung von Vertretern des Bundesrates. Dort gab es immer die Debatte, ob die Auswahl der Richterinnen und Richter für das Verfassungsgericht nicht zu parteipolitisch geprägt sei. Als Bundesjustizministerin hatte ich dort übrigens kein Stimmrecht, sondern nur eine dienende Aufgabe. Ich musste die Akten zur Verfügung stellen, dafür sorgen, dass die Gerichte ihre Beurteilungen schreiben, war sozusagen Briefträger. Einen direkten Einfluss hatte ich nicht. Beliebt war man dort nicht, denn der Ausschuss war der Meinung, dass sich Ministerinnen und Minister fernhalten sollten. Ich gehörte auch als Abgeordnete in der Opposition einmal einem solchen Ausschuss an. Dort wird verhandelt, es gibt Vorschläge, Beurteilungen werden eingeholt und im Gespräch bewertet. 2015 hat man eine wichtige Änderung vorgenommen. Die Richter werden nicht mehr in den Ausschüssen, sondern jetzt im Bundestag gewählt. Ich finde das gut.
In anderen Ländern gibt es die Vorstellung einer High Commission, in Großbritannien einer Royal Commission. Dann zu glauben, da gäbe es keine politische Einflussnahme, ist naiv. Es gibt auch die Vorstellung, die Richterinnen und Richter sollten in Eigenverantwortung auswählen. Darüber haben wir auch im Kreis der Justizminister diskutiert. Es gab meiner Erinnerung nach nur einmal ein Land, das dem positiv gegenüberstand. Aber man muss natürlich auch sehen, was es heißt, in einem System zu arbeiten, in dem man vielleicht etwas werden möchte, und dann bei der Auswahl von den Kolleginnen und Kollegen abhängig zu sein. Das kann Vor- und Nachteile haben.
Eines hat sich bei den bisher gewählten Verfassungsrichterinnen und -richtern gezeigt. Sie sind der Verfassung verpflichtet, nicht parteipolitischen Präferenzen. Da neigte mal der eine etwas mehr zur Betonung der Grundrechte, der andere mehr zur Betonung der Sicherheit. Aber das gibt nicht immer den Ausschlag für die Grundsatzentscheidung. Ich kann daher das Verfahren zur Auswahl nicht kritisieren.
Diskutiert wird die Frage, ob für die Auswahl eine absolute Mehrheit oder eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist der Punkt. Natürlich kann eine Sperrminorität, das eine Drittel, viel bewirken – blockieren. Ewige Verfahren! Jemand, der ausscheidet, muss dann, wenn niemand gewählt wird, länger im Amt verbleiben. Das Gericht soll aber nicht in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt werden. Das ist Gegenstand der aktuellen Diskussion, auch, was geschieht, wenn erkennbar ist, dass nach mehreren Wahlgängen blockiert wird, sodass möglicherweise ein anderes Gremium entscheiden sollte. Manche denken, vielleicht der Bundesrat? Darüber muss man gründlich nachdenken, aber man braucht auf jeden Fall einen Weg, aus einer Blockade wieder herauszukommen. Wenn dies nicht möglich wäre, hätte man sich mit der Zwei-Drittel-Mehrheit geschadet.
Ich denke, wir sollten uns vor der AfD nicht verhalten wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Eine absolute Mehrheit für die AfD sehe ich nicht, auch nicht, dass sie sich mit anderen verfassungsfeindlichen Parteien zusammentun könnte, die es zurzeit nirgendwo in den Parlamenten gibt und auch – so wage ich zu prognostizieren – nicht geben wird. Das Erreichen einer Sperrminorität ist nach derzeitigen Umfragen in einigen östlichen Bundesländern jedoch denkbar. Ich glaube allerdings auch, dass sich in Sachsen die CDU noch durchsetzen wird, auch weil der dortige Ministerpräsident immer einen sehr guten Wahlkampf gemacht hat und das auch diesmal tun wird. In Thüringen denke ich, dass der Ministerpräsident ebenfalls viele Stimmen ziehen wird, nicht so sehr wie sein Kollege in Sachsen, aber die Frage der Sperrminorität könnte sich durchaus stellen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Thüringen steht doch super da. Die Regierung hat eine gute Bilanz, Arbeitsplätze, Wirtschaft.
Sicherheit: Wie weit darf ein Staat gehen? Wo sind die Grenzen?
Ein weiterer Punkt der wehrhaften Demokratie ist die Frage nach Gesetzen, die es einer Regierung erleichtern sollen, gegen Verfassungsfeinde, gegen sogenannte „Gefährder“ vorzugehen, auch präventiv. Nicht alle Wünsche sind auch verfassungskonform. In den späten 1960er Jahren hatten wir die Debatte um die „Notstandsgesetze“. Sie haben selbst erfolgreich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen den sogenannten „Großen Lauschangriff“ erwirkt, nicht der einzige Erfolg, den Sie gemeinsam mit Gerhart R. Baum und Burkhard Hirsch sel.A. erreichten. Wie weit darf ein Staat gehen? Wo sind die Grenzen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist eine Frage, die in der Politik im Hinblick auf die innere Sicherheit immer diskutiert wird.
Was tun wir, wenn jemand nicht nur eine verfassungsfeindliche Haltung hat, sondern auch aktiv gegen die Verfassung agitiert? Wenn jemand nur eine Haltung hat, kann man nicht mit scharfen Instrumenten dagegen vorgehen. Das mag sich für manche so anhören, als hätte man den Ernst der Lage nicht erkannt. Aber eine Haltung zu haben reicht nicht aus. Wenn jemand sagt, man solle alle, die gegen ihn sind, köpfen oder aufhängen, kommen wir an die Grenze der Strafbarkeit. Aber zu denken, was soll ich in diesem „Scheiß-System“, „Demokratie ist doch das allerletzte“ – diese Meinung darf man haben. Entscheidend ist, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass mit handfesten Handlungen wie Anschlägen oder Entführungen agitiert werden soll. Wie kann ich als Staat erreichen, dass ich so viel weiß, dass ich rechtzeitig tätig werden kann? Daran wird seit einigen Jahrzehnten immer wieder gedreht. Zum Beispiel bei der Gesetzgebung zum Bundeskriminalamt, zu den Verfassungsschutzämtern oder zum Bundesnachrichtendienst.
Das Verfassungsgericht hat den Versuchen, immer weiter im Vorfeld zu ermitteln, immer wieder einen Riegel vorgeschoben. Es geht ja nicht darum, Zeitungsartikel auszuschneiden, einen ordentlichen Ordner anzulegen, das auf einem Computer zu speichern, damit es allen zugänglich ist. Es geht darum, wann nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden dürfen, Telefonüberwachung, Beobachtung, Observation und so weiter, vielleicht auch einLauschangriff, ein Abhören in Wohnungen. Das sind grundlegende Grundrechtsfragen. Ich bin im Januar 1996 deshalb als Bundesjustizministerin zurückgetreten. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes erfolgte acht Jahre später.
Wir hätten eine Entwicklung ins Negative erlebt, wenn nicht das Verfassungsgericht das Abhören in Wohnungen für unzulässig erklärt hätte. Das Verfassungsgericht hat aus den Grundrechten den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung entwickelt, der in einem bestimmten Umfang „unabwägbar“ ist. „Unabwägbar“: das heißt: auch nicht mit Sicherheitsinteressen „abwägbar“. Das ist eine Grundsatzentscheidung. Hier hat es die Linien gezogen. Immer wieder wird daran gearbeitet. Es gibt neue Bedrohungen, neue technische Möglichkeiten. Das sind Linien, denen wir uns immer wieder stellen müssen. Man muss immer wieder darüber nachdenken, aber die Grundsätze sollten nicht geändert werden. Und wenn, dann, muss das verfassungsfest sein.
Das hat auch die Nachrichtendienste betroffen. Auch beim Abhören aus dem Ausland entfaltet das Grundgesetz seine Wirkung, so hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die Politik hat das nicht immer so angenommen. Aber das Verfassungsgericht verteidigt hier die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, ohne die Sicherheit aus den Augen zu verlieren.
Manchmal wird das Verfassungsgericht auch ärgerlich. Nehmen Sie die jüngste Entscheidung vom 20. Dezember 2023 zum Bundeskriminalamt. Da geht es um Datenschutz, welche Daten verwendet werden dürfen, welche Anforderungen man stellt. Das ist keine Kleinigkeit. Es ging um den Begriff der „drohenden Gefahr“, den die Innenpolitiker immer gerne hätten, parteiübergreifend. Im Fall einer „drohenden Gefahr“ sollen Eingriffsbefugnisse anwendbar sein.. Das Bundesverfassungsgericht hat – ich sage es mal in meinen Worten – gesagt: Wir haben es euch jetzt schon fünf Mal gesagt, so wie ihr das wollt, geht es nicht! Es muss konkrete Anhaltspunkte über die Gefährdung des Staates und wesentlicher Teile des Staates gehen. Erst dann dürft ihr die Privatsphäre des Einzelnen betreffende Maßnahmen anwenden, natürlich kontrolliert, befristet und so weiter. Bei diesen Punkten hat das Bundesverfassungsgericht eine ganz entscheidende Rolle gespielt.
Wie steht das Bundesverfassungsgericht im europäischen Vergleich da? In Polen hat die neue Regierung massive Schwierigkeiten, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Weil sie es rechtsstaatlich machen will. Sie will ja nicht die PiS nachahmen. Vor dem Problem stehen rechtsstaatlich Handelnde. In Polen kommt noch hinzu, dass es einen Präsidenten gibt, der in meinen Augen ein unverantwortlicher Handlanger einer Partei ist, aber kein Präsident.
Andere Länder kennen ein so starkes Verfassungsgericht nicht, wie wir es in Deutschland haben. Es gibt in Deutschland ein Verfassungsgericht, das demokratisch beschlossene Gesetze für verfassungswidrig erklären kann. Großbritannien kennt das gar nicht, lehnt das massiv ab. Deshalb agitierten sie auch so stark gegen den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und vor dem Brexit auch gegen den Europäischen Gerichtshof. Das Parlament steht nach dieser Auffassung über allem.
Wir haben in Deutschland mit dem Grundgesetz eine wertegebundene Demokratie. Das Grundgesetz wäre nicht viel wert, wenn man es im Parlament einfach aushebeln könnte. Ich denke, wir sind ein Vorbild, wir sind ein Vorbild auch für viele Staaten, die uns nicht nachahmen. Es ist schon ein Renner. Schauen Sie sich mal Israel an, das ist ein ganz starkes Gericht. Israel hat keine Verfassung, nur Verfassungsgrundsätze, das ist nicht vergleichbar mit unserem Gericht, aber doch in seiner bisherigen Funktion stark. Deshalb wollte die Regierung es auch schwächen, um sich selbst zu stärken.
Nach dem Krieg wird es spätestens Neuwahlen geben und dann ist Netanjahu mit sehr hoher Sicherheit nicht mehr im Amt.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Dann ist hoffentlich auch die sogenannte Justizreform in Israel vom Tisch.
Soll man die AfD verbieten?
Zurzeit wird immer wieder gefordert, nach Art. 21 Grundgesetz die AfD vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen oder ihr zumindest – wie soeben bei der Nachfolgepartei der NPD (die sich jetzt „Die Heimat“ nennt) geschehen – die staatliche Finanzierung zu entziehen. Eine zweite Debatte bezieht sich auf die Forderung, Björn Höcke nach Artikel 18 Grundgesetz die Grundrechte und damit auch die Wählbarkeit zu entziehen. Wie bewerten Sie diese Instrumente?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich wiederhole was immer gesagt wird. Ein Parteiverbot kann nur das allerletzte Mittel sein. Es würde bedeuten, dass die Partei nicht mehr agitieren darf, sie keine Organisationsform mehr hat, dass das Vermögen beschlagnahmt wird. Dass in einer Demokratie eine Partei verboten wird, muss die Ausnahme sein. Das wäre sonst ein Instrument, Opposition zu unterdrücken.
So würde die AfD das auch anprangern.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Natürlich würde sie das tun. Sie bestreitet ja auch, verfassungsfeindlich zu sein. Das würde sich auch erst ändern, wenn sie vom Verfassungsgericht verboten würde. Das aber wäre ein sehr langer Weg. Deshalb ist ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz nur zwei Mal erfolgreich angewandt worden, gegen die Sozialistische Reichspartei, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, am 23. Oktober 1952, und gegen die KPD am 17. August 1956. Bei der NPD ist es versucht worden. Die NPD war nicht im Bundestag, sie war in einigen Landtagen, auch auf kommunaler Ebene vertreten. Daneben war auch die DVU zu berücksichtigen. Zwei Mal ist ein Verfahren gegen die NPD gescheitert. Beim ersten Mal ging es um die Frage der in der NPD tätigen V-Leute des Verfassungsschutzes. Man hat gar nicht mehr so richtig gesehen, wer da welchen Einfluss auf welche Entscheidung hatte. Beim zweiten Versuch wurde die Partei als in der Größe unbedeutend betrachtet. Geblieben ist die Entziehung der Finanzierung durch den im Jahr 2017 eingefügten Grundgesetzartikel 21 Abs. 3.
Man muss sehen, welche Anforderung an das Verbot einer Partei gestellt werden. Es reicht nicht aus, einige Punkte aus dem Parteiprogramm herauszufischen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen. Das AfD-Programm ist in vielen Punkten sehr schwammig formuliert. Die haben schon Leute, die beachten, worauf sich ein Verfassungsgericht bei einem Verbotsverfahren stützen könnte. Also braucht man mehr. Man braucht der Führung zurechenbare Äußerungen, die ein aktives Vorgehen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung manifestieren. Man hat natürlich Einzeläußerungen, die „völkische“ Gesinnung, den „Fliegenschiss“, die „Remigration“, die Höcke schon vor einigen Jahren gefordert hat und die jetzt nach der Correctiv-Recherche öffentlich diskutiert wird. Aber all das muss zusammengetragen werden. Das ist komplex und kompliziert. Ich will nicht sagen, dass das nicht geht. Der Verfassungsschutz hat sich schon geäußert, als er drei Landesverbände und den Jugendverband für „gesichert rechtsextrem“ erklärte. Im März 2024 wird das Oberverwaltungsgericht Münster in Bezug auf die gesamte Partei entscheiden. Ich denke, wenn man ein Verbot will, braucht man etwa zwei Jahre, um das Material zusammenzustellen. Bundesregierung, Bundestag oder Bundesrat oder alle gemeinsam müssen einen Antrag stellen. Das ist sehr aufwändig und mit vielen Unsicherheiten behaftet.
Ich war schon bei den NPD-Verfahren eher ablehnend oder zumindest skeptisch. Ich neige auch bei der AfD dazu, sich nicht auf diesen Weg zu begeben. Das hört sich nach einer Lösung an, aber das ist weit gefehlt. Wenn die Partei verboten wäre, wäre das natürlich eine Schwächung, aber die Gesinnung in den Köpfen dürfte verfestigter denn je sein. Ist man erfolgreich, würden sie sich als „Märtyrer“ inszenieren. Und dann bilden sie eine neue Partei. Dann geht es von vorne los. Ich weiß auch nicht, was in der Zeit in den sozialen Medien, die die AfD aktiver nutzt als alle anderen Parteien, an Stimmung erzeugt wird. Scheitert ein Verfahren, sehen sie das noch als TÜV-Siegel der Demokratie. Das ist mit so vielen Unsicherheiten behaftet, dass ich als abwägende Juristin eher skeptisch bin.
Jetzt haben wir erst einmal richtigerweise die Demonstrationen. Ich war gerade bei mir zu Hause vor Ort, eine kleine Gemeinde, auf einer Demonstration. Etwa 1.000 Leute sind dort mit tollen selbstgemalten Plakaten zusammengekommen. Es treibt die Bürger um, sie wollen keine Rechtsextremen, sie wollen nicht, dass Menschen behandelt werden, als wären sie keine Menschen. Aber wer weiß, was durch ein Verbotsverfahren noch an Polarisierung oder Eskalation erfolgt.
Aber man ist nicht wehrlos. Die Jugendorganisation der Partei darf jetzt mit Verfassungsschutzinstrumenten überwacht werden. Man wird auch gegen einzelne Personen vorgehen können, die sich volksverhetzend verhalten oder entsprechende Zeichen mit Nähe zur NSDAP verwenden. Das verhehlen die ja auch noch nicht mal. Das ist eine große Herausforderung für die Sicherheitsbehörden, mit denen man eng zusammenarbeiten muss. Aber ich glaube nicht, das Problem würde sich mit einem Verbotsverfahren lösen.
Und Artikel 18 Grundgesetz? Die Idee kam meines Wissens von der ehemaligen Verfassungsrichterin Gertrud Lübbe-Wolff, Heribert Prantl hat sie – so sage ich es mal – mit seiner journalistischen Auctoritas popularisiert.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Er hat früher auch ein Parteiverbotsverfahren eher abgelehnt, jetzt aber seine Meinung geändert. Er sagt, Demokratiefeinde muss man bekämpfen. Da bin ich bei ihm, aber man bekämpft sie nicht, wenn man sie am Ende noch stärkt. Das ist ein Abwägungsprozess und darüber muss man diskutieren.
Artikel 18 hatte niemand im Blick. Gertrud Lübbe-Wolff hat ihn durch mehrere Aufsätze und Äußerungen in die Öffentlichkeit gebracht. Man hat Artikel 18 jetzt gezogen, weil man damit auch das Wahlrecht, die Wählbarkeit, absprechen kann. Damit jemand seine Grundrechte verwirkt, muss das Verfassungsgericht – das ist die Anforderung – feststellen, dass er seine Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung „missbraucht“. Viel Erfahrungen hat man damit bisher nicht. Es ist eine schwierige Frage, wann jemand Grundrechte „missbraucht“. Wenn die Verwirkung vom Bundesverfassungsgericht festgestellt wird, kann gegen den Betreffenden auch strafrechtlich vorgegangen werden. Im strafrechtsfreien Raum kann er natürlich immer noch seine Dinge verkünden.
Es gibt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2019. Das Gutachten nennt die vier Verfahren, die beiden ersten aus den Jahren 1960 und 1974, die beiden letzten aus dem Jahr 1996. Sie scheiterten alle.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Diese Debatte hat auch etwas mit den im September anstehenden Landtagswahlen zu tun. Wenn jemand meint, man könne das Instrument jetzt wegen der anstehenden Wahl in Thüringen gegen Herrn Höcke anwenden, ist das eine trügerische Hoffnung. Denn niemals wird es eine Entscheidung bis zum Wahldatum geben. Das Wahldatum ist für die Verfassungsrichter irrelevant. Politisch würde von der AfD verbreitet, dass einem unliebsamen Politiker das Wahlrecht genommen werden solle. Das könnte eine Debatte werden wie bei der Impfpflicht. Ich will keine Parallelen ziehen, aber das hat ein ungeheures Verhetzungspotenzial.
Sie merken meine Zurückhaltung bei der Anwendung von Artikel 18. Man muss sich sehr sorgfältig mit Verfassungsrechtsexperten auseinandersetzen. Es ist wichtig, in der Öffentlichkeit Pros und Cons zu erörtern, es nicht als etwas Feststehendes zu sehen. Die 1,8 Millionen Unterschriften zeigen schon, dass sehr viele Menschen die völkische Einstellung, die Verachtung gegenüber Menschen, die nach Höckes Ansichten nicht die Anfordernisse an einen „guten Deutschen“ erfüllen, ablehnen. Von daher verstehe ich das Anliegen und finde es bemerkenswert, dass sich so viele so geäußert haben. Es geschieht zum Teil aber auch aus einer Stimmung heraus.
Im schon genannten Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste heißt es: „Ein Grund für die praktische Bedeutungslosigkeit der Bestimmung wird vor allem darin gesehen, dass die Verfassungsschutzbestimmungen des einfachen Rechts, namentlich des Strafrechts, die Zwecke des Art. 18 GG wirksamer erreichten, als das ohnehin komplizierte Verwirkungsverfahren.“
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben im Strafrecht das Verbot, bestimmte Symbole, Zeichen zu verwenden, das Verbot der Verherrlichung von Straftaten, der Volksverhetzung. Wir haben ausreichende Instrumentarien, die wir anwenden müssen und können.
Siehe das entschiedene Vorgehen gegen die an dem geplanten Putsch der sogenannten „Reichsbürger“ beteiligten Personen, darunter auch eine ehemalige Bundestagsabgeordnete der AfD, die sich nach wie vor in Untersuchungshaft befindet. In der Öffentlichkeit werden immer zwei Fragen im Hinblick auf das Strafrecht diskutiert, einmal die Frage der konsequenten Anwendung, zum zweiten die Frage der Dauer der Verfahren. Die immer wieder erhobene Forderung, Strafen zu verschärfen, lasse ich jetzt einmal unberücksichtigt, weil meines Erachtens auch wohlfeil. Die präventive Wirkung von Strafverschärfungen halte ich für vernachlässigbar.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Strafrecht soll durch die Androhung von Strafen präventiv abschreckend wirken. Diese Wirkung ist jedoch nach vielerlei Studien überschaubar. Eine abschreckende Wirkung hat eine rechtskräftige Verurteilung. Wenn jemand einige Zeit im Gefängnis verbracht hat, wird er sich das drei Mal überlegen, ob er das noch einmal tut. Das wäre generalpräventiv durch Repression.
Die Gerichte müssen natürlich auch durch ihre personelle Ausstattung in der Lage sein, das Strafrecht zügig anzuwenden. Es geht um zügige Verfahren. Man muss aber unterscheiden: Es geht nicht um schnellen Prozess. Das haben die Nazis so gemacht: Festgenommen, verurteilt, aufgehängt, in 24 Stunden. Wir haben keinen schnellen Prozess, sondern ein zügiges Verfahren, unter Beteiligung des Angeklagten, anwaltlicher Vertretung, der Opfer, nach rechtsstaatlichen Kriterien. Eine Unschuldsvermutung ist auch nicht etwas nice to have. Wenn ich natürlich offenkundige Beweise habe, lässt sich ein Verfahren sehr zügig durchführen. In dem genannten Fall wird es auf jeden Fall eine mündliche Verhandlung geben. Das muss nicht zwei oder drei Jahre dauern. Das hat aber auch etwas damit zu tun, wie belastet Gerichte sind. Die Zuteilung kann nicht bezogen auf Vorlieben einzelner Richter erfolgen, dazu gibt es Geschäftsverteilungspläne.
Antisemitismus an Hochschulen
Eine Debatte um die Frage, ob das Strafrecht konsequent genug angewendet wird, haben wir seit einiger Zeit beim Kampf gegen Antisemitismus. Ich denke beispielsweise an ein Urteil aus Wuppertal, in dem zwei Jugendlichen bescheinigt wurde, sie hätten die Wuppertaler Synagoge nicht aus antisemitischen Gründen angezündet, sondern nur, weil sie unter der Lage der Bevölkerung in Gaza und Westjordanland litten.
Aber es ist ja nicht nur das. Wir haben jetzt in Berlin den Fall von Lahav Shapira, eines jüdischen Studenten, der zusammengeschlagen und schwer verletzt worden ist. Es ist nicht klar, ob der Täter auch ein Student war. Es wurde angenommen, der Zentralrat der Juden und andere forderten seine Exmatrikulation. Das ist nicht umsetzbar, weil der Berliner Senat diese Möglichkeit 2019 abgeschafft hat. Aber strafrechtlich ist die Sache meines Erachtens eindeutig. Ich weiß nicht, ob nach § 224 oder § 226 Strafgesetzbuch angeklagt werden wird, ob es sich um „gefährliche“ oder „schwere Körperverletzung“ handeln soll, beziehungsweise welche weiteren Straftatbestände herangezogen werden können. Die möglichen Strafen sind so oder so erheblich, mit mehreren Jahren Haft muss der Beschuldigte wohl schon rechnen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: In Bezug auf Antisemitismus gibt es zurzeit in mehreren Bundesländern, in Berlin, in Bayern, auch in Nordrhein-Westfalen, dort mit meiner Initiative als Antisemitismusbeauftragte, auch innerhalb der Staatsanwaltschaften Antisemitismusbeauftragte, die darauf zu achten haben, ob es einen antisemitischen Bezug gibt. Wenn dies der Fall ist, soll nicht mehr von einer Einstellungsmöglichkeit Gebrauch gemacht werden. Bei Äußerungsdelikten wurde dies bisher häufig genutzt, bei schwerer Körperverletzung natürlich nicht. Taten mit antisemitischer Motivation sollen mit allem Nachdruck verfolgt werden.
Die Frage in dem genannten Fall lautet natürlich auch, ob es einen Streit gegeben hat. Das behaupten Täter gerne, dass sie provoziert worden wären, und machen so das Opfer zum Täter. Aber das ist schnell aufklärbar, denn hier waren mehrere Personen beteiligt. Beweisaufnahme, Verdacht ist da, das lässt sich zügig durchführen.
Es ist aber auch die Frage im Raum: Was geschieht, wenn die sich an der Uni begegnen? Das ist dem Opfer nicht zumutbar. Der Täter hat einen festen Wohnsitz, wird nicht in Untersuchungshaft kommen, es sei denn, es wird eine Wiederholungsgefahr gesehen. Oder was ist bei einer Bewährungsstrafe? Auch dann ist eine Wiederbegegnung wahrscheinlich, an der Uni ohnehin. Es geht bei diesem Punkt eben nicht nur um ein zügiges Strafverfahren.
Der Regierende Bürgermeister möchte die Möglichkeit der Exmatrikulation wieder einführen. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Zurzeit ist es nur möglich, ein drei Monate währendes Hausverbot zu verhängen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Für ein Hausverbot oder eine Exmatrikulation muss der Hochschulbetrieb erheblich gestört werden oder es muss eine entsprechende Gefahr vorliegen. Die liegt natürlich so lange vor, wie der Täter sich in seinem Studium weiterhin aktivistisch betätigt. Dann sind die Hochschulen gefordert, über Sicherheitsdienste nachzudenken. Andererseits ist es schwierig, einem Studenten für die Zeit seines Studiums jemanden von einem Sicherheitsdienst zur Seite zu stellen.
Oder allen jüdischen Studierenden Personenschutz zu geben. Abgesehen davon, dass das nicht gerade wünschenswert wäre. Es ist schon problematisch genug, dass wir jüdische Einrichtungen so massiv schützen müssen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich führe zurzeit viele Gespräche mit jüdischen Studierendenverbänden in Nordrhein-Westfalen. Jüdinnen und Juden werden immer wieder in den sozialen Medien als jüdisch „markiert“. Das Berliner Opfer wurde ebenso schon zuvor in den sozialen Medien als Jude „markiert“. Insofern ist der Hochschulbetrieb schon betroffen. In Nordrhein-Westfalen kann nach dem Hochschulgesetz ein Student auch exmatrikuliert werden.
Wir hatten auch den Fall vom 13. November 2023 an der Berliner Universität für Künste. Nach den Vorfällen gab es einen Offenen Brief der Lehrenden gegen Antisemitismus. Allerdings gab es kaum eine Unterschrift aus dem Fachbereich für Bildende Kunst. Die Vorfälle fanden ihren Weg bis in mehrere Schweizer Zeitungen, darunter die NZZ. Ich kann ferner von dem Fall einer jüdischen Hochschuldozentin berichten, die die Hochschulleitung um Hilfe bat, der aber beschieden wurde, sie könnte ihre Veranstaltung doch in Zukunft alle online machen. Nicht nur Studierende werden angegriffen.
Ich kenne viele Linke, die darunter leiden, dass sich antikolonialistische Linke weigern, sich von dem Hamas-Massaker zu distanzieren, und diejenigen, die das tun, als „Rassisten“ beschimpfen. Die Berliner Journalistin Anastasia Tikhomirova, die sich selbst als Linke versteht, nannte das in einem von mir dokumentierten Gespräch treffend „Selektiver Humanismus“. Das, was FU-Präsident Günter Ziegler im Tagesspiegel (Paywall) zu dem Vorfall an seiner Hochschule sagte, war wenig hilfreich, vor allem, als er abstritt, „dass an der FU aus den linken postkolonialen Diskursen heraus Antisemitismus gegen Israel und das jüdische Volk propagiert wird.“ Er sprach von „legitimer Israelkritik“, die als „intellektueller Diskurs“ geführt werden solle. Zu Prävention und Sicherheitsgarantien für jüdische Studierende sagte er nichts. An der Humboldt-Universität in Berlin wurde am Abend des 8. Februar 2024 eine Veranstaltung mit der israelischen Verfassungsrichterin Daphne Barak-Erez massiv gestört.
Alles im Namen eines sogenannten „Antikolonialismus“?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Manche tragen den Begriff „Antikolonialismus“ wie eine Monstranz vor sich her. Ich fand sehr erfrischend, dass Armin Nassehi im Spiegel (Paywall) dargelegt hat, dass in Teilen des akademischen Milieus die Gründe für Antisemitismus tiefer lägen als die allzu wohlfeile These „der Postkolonianismus trage die Verantwortung“. Auch das, was teilweise in Studierendengremien an Universitäten zurzeit stattfindet, ist für jüdische Studierende unerträglich. Verbale Zuspitzungen, Beschimpfungen, pro palästinensische Propaganda und Unverständnis für die Anliegen der jüdischen StudierendenDamit muss sich eine Universität sehr intensiv befassen.
Die Universität Münster hat jetzt einen ehrenamtlichen Antisemitismusbeauftragten. Oft wissen jüdische Studierende nicht, wohin sie sich in der Universität wenden können. Antidiskriminierungsstellen haben in Bezug auf die Besonderheiten des Antisemitismus in der Regel – ich will das nicht verallgemeinern – keine speziellen Kenntnisse. Ich habe mich mit dem Antisemitismusbeauftragten Ludger Hiepel kürzlich getroffen. Er hat keine Ordnungsfunktionen, aber er will und kann dafür eintreten, den Nahostkonflikt an der Universität zu thematisieren. Er sagte, wir brauchen auch die Fähigkeit der Lehrkräfte, mit dem Thema umzugehen. Es gibt Überlegungen über Workshops, über die Möglichkeit, Wissen und Diskurs zu vermitteln. Bei vielen Studierenden muss man wohl auch erst einmal Diskursbereitschaft herstellen. Auf der einen Seite wird alles sehr schnell emotionalisiert, ganz radikal, auf der anderen Seite gibt es ein Sich-Zurückziehen, bloß nicht auffallen. Das sind nicht gerade die Voraussetzungen für einen Diskurs.
Streitkultur ist wichtig, Niederbrüllen ist aber nur Streit, ohne Kultur.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Der UdK-Präsident wurde beim ersten Mal niedergeschrien, beim zweiten Mal konnte er nicht viel sagen, aber es war nicht mehr so eine radikale Stimmung beim dritten Mal wurde zumindest gesprochen. Das ist schon harter Tobak. Ich bewundere, dass er sich nicht abschrecken ließ. Die Leute, mit denen er da zu tun hatte, wollten ja gar keinen Diskurs. Das hat ihn sehr getroffen, wie ich in einem Zeitungsartikel las.
Es ist meines Erachtens wichtig, dass sich die Hochschulrektorenkonferenz mit der Frage befasst, Lösungen präsentiert und den Betroffenen zeigt, dass sie wahrgenommen werden. Es kann ja nicht sein, dass irgendwann jüdische Studierende sagen, sie könnten an deutschen Hochschulen nicht mehr studieren, weil sie da nicht mehr sicher sind.
Neuland für die Demokratie – ein Projekt der Theodor-Heuss-Stiftung
Ich wage noch einmal den Bogen zur Eingangsfrage. Sehen Sie ein Ost-West-Gefälle in den Einstellungen zur Demokratie?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke schon, dass es unterschiedliche Auffassungen oder Entwicklungen gibt, bedingt durch unterschiedliche Lebensbiographien und Prägungen. Daher ist es umso wichtiger, dass wir Demokratie, Streitkultur friedlich auf den Straßen austragen. Wir müssen darüber reden, was die Demokratie von jedem einzelnen fordert. Sie fordert, dass wir alle uns einbringen und nicht, nur mal einer Wut Ausdruck zu geben. Auch ein bisschen reflektieren, auf ganz unterschiedlichen Niveaus. Man muss kein Wissenschaftler sein, um dies zu tun. Wir müssen Räume schaffen, sich zu äußern, sich einzubringen.
Zum Abschluss verweise ich daher auf meine Aktivität in der Theodor-Heuss-Haus Stiftung. Wir suchen unter dem Titel „Neulandsucher Ost-West“ gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung Projekte, die Diskursräume schaffen, Wurzelarbeit für die Demokratie machen. Das mit dem Label von Theodor Heuss, der seit 1949 viel für die Demokratie getan hat, er war sehr bürgernah, zum Anfassen. In seinem Geiste wollen wir daran anknüpfen, auch in den östlichen Bundesländern. Das ist ein kleiner Beitrag zu dem, was wir besprochen haben.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von “Demokratischer Salon”, mit freundlicher Genehmigung des Redakteurs und Autors.
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