Traumatisierte auf der Bühne und vor der Kamera

Einserseits treffen wir hier wieder auf die Seuche der “Presenter”-Reportage. Kein Wunder, ich fürchte, die wurde einst wahrscheinlich von Christoph Lütgert, dessen Eitelkeit schon im NRW-Landesbüro der dpa berüchtigt war, im NDR erfunden und begründet. Seit 2010 ist der schon in Rente – und die NDR-Leute werden immer noch genötigt, es so wie der zu machen. Aber immerhin: Kira Gantner und Zita Zengerling haben noch das Beste daraus gemacht.

Es geht um Gegen das Schweigen – Machtmissbrauch bei Theater und Film – Beleidigungen, Demütigungen, Gewalt, sexuelle Übergriffe – die Welt hinter Kamera und Kulissen kann für viele Theater- und Filmschaffende ein Albtraum sein. Anscheinend herrscht bei manchen Film- und Theater-Produktionen ein regelrechtes Klima der Angst. Denn einige Regisseure, aber auch bekannte Schauspieler missbrauchen offenbar ihre Macht und behandeln ihre Mitmenschen am Set oder auf der Bühne mutmaßlich mit Verachtung oder sogar missbräuchlich. Einzelfälle sind seit Jahren bekannt, auch unter #metoo. Aber sind es wirklich Einzelfälle? Oder können sich Regisseure und Schauspielende alles erlauben, weil das System es so ermöglicht? In ihrer dreijährigen Recherche haben die Autorinnen mit mehr als 200 Film- und Theaterschaffenden über die Probleme in ihrer Branche gesprochen. Wie viel Verantwortung tragen die mutmaßlichen Täter oder Täterinnen für Machtmissbrauch und wie viel Verantwortung liegt auch bei Geldgebern, Produktionsfirmen, Sendern, aber auch beim Publikum?”

2 Jahre verfügbar. Die Autorinnen haben mit sehr vielen Betroffenen gesprochen. Drei Jahre Arbeit. Respekt! Wir sehen nur kurze Gesprächsausschnitte im Film, aber mann*frau ahnt, dass davor und danach und hinter der Kamera viele, viele Stunden gesprochen worden sein muss. Ein bisschen ist dieses Filmstück Therapie, wie einige im Interview erklären. Österreich ist überrepäsentiert. Wird dort mehr öffentlich gesprochen, ist die Leidensgrenze weiter als woanders überschritten? Vielleicht.

Auffällig: viele der Interviewten betonen, dass es nicht um widerliche Einzelpersonen, sondern “das System” gehe, das das möglich macht. Tatsächlich stellte sich keine Produktionsfirma und keine auftraggebende Redaktion vor die Kamera, um zu erläutern, wie sie das nicht nur haben geschehen lassen, sondern bezahlt haben!

Mag sein, dass das ein Fall für Claudia Roth ist, die sich als Kulturministerin um einen Kodex für die Filmbranche bemüht. Es ist aber auch ein Fall für den Gesetzgeber, für den Gesundheitsschutz sowie das Arbeits- und Mitbestimmungsrecht in allen Kulturinstitutionen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net