Weltuntergang britisch: “Years And Years”

Vorhersagen sind schwierig, insbesondere was die Zukunft betrifft. Russel T. Davies hat es trotzdem gewagt. Kein Wunder, der kriegte Geld dafür – von der BBC + dem US-Streamingdienst HBO (“The Sopranos”, “Tokyo Vice” etc.). Wenn Sie realistische politische Plausibilität erwarten, sind Sie bei “Years And Years” (1 Monat verfügbar) eher falsch. Fantasietoleranz ist erforderlich.

Wenn Sie die aber aufbringen, die gezeigte Dystopie-Fantasie als Anregung für eigenständiges Denken nehmen, dann sind Sie richtig, und werden zudem erstklassig unterhalten. Spitzen-Ensemble, ein “Barnaby”-Assi darunter, very british Humor und Sarkasmus. Und eine besondere Erwähnung ist die Tatsache wert, dass die Filmmusik nicht nervt, weil das sowieso eine besondere Stärke britischen Filmschaffens ist.

Die Fantasie des Drehbuchs ist gespeist daraus, was die Briti*inn*en als ihre politische und systemische Gegenwart schon zu lange kennen und erleiden.

Noch ein Tipp für Ihre Vorerwartung: der taz-Rezensentin wird zu rasant erzählt und geschnitten. Ist es das Alter? Nein, ich bin 67, und mir hats gefallen. Null Langeweile, viel Geschehen und Veränderung. Für Klo- und Kühlschrankgänge die Pause-Taste drücken.

Und bravo, beim ZDF keine Selbstverständlichkeit: Bingewatching der sechs jeweils einstündigen Teile ist machbar.

Vergleich der Verblendungs-Zusammenhänge: UK – Deutschland – Österreich

Zum Schluss noch eine Bemerkung zum diskursiven Zusammenhang. Bedenken Sie vor, während und nach dem Anschauen, dass die Migrationsdebatte plus die um die öffentlichen Medien in Kleinbritannien noch weit vergifteter geführt wird, als hierzulande. Deutsche Teilnehmer*innen am AfD-Ähnlichkeitswettbewerb (Söder, Aiwanger, Merz usw.) holen sich hier ihre Anregungen. Oder personalisiert ausgedrückt: Julian Reichelt ist auch nur neidisch auf Piers Morgan oder Tucker Carlson, so, wie Mathias Döpfner Rupert Murdoch als unerreichbares Vorbild schweben sieht. Murdoch hat ihm Umsatz- und Profitmilliarden voraus, ebenso wie nach seiner Pfeife tanzende US-Präsidenten und UK-Premierminister, und nicht zuletzt Lebensjahrzehnte und Eheschliessungen – er “hat den Längsten” … Aber ich schweife ab.

Dass die BBC dabei nicht unter den Türritzen der Politik hindurchkroch, sondern 2019 einen Produktionsetat für so eine Serie investierte, zeigte kurz vor der Coronapandemie einen Mut, der sie später bei Gary Lineker schon wieder verlassen hatte. Vergleichbar ist so viel Anstaltsmut nur mit Österreich, wo die Anstalt sich selbst zum Kritikziel macht: “Walking On Sunshine” (noch 3 Wochen verfügbar) – so gelungen, dass Deutsche darauf neidisch sein müssen. Aber für solche Vorbilder fehlt es in deutschen Anstalten an Intelligenz – schon so lange, dass auch nichts mehr nachzuwachsen “droht”. Der 43-jährige Pausenclown Jan Böhmermann markiert den Rand des Möglichen. Ansonsten fürchten sie in den Sendern den Moment, der in Österreich mit der FPÖ längst eingetreten ist und Armin Wolf und Freunde zu Mut und Tapferkeit animiert, die Sie hier bei uns lange suchen können.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net