“It’s The Economy, Stupid!” in der Türkei

Deutsche Medien haben schon traditionell mentale Probleme mit faktenbasierter Wahlberichterstattung aus fremden Ländern. Grundsätzlich wird die politische Deutung, der “Spin”, den Daten vorausgeschickt. Im Radio wird geframed und gelabert, was das Zeug hält, ohne präzise Zahlenangaben über Ergebnisse, Gewinne und Verluste. Und wenn doch, dann nur dualistisch auf Personen bezogen, oder die zwei grössten Parteien. Was sich unterhalb dieser an gesellschaftlichen Tiefenströmungen abbildet, wird von deutschen Korrespondent*inn*en geflissentlich ignoriert – weil es die Heimatredaktion sowieso nicht interessiert. Ein langer Vorspruch, ich weiss. Aber der Ärger muss raus.

Die zentrale Botschaft, dass die Mehrheit der wählenden Türk*inn*en die Nase von Erdogans Despotenherrschaft voll hat, trifft aber offenbar dennoch erfreulich deutlich zu. Zu fragen bleibt, wenn die kemalistische CHP gut 37, und Erdogans AKP landesweit 35 einfuhr, um was es denn politisch wohl den übrigen 28% ging. Nicht alle davon sind demokratisch oder gar links; es gibt auch islamistische Rechtsabspaltungen. Und grosse Teile der CHP, soviel Skepsis muss sein, sind bisweilen kurdenfeindlicher als die zu Opportunismus neigenden AKP-Islamisten.

Viele Onlinemedien haben ihre Analysen digital eingemauert. Das hilft ihnen nicht. Denn substanzielle Inhalte sind dennoch gut zugänglich. Beispielhaft nenne und empfehle ich Ihnen die alten Korrespondenten-Haudegen

Jürgen Gottschlich/taz: Erdogans historische Niederlage – Die oppositionelle CHP gewinnt nicht nur die großen Städte, sondern ist auch erstmals landesweit vor Erdogans AKP die stärkste Partei.”

und

Gerd Höhler/Funke-Mediengruppe: Wichtigstes Ziel verfehlt: Herbe Schlappe für Erdogan bei Kommunalwahlen in der Türkei – Kommunalwahl in der Türkei verteidigt die Opposition wichtige Großstädte – und erobert eine dazu. Ein Rückschlag für Erdogan.”

Wie sich schon im Gesamtwerk von Extradienst-Autor Ingo Arend ablesen lässt, hat die Zivilgesellschaft der Türkei es trotz (oder wegen?) der erdoganschen Repressionen bis heute mit viel Intelligenz geschafft, gesellschaftlichen Widerstandsgeist und Resilienz zu mobilisieren. Uns Deutsche, die wir in weit grösserem Wohlstand und Freiheit agieren können, muss das beschämen und mindestens mit Respekt und Dankbarkeit erfüllen – statt demonstrativ ständig über die hiesigen Erdogan-Fans abzulästern. Denn mobilisieren die Deutschen links von Merz und AfD etwa eine progressive politische Mehrheit? Dä.

Im Gegenteil

Am 9.6. gedenkt EU-Europa sich vor Meloni, Le Pen und Orban auf den Rücken zu legen. Was die Rechten nicht selbst schaffen, wird ihnen von der real existierenden politischen Führung der EU serviert“eine Schande für Europa” (Ex-MdB de Masi). Statt eine Mehrheit für ein sozial gerechtes und solidarisches menschenrechtliches Europa zu mobilisieren, tritt jede*r Quartalsirre, und sogar intelligente Individuen, mit einem eigenen Verein an. Friedrich Merz und die AfD reiben sich die Hände und bereiten ihre Siegesfeiern vor. Bei SPD und Grünen werden die Messer gegen die Schuldigen gewetzt, der FDP ist das Ergebnis egal (Hauptsache Flak-Zimmermann ist aus Berlin weg), und Frau Wagenknecht wird das Glas auf den Tod der Linkspartei erheben.

Weitgehend unbemerkt von deutscher Öffentlichkeit sieht es in Spanien, Portugal, den Niederlanden und Skandinavien politisch ähnlich bescheiden oder schlimmer (nämlich mit faschistischer Regierungsbeteiligung) aus. Das summiert sich, und wird der EU noch vor einem möglichen Wahlsieg Donald Trumps im November den Hals umdrehen. Klimaschutz wird beendet, der Mauerbau im Mittelmeer fortgesetzt, demokratische Grundrechte flächendeckend plattgemacht. Alles umgekehrt zur Türkei. Geht euch Schämen.

Doch ich will nicht destruktiv enden

Wiederum von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, führen die Überreste der SPD einen innerparteilichen Bürgerkrieg über aussenpolitische strategische Fragen. Als es der SPD einmal gelang, diese Debatte in die Gesellschaft da draussen hineinzutragen, statt sie in Elitendiskussionen von Denkpanzern vergammeln zu lassen – es war 1972 – hatte sie den grössten Wahlsieg ihrer Parteigeschichte eingefahren. Heute dagegen haben sogar erfahrene Genossen von diesem Text erst über mich Kenntnis genommen:

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Peter Brandt, Götz Neuneck/telepolis: Demontage von Egon Bahr: Warum wir diese emotionale Mobilmachung ablehnen – Bahrs Entspannungspolitik war richtig. Die Kritik an ihr basiert auf historischen Kapriolen und Fehldarstellungen. Eine Replik auf Heinrich August Winkler und Gerhard Baum.” Ob das Olaf Scholz überhaupt interessiert? Ich bin mir nicht sicher.

Und auch hierfür wird er gewiss keine Zeit haben, ich dagegen bin beeindruckt, der Autor ist mir nicht bekannt: Robert Schwierkus/telepolis: Krieg in der Ukraine: Wie liberale Hegemonie auf Neo-Revisionismus prallt – Wertegeleiteter Westen kämpft gegen imperialistisches Russland. Diese Sichtweise dominiert in den USA und Europa. Unser Autor argumentiert für eine andere Perspektive.”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net