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Woher die Kriegsbegeisterung?

Der Krieg und die Linken: Woher kommt die grüne Kriegsbegeisterung? – Angesichts des Ukraine-Kriegs und des Gaza-Konflikts bietet Deutschlands Linke ein diffuses Bild.

Für eine „alte“, meist marxistische Linke hat jeder Krieg seine sozialökonomische Basis. Das wäre nach wie vor die kapitalistisch fundierte, nationalstaatlich zementierte, imperialistisch regulierte Weltwirtschaftsordnung. Deren Überwindung sollte die Welt von Kriegen und ihren menschlich-materiellen Kosten befreien.

Einen abstrakt humanistischen Pazifismus verachten klassische Linke als bürgerliche Illusion. Ungeachtet seines nüchtern-realistischen Gestus hat klassisches Linkssein aber eine normative Tendenz. Die aktuelle Lage der Unterschichten – am stärksten betroffen von Kriegspflicht wie Kriegsschäden – erscheint im Gegenlicht einer friedlichen Zukunft. Sie verheißt eine freie Entfaltung aller Menschenkräfte, die bislang klassengesellschaftlich gebunden und kriegerisch vergeudet worden seien. Doch würden marxistische Linke einen nationalen Abwehrkrieg billigen, wenn es zugleich ein sozialer Befreiungskampf gegen fremdländische Ausbeuter wäre.

Identitätspolitik

In einem zweiten, meist sozialdemokratischen Verständnis von Linkssein wirken liberale Fortschrittsideen nach. Eine davon ist die Herbeiführung global einheitlicher Rechtszustände. Hierbei sind die bürgerlichen Versprechen formeller Gleichheit zum Modell eines sozialen Weltfriedens erhoben. Der globalkapitalistisch ausgedehnte Wirtschaftsraum ist nicht Ziel der Geschichte, sondern Durchgangsstufe zu planetarischer Pazifizierung. Linksprogressive setzen dabei auf praktikable Formalismen. Formelle, etwa rechtliche Gleichheit könne soziale Gerechtigkeit zwar nicht erzeugen, jedoch ermöglichen. Der formelle Egalitarismus propagiert innergesellschaftlich Chancengleichheit und zwischenstaatlich eine Weltsicherheitsordnung.

Linkes Fortschrittsdenken löst sich oftmals in liberalen Weltgesellschafts- und Weltfriedensvisionen auf. Altlinken gilt das als revisionistisch; der bundesdeutsche Musterfall wäre das Denken von Jürgen Habermas, der frühzeitig links und progressiv, aber irgendwann kein Marxist mehr sein wollte. Habermas’ Kommunikationsphilosophie entsprach einer Ära sozialliberaler Entspannungspolitik. Doch hat die zugehörige Denkweise langfristig gewirkt. Kriege erscheinen darin als schmutzig-materielle Konkretionen innerhalb eines aller Welt offenstehenden Diskurskosmos, als atavistische Weigerung, westlich-zivilisierte Umgangsformen anzunehmen.

Die stärkste mediale – auch politische und kulturelle – Macht behauptet heutiges Linkssein drittens durch Identity Politics, unter oft polemisch angeklebten Titeln wie Kultur-, Lifestyle- oder schlicht Identitätslinke. Auf den ersten Blick wirkt diese Linke wie eine Kehrseite des linksprogressiven Universalismus. Ihre Zukunftsvision ließe sich nämlich als Konkretisierung und somit Perfektionierung des dort erhofften Fortschritts deuten.

Sie könnte aber auch eine Regression in ältere Schichten bürgerlichen, ja christlichen Bewusstseins bedeuten. Für letzteres spricht die moralische Rahmung von Passivaspekten sozialer Existenz wie Empfindlichkeit, Unterlegenheit, Verletzbarkeit, potenziell also: Opfersein.

Zwar setzt die Identitätslinke das universalistische Modell von Linkssein historisch voraus. Im Unterschied zu diesem unterstellt sie jedoch – aus einer Sicherheit des rechtlich und sozial bereits Erreichten – den Konflikt als kulturellen Regelfall. Dieser Problem- qua Regelfall könne weder gewaltsam (revolutionäre Linke) noch evolutionär (reformistische Linke) aufgelöst, sondern nur „anerkannt“ und „sichtbar“ gemacht werden. Für ein identitätspolitisch aufgeklärtes (wokes) Bewusstsein ist ein konfliktloses, weil rollenfreies, nicht-konstruiertes kulturelles Dasein von Individuen oder Kollektiven schlichtweg illusionär.

Wie werden die drei Formationen von Linkssein auf eine äußere Erschütterung reagieren, auf einen kriegerischen Ernstfall?

Die Linken und der Krieg

Für die traditionelle Linke ist ein moderner Krieg, als national- oder staatspolitisches Ereignis, nur oberflächlicher Schaum auf systemischer Basis, die Weltkapitalismus heißt. Deshalb können altlinke Milieus hinter der pro- wie der antiisraelischen, hinter der pro- wie der antirussischen Kriegspropaganda kaum mehr als imperiale Interessenkonkurrenz entdecken. Parteinahme verbietet sich schon aus Gründen geistiger Selbstachtung. Altlinke unterscheiden zwischen systemstabilisierenden und systemsprengenden Konflikten. In dieser Sicht ist der russische Angriffskrieg von heute moralisch nicht skandalöser als die „Missionen“ westlicher Mächte von gestern – was deren Mediensprecher ihrerseits skandalisieren.

Die progressiv-universalistische Linke bevorzugte nach 1990 normative Deutungen des westlichen Kapitalismus als „liberale Moderne“, „Projekt der Moderne“ u.ä.m. Als „Westlinke“ hatte sie jahrzehntelang von rationaler, insbesondere rechtlicher Einhegung gewaltsamen Konfliktaustrags geträumt. Für sie ist die ostentative Verachtung solcher Rechtsvorstellungen durch Putin oder Hamas ein purer Einbruch des Barbarischen, mit einem ihrer Lieblingsschmähworte: „Vormodernen“.

Das Hochschrecken aus dem linksprogressiven Befriedungstraum erlaubt zwei verschiedene Reaktionen: Pazifismus als gefühlsmäßige Rettung des universalethischen Ideals, für das die reale Welt noch nicht reif sei; „Werte“-Kriegertum zur Sicherung der eigenen, westlichen Daseinsbedingungen, Fernziel: Weltfrieden per Weltverwestlichung.

Die zweite Reaktion ist derzeit die häufigere. Das intellektuelle und auch moralische Opfer, das westliche Linksprogressive dabei zu erbringen haben, ist der Glaube an eine staatsfaktische Verkörperung globalethischer Prinzipien. Im propagandistischen Angebot sind eine Vorkämpferschaft der USA für die „westlichen Werte“ oder des Westens für eine Weltfriedensordnung oder der Ukraine oder Israels „für uns alle“.

Die Kriegsrhetorik der Identitätslinken

Die heftigste Kriegsrhetorik findet sich heute unter Identitäts- oder Kulturlinken, politisch überwiegend repräsentiert durch Deutschlands Grüne. Dass diese als Partei der Ungedienten gelten, garantiert nicht ihre Friedlichkeit, sondern nur ihre Weigerung, für anderes, gar Höheres zu kämpfen, als das eigene Projekt vielfarbig konkurrierender Identitäten.

Grüne Milieus sind mental wie politisch auf unversöhnliche Konflikte eingestellt. Sie gelten ihnen als gesellschaftlicher Normalfall, selbst wenn es sich dabei um eine historisch überwindbare Normalität handeln sollte, also etwa eine „weiße“, patriarchalische, heteronormative oder exklusiv europäische.
Das Ziel aller identitätslinken Konfliktpraxis heißt Teilhabe. Sie entspricht einem Gesellschaftsideal, das Marx-Geschulte als naiven Konsumentenkommunismus bezeichnen würden. Die materiellen Mittel und sozialen Positionen nämlich, an denen die identitär Kriegführenden teilhaben wollen, stellen westliche, kapitalistische Gesellschaften mit emanzipatorisch-egalitärem Moralüberbau bereit.

Dessen materielle Basis soll nicht ab-, sondern moralisch umgebaut („dekonstruiert“) und fortschreitend aller Welt zugänglich werden. Die Ukraine etwa wurde durch dieses Framing eingespeist in eine Moral- und Kulturpolitik „westlicher Werte“: Sie ist kleiner, schwächer, zerbrechlicher als ihr Kriegsgegner. Sie erscheint bereits staatsfaktisch als schützenswerte „Identität“.

Aus all dem erklärt sich der hybride Stil identitätspolitisch beworbener Staats- und speziell Außenpolitik. Den Ausgangspunkt aller Identitätspolitik bildet ein individuell oder kollektiv besonderes, als solches bewahrenswertes Sein. Ein derartiges Sondersein ist definitionsgemäß nicht argumentativ verhandelbar, sondern nur affektiv darstellbar – in expressiver, stark gefühlsbetonter Repräsentation.

Identitätspolitisch gelesene Konflikte drehen sich um symbolische Abbildung, nicht um reale Abschaffung von Antagonismen. Sie werden also nicht wie bei der klassenkämpferischen Linken durch revolutionäre Aktion, auch nicht wie bei der fortschrittsoptimistischen Linken durch Ausgleich suchende Argumentation, sondern durch emotionale Expression ausgetragen. Politische Selbstdarstellung per Gefühlsausdruck ist in Identitätskriegen gleichbedeutend mit Tun und Denken. „Gefühl“ verhilft dem, was man selbst ist oder sein will, zur „Sichtbarkeit“. Es ist das Melodrama der Authentizität.

Habeck, Baerbock, Hofreiter: Das Melodrama der Authentizität

Das grüne Führungspersonal in Wirtschafts- und Außenpolitik muss heute durch affektive Ausdruckstaten dasjenige bebildern, was „der Westen“ an sich selbst sein soll: innerkultureller Dauerkonflikt, doch als „demokratischer Diskurs“. Angesichts des Ukrainekriegs wurde der übliche westliche Wertekonflikt wieder virulent – der Widerstreit zwischen gutem Leben und gutem Gewissen. Letzteres verlangt beispielsweise Lieferumwege, wenn es Feind-Gas zu beziehen gilt.

Diese objektive Realität westlichen Wertekonflikts müssen die spätberufenen Verantwortungspolitiker „den Menschen erklären“ können, mittels subjektiv beglaubigter Gefühlszerrissenheit. Und tatsächlich, in ihre dramatischen Stirnfurchen (Robert Habeck) oder hochfrequenten Stimmheben (Annalena Baerbock) oder herzhaften Einfachdeutsch (Anton Hofreiter) erweisen sie sich als authentische Gefühlslinke, „sichtlich bewegt“ westliche Wertekonflikte durchleidend.

Fazit: In der grünen Außenpolitik-Darstellung verschmelzen fortschrittsethische und identitätspolitische Elemente von Linkssein zu einer diffusen Westlichkeit. Daher die Beschwörung einerseits der Idee einer internationalen Sicherheitsarchitektur andererseits der berechtigten Partikularinteressen von ausgewählten Nationen. Letztere bedürfen hierzu jedoch einer gefühlsbewegenden Aura von Unterlegenheit oder Verletzbarkeit. So überrascht es nicht, dass eine grüne Außenministerin seit 2022 zugleich als Sprecherin der Weltfriedensordnung und als Anwältin von Konfliktparteien agiert hat.

Jürgen Große ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin. Kürzlich erschien sein Buch „Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments“. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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3 Kommentare

  1. klemens roloff

    „Woher kommt die grüne Kriegsbegeisterung?“, fragt der Autor des Beitrags Jürgen Große. Und er beantwortet seine Frage mit der Feststellung: „Angesichts des Ukraine-Kriegs und des Gaza-Konflikts bietet Deutschlands Linke ein diffuses Bild.“

    Haben wir – Leserinnen und Leser – damit nun etwas Neues gelernt, haben wir dank Großes weit ausholender Analyse „verstanden“, wie „Deutschlands Linke“ in der Frage des Krieges tickt? Immerhin erfahren wir, dass es neben einer „alten, meist marxistischen Linken“ auch ein „sozialdemokratisches Verständnis von Linkssein“ gibt. Doch Großes Hauptaugenmerk gilt der „Identitäts- oder Kulturlinken“, die sich durch „Identity Politics“ derzeit als „stärkste mediale – auch politische und kulturelle – Macht heutigen Linksseins“ behaupte und in Deutschland überwiegend durch die Grünen repräsentiert werde.

    Große bleibt uns leider die Antwort schuldig auf die Frage, wie es überhaupt zu dieser neuen Denkart der „Identity Politics“ gekommen ist. Umso wortreicher beschreibt er stattdessen, wie dieses Denken in der Praxis funktioniert: „Identitätspolitisch gelesene Konflikte drehen sich um symbolische Abbildung, nicht um reale Abschaffung von Antagonismen. Sie werden also nicht wie bei der klassenkämpferischen Linken durch revolutionäre Aktion, auch nicht wie bei der fortschrittsoptimistischen Linken durch Ausgleich suchende Argumentation, sondern durch emotionale Expression ausgetragen. Politische Selbstdarstellung per Gefühlsausdruck ist in Identitätskriegen gleichbedeutend mit Tun und Denken. “Gefühl” verhilft dem, was man selbst ist oder sein will, zur “Sichtbarkeit”. Es ist das Melodrama der Authentizität.“

    Robert Habeck, Annalena Baerbock oder Anton Hofreiter sind für Große „spätberufene Verantwortungspolitiker“, die die „Realität des westlichen Wertekonflikts […] den Menschen erklären müssen.“ Daher Habecks „dramatisches Stirnfurchen“, Baerbocks hochfrequente Stimmhebung und Hofreiters „herzhaftes Einfachdeutsch“ – sie „erweisen sich als authentische Gefühlslinke, sichtlich bewegt westliche Wertekonflikte durchleidend“. Können Sie noch folgen? Haben Sie etwas verstanden? Ich nicht.

    Im Unterschied zu einer solchen Küchenpsychologie fand die Grünen-Politikerin Antje Vollmer, die vor Jahresfrist starb, in ihrem „Vermächtnis einer Pazifistin“ (auch im Beueler Extradienst veröffentlicht: https://extradienst.net/2023/02/23/vermaechtnis-einer-pazifistin/) weit einfachere und klarere Worte für das Umschalten ihrer Parteigenoss*innen von grün auf olivgrün. Die heutigen Grünen, so Vollmer, haben ihre friedens- und umweltpolitischen Ideale geopfert „für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker”.

    Als Scheinpolitik entlarvte sie die Bemühungen des grünen Wirtschaftsministers, alte Abhängigkeiten von Russland und China „durch neue Abhängigkeiten zu Staaten zu ersetzen, die keineswegs als Musterdemokratien durchgehen können“. Und für die amtierende grüne Außenministerin fand sie die treffende Charakterisierung: die „schrillste Trompete der antagonistischen Nato-Strategie“.

    Im März dieses Jahres erklärte der ehemalige Marburger Hochschullehrer und Psychotherapeut Ulfried Geuter, Gründungsmitglied der Grünen, nach 45 Jahren seinen Austritt aus der Partei. „Ich war einmal froh und stolz, ein Grüner zu sein“, schreibt er in seiner ausführlichen Begründung. Doch mit der aktuellen Politik der Partei, „die der Logik des Krieges folgt und die Sicherheit Europas und der Welt aufs Spiel setzt, um sich als die Gerechtesten der Gerechten fühlen zu wollen, habe ich nichts gemein.“ (https://www.blog-der-republik.de/gruene-und-krieg-partei-austritt-des-gruendungsmitglieds-ulfried-geuter/)

    • Martin Böttger

      Lieber Klem, mein Angebot an Dich, selbst als Autor aufzutreten, halte ich aufrecht. So lange Texte sind als Leserkommentar dysfunktional.

  2. Dr. Hanspeter Knirsch

    Man könnte es mit Max Frisch auch etwas klarer ausdrücken: „Es sind immer die Moralisten, die das größte Unheil anrichten.“
    Moralisten in der Politik sind geradezu lebensgefährlich. Alexander Kluge ist der Auffassung, das Zeitalter der Aufklärung habe noch nicht begonnen. Man ist geneigt dem zuzustimmen, denn mit Vernunft hat das alles nichts zu tun, was derzeit unser Leben bestimmt.

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