Eine hitzige Debatte gilt der Frage, ob die Ukraine Marschflugkörper aus dem Bestand der Bundeswehr erhalten soll. Es handelt sich nicht einfach eine Neuauflage der Streits, die um die Lieferungen der Haubitze 2000 oder des Leopard-Panzers ausgetragen wurden, obwohl die Kontrahenten und ihre Argumente die gleichen geblieben sind. Bisher konnten die Befürworter des Konzepts “Frieden schaffen mit mehr Waffen” (Michael Roth, SPD) nämlich darauf vertrauen, dass sie sich letztlich durchsetzen würden, wenn auch “zu spät” und “ohne ausreichende Munition”, wie Kiew nie zu mahnen vergaß. Diesmal scheint es anders zu sein. Der Bundeskanzler hat sich festgelegt. Er will den Taurus nicht hergeben.
Wut und Entsetzen prasselten nun verbal auf ihn ein, aus den Reihen der Opposition, der Koalition, der eigenen Partei, der Bündnispartner in der NATO und, wen wundert es noch, aus den Spalten und Bildschirmen aller großen Medien. Er habe die von ihm selbst ausgerufene Zeitenwende nicht ernst gemeint. Er folge alten SPD-Reflexen gegenüber Russland und wiederhole begangene Fehler. Er vertraue der Ukraine nicht oder habe gar Angst vor Putin. Er sei der Chamberlain unserer Zeit. Die Anschuldigungen grenzten an einen Verratsvorwurf, und so waren sie wohl auch gemeint, nicht immer, aber immer öfter.
Alle Argumente, die Scholz für seine Weigerung vorbrachte, wurden von sogenannten Militärexperten umgehend zerpflückt. Der Taurus habe eine Reichweite bis nach Moskau? Die könne man begrenzen. Für die Zielprogrammierung müssten Bundeswehrangehörige in der Ukraine tätig werden? Nein, das könnten sie auch von deutschem Boden aus erledigen. So oder so müssten deutsche Soldaten aktiv an Kriegshandlungen teilnehmen? Wieder falsch, die Ukrainer könnten den Umgang mit dem Taurus schnell erlernen. Schließlich verwies Scholz auf technische Faktoren: der Marschflugkörper verfüge über vier voneinander unabhängige Navigationssysteme. Für die Berechnung der Route müssten riesige Datenmengen zusammengebracht und verarbeitet werden, dafür besitze nur die deutsche Einsatzzentrale die erforderliche Ausrüstung. Postwendend kam der Konter, die großen Datenmengen hätten heute auf jedem zeitgemäßen Handy Platz.
Nur einmal konnte Scholz die Kritik vorübergehend zum Schweigen bringen. Am 14. März ließ die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag darüber abstimmen, ob die Ukraine den Taurus bekommen soll. Der Antrag wurde mit der Regierungsmehrheit abgelehnt, obwohl Sprecher*innen der Grünen und der FDP deutlich zu verstehen gaben, dass sie mit seinem Anliegen eigentlich übereinstimmten.
In der Debatte kam es zu einem kurzen Schlagabtausch, als MdB Norbert Röttgen (CDU) den Bundeskanzler fragte, ob Frankreich und Großbritannien durch ihre Lieferung von Marschflugkörpern an die Ukraine Kriegsbeteiligte geworden seien. Scholz verneinte, niemand werde durch Waffenlieferungen Kriegsbeteiligter. Dann fügte er hinzu, Röttgen wisse über die Problematik einer deutschen Tauruslieferung gut Bescheid, baue aber seine Kommunikation zu dem Thema darauf auf, dass die Öffentlichkeit nicht über dieses Wissen verfüge. Damit brachte er zum Ausdruck, dass es beim Taurus einen Sachverhalt gebe, der dem Parlament, nicht aber der Öffentlichkeit bekannt sei. Seine Widersacher gerieten ein, zwei Tage ins Grübeln, bevor sie sich unter Führung des scheidenden NATO-Generalsekretärs Stoltenberg wieder sammelten. Außenministerin Baerbock präsentierte als neue Idee, Großbritannien könne der Ukraine noch mehr von seinen Storm Shadow-Marschflugkörpern abgeben und als Ersatz dafür Taurus von der Bundeswehr erhalten.
Die dürfen, wir nicht
Also wieder ein Ringtausch? Die Statements des Bundeskanzlers lassen diese Möglichkeit offen. In einem Interview mit dpa erklärte er am 26. Februar, deutsche Soldaten dürften “an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System (Taurus) erreicht, verknüpft sein”. Er fügte hinzu: “Das, was andere Länder (mit ihren Marschflugkörpern) machen, die andere Traditionen und andere Verfassungsinstitutionen haben, ist etwas, das wir jedenfalls in gleicher Weise nicht tun können.” Jene Anderen nannte er auch beim Namen: “Was an Zielsteuerung und Begleitung der Zielsteuerung von seiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden.” Das war ziemlich undiplomatisch, aber klar: Die dürfen, wir nicht.
Frau Baerbock schließt daraus, die Briten erledigen zu lassen, was der Bundesrepublik verwehrt sei. Wo ein Wille ist, gibt es für sie immer einen (Um-)Weg, auch wenn sie dabei das Terrain eines anderen Ministeriums (Pistorius) durchschreitet. Den größten Nutzen hätten wahrscheinlich die Briten. Sie bekämen ein teures Waffensystem umsonst dazu, und sie würden den Deal mit Sicherheit nur akzeptieren, wenn er alles einschließt, die Logistik, die Software, die Navigationsdaten, Lizenzen usw.
Zusammengefasst argumentiert Scholz auf drei Ebenen gegen eine Taurus-Lieferung. Politisch bzw. strategisch gesehen sei eine Eskalation des Ukrainekriegs zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland unbedingt zu vermeiden. Rechtlich müsse das Grundgesetz beachtet werden: es enthält den fast schon in Vergessenheit geratenen Artikel 26, wonach Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, verfassungswidrig sind. Und technisch sei ein effektiver Einsatz des Taurus ohne deutschen Support nicht möglich. Spätestens jetzt stellt sich die Frage, um was für ein Waffensystem es sich beim Taurus handelt, dass es derart hochrangige Probleme aufwirft.
Für die Ukraine ist die Angelegenheit vergleichsweise klar. Sie möchte noch in diesem Halbjahr die Kertschbrücke zwischen der Krim und Russland zerstören, wie ein Offizier des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR dem Guardian erzählte. Über die Mittel dafür verfüge man bereits – auch ohne die deutschen Raketen. Die würden das Unternehmen aber erleichtern. Der Ukraine wäre es demnach liebsten, einen Angriff auf die Brücke mit britischen Storm Shadow-, französischen Scalp- und deutschen Taurus-Flugkörpern zur gleichen Zeit zu starten. Dann wäre die Wahrscheinlichkeit höher, dass einer durchkommt und das Ziel trifft. Andererseits ließen sich auch das Risiko und die Kosten einer russischen Antwort auf mehrere Schultern verteilen.
Die Kontroverse um eine Taurus-Lieferung müsste sich eigentlich auf den Punkt zubewegen, ob man eine Zerstörung der Krimbrücke durch die Ukraine wünscht, billigt oder ablehnt. In diesem Fall kann man sich schwer hinter dem Argument verstecken, die Entscheidung müsse der Ukraine überlassen werden. Denn Kiew hat seine Absichten bereits erklärt. Daraus folgt, dass die Herren Merz, Söder, Röttgen, Hofreiter, Kubicki, Roth und die Damen Strack-Zimmermann, Baerbock, Brugger, um nur einige Politiker*innen beim Namen zu nennen, sowie eine Legion von Publizisten, Experten und Honoratioren mit der Zerstörung der Krimbrücke einverstanden wären. Das gilt auch für die beiden Vizekanzler, die sich nicht so weit aus dem Fenster gelehnt haben wie ihre jeweiligen Parteien, aber nur aus taktischen Gründen.
Wer die Freiheit liebt, muss die Brücke zerstören?
Das erinnert stark an die Sprengung der Nordstream-Pipelines. Anders ausgedrückt erhärtet die aktuelle Kontroverse den Verdacht einer ukrainischen Urheberschaft bei jenem Sabotageakt, der, wie immer man es dreht und wendet, aus deutscher Sicht kein freundlicher Akt gewesen ist. In diesen Zusammenhang gehören auch die regelmäßig stattfindenden Gefechte in der unmittelbaren Umgebung des AKW Saporischschja. Nach wie vor ist unklar, wer dafür verantwortlich ist. IAEA-Direktor Grossi wies am 4. April zum 218. Mal darauf hin, wie fragil und gefährlich die Lage sei, obwohl das Atomkraftwerk weitgehend heruntergefahren ist. Leider eignet sich der Taurus auch und gerade für solche Ziele.
Um mich nicht dem Vorwurf der Panikmache auszusetzen, überlasse ich es der Phantasie der Leser*innen, sich mögliche russische Gegenangriffe selbst auszumalen. Unter ihnen würde vor allem die ukrainische Zivilbevölkerung leiden, die russische Rücksichtslosigkeit ist ja zur Genüge bekannt. Warum sollten wir das wollen? Eine nachhaltige Beschädigung der Kertsch wird Russland nicht veranlassen, die Krim aufzugeben. Im Gegenteil, sie würde eine russische Trotzreaktion hervorrufen und eine diplomatische Lösung auf einen nicht absehbaren Zeitraum verschieben. Die Taurus-Lieferung würde die letzten Hoffnungen zunichte machen, den Konflikt doch noch einfrieren zu können, bevor ein weiterer großer Unsicherheitsfaktor möglicherweise im Weißen Haus Platz nimmt. Sie wäre eine klare Botschaft zur unbefristeten Verlängerung des Krieges. Das wissen diejenigen, die einen Frieden nur als “Siegfrieden” akzeptieren wollen.
Scholz scheint derzeit ein kleineres Übel zu sein. Freilich, durch seine Verstrickung in die Angelegenheiten der Hamburger Warburg Bank, gerade erst wieder aufbereitet vom ZDF Magazin Royal, könnte er politisch erpressbar sein.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei bruchstuecke.info, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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