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Eine andere Medizin

Corona-Aufarbeitung: Wir brauchen eine andere Medizin – Während der Pandemie dominierten biomedizinische Konzepte. Das hat unnötige Schäden verursacht, findet unser Autor. Und schlägt Alternativen vor.

Vielen Menschen dürfte die Zeit der Pandemie als ein unablässiges Starren auf Fallzahlen in Erinnerung bleiben. Es hatte sich als völlig normal und natürlich etabliert, dass in den Hauptnachrichtensendungen stets über den aktuellen Stand der Neuinfektionen berichtet wurde. Der Mensch wurde während der Pandemie zum reinen Körperwesen degradiert. Man konnte all die Maßnahmen, ob Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen oder Ausgangsbeschränkungen schließlich nur rechtfertigen, wenn man davon ausgeht, dass der soziale, ökologische, psychologische oder auch religiöse Bereich des Menschen weniger wichtig, oder, um es drastisch zu formulieren, weniger wert sei als der physiologische oder biologische Bereich.

Aus medizinhistorischer Perspektive ist diese Vorgehensweise nicht weiter verwunderlich. Der Philosoph René Descartes führte den Dualismus zwischen Körper und Geist ein. Dies erlaubte im 17. Jahrhundert den Geist zum Hoheitsgebiet der Kirche zu erklären und den Körper zu einem naturwissenschaftlich erforschbaren Objekt zu machen, ohne von religiösen Einflüssen gestört zu werden.

So wurden Fortschritte in der Medizin möglich, von denen der Mensch lange nur träumen konnte: Die deutlich gesteigerte Lebenserwartung hängt etwa mit der Entdeckung von Mikroben im 19. Jahrhundert durch Naturwissenschaftler wie Louis Pasteur oder den Arzt Robert Koch zusammen. Die Erreger konnten effektiv mit Hygienemaßnahmen, Medikamenten wie Antibiotika und Impfungen bekämpft werden.

Die Medizin konzentrierte sich auf Organe, Zellen, Genetik und daraus abgeleitete Diagnostik und Therapie. Mit dieser bis heute anhaltenden Fokussierung auf den biologischen Bereich hat sie zweifelsfrei für den Menschen wichtige Entdeckungen machen können.

Kritik an der Biomedizin

Doch es gibt auch Schattenseiten, die diese Entwicklung mit sich brachte. Der bekannte Mediziner und Psychosomatiker Thure von Uexküll sagte einmal sehr passend: „Wir haben eine Medizin für Organe, Gewebe und Zellen, aber keine für kranke Menschen und für individuelle Wirklichkeiten, in denen sie leben.“

Inzwischen gibt es neuere Ansätze, die versuchen, ein weniger reduktionistisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu etablieren. Dazu gehört die Biopsychosoziale Medizin. Der US-amerikanische Internist und Wegbereiter der Biopsychosozialen Medizin, George L. Engel beschreibt das Anliegen so: „Das heute vorherrschende Krankheitsmodell ist biomedizinisch und lässt in seinem Rahmen wenig Raum für die sozialen, psychologischen und Verhaltensdimensionen von Krankheiten. Ein biopsychosoziales Modell bietet eine Blaupause für die Forschung, einen Rahmen für die Lehre und ein Konzept für Maßnahmen in der realen Welt des Gesundheitswesens.“

Das biopsychosoziale Modell geht von einer Gleichwertigkeit von sozialen, psychischen und körperlichen Aspekten aus: Krankheit und Gesundheit haben selten nur etwas mit einer dieser Dimensionen zu tun, sondern sind das Ergebnis der gesamten Wirklichkeit, des gesamten Daseins des Menschen mit all seinen Facetten.

Inzwischen ist das Biopsychosoziale Modell an mehreren Universitäten etabliert. Die Universität Rochester verwendet das Biopsychosoziale Modell in Forschung und Ausbildung. An der Universität Augsburg wird es im Studiengang Humanmedizin als „inhaltliche Leitidee“ anerkannt. Auch die medizinische Universität Graz erhob das Biopsychosziale Modell zum Leitbild und besetzte 2011 mit Josef W. Egger den ersten Lehrstuhl in diesem Bereich.

Von dieser Erkenntnis war während der COVID-19-Pandemie wenig bis nichts zu spüren. Wo blieb der Aufschrei, wo die Empörung, die Verwirrung und Verwunderung von Medizinern und Wissenschaftlern über die einseitige Fokussierung auf den biologischen Bereich? Warum dominierten veraltete Modelle in einer solchen nie dagewesenen Krise? Wenn wir doch schon sinnvollere medizinische Ansätze gefunden haben, weshalb haben wir sie dann nicht für den Akutfall genutzt?

Chancen der biopsychosozialen Medizin

Es scheint ja gerade so, als ob die Pandemie eine Bestätigung für all die Kritikpunkte an der Biomedizin gewesen sei, welche schon vor Jahrzehnten geäußert wurden und die zur Entstehung der Biopsychosozialen Medizintheorie geführt haben: Krankheiten sind niemals nur biologisch oder psychologisch.

Jede Krankheit, ob Depressionen, koronare Herzkrankheiten oder eben virale Erkrankungen, weisen in der Ätiologie und Therapie immer soziale, psychische und körperliche Faktoren auf, die gleichsam erkannt und bewertet werden müssen. Gleiches gilt auch für non-pharmakologische Interventionen: Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Ausgangsbeschränkungen wirken selbstverständlich niemals nur biologisch.

Das Bewusstsein darüber hätte zu einer vollständig andersartigen Kommunikation und wissenschaftlichen Begleitung der Pandemie geführt. Es wäre weniger mit Angst gearbeitet worden und weniger mit Modellierungsstudien. Forscher hätten sich verstärkt interdisziplinär austauschen können und das Virus weniger aus rein epidemiologischen und virologischen Perspektiven heraus bewerten können. Gerade wenn es darum geht, die Gefahrenlage für ganze Bevölkerungen zu bewerten, ist eine mehrdimensionale Betrachtungsweise zentral.

Die Probleme, die durch den biomedizinischen Fokus entstanden, sind inzwischen bekannt und werden noch Gegenstand intensiver Debatten sein: psychische Erkrankungen (insbesondere bei Kindern und Jugendlichen), gestiegene Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut, Vertrauensverlust in Gesellschaft und Wissenschaft.

Bleibt zu hoffen, dass zumindest während der Aufarbeitung das Augenmerk auf die inzwischen als unzureichend anerkannten Prämissen der Biomedizin gelenkt wird und wir die Erkenntnisse der biopsychosozialen Medizin stärker berücksichtigen. Damit wir bei der nächsten Pandemie nicht wieder nur ängstlich auf Fallzahlen starren.

Tristan Nolting (geb. 1998, Lüdenscheid) schreibt über Gesundheit, Psychologie & Spiritualität. Er hat einen Master of Science in Psychologische Medizin / Komplementäre Medizin der Londoner Metropolitan Universität abgeschlossen. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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Ein Kommentar

  1. Karin Knöbelspies

    Vielen Dank an den Autor für diesen Artikel. Von Beginn der Pandemie an hat es mich entsetzt, dass nur und ausschließlich Somatiker*innen zu Wort kamen und gehört wurden. Sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Coronamaßnahmen suhlten in Zahlen. Was für ein trauriges und armseliges Menschenbild!

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