Die Besitzaristokratie wird immer reicher – Hyperreichtum und Refeudalisierung in Lateinamerika
Mit Blick auf die politische Ereignisgeschichte stellt sich Lateinamerika politisch zerrissen dar. Die (links-)demokratischen Regierungskoalitionen versuchen derzeit mehr den Rechtsrutsch zu verhindern denn linke Politik zu gestalten (Boric in Chile, Lula da Silva in Brasilien) oder haben sich bereits ganz von linken Reformprozessen abgewandt (López Obrador in Mexiko). Andere haben sich komplett von demokratischen emanzipatorischen Projekten verabschiedet (Nicaragua, Venezuela). Gleichzeitig ist ein fortschreitender Rechtsruck (El Salvador, Peru, Paraguay) zu beobachten, der auch politische Outsider in die Präsidentenämter (Argentinien) wirbelte. Diese und ähnlich gelagerte kursorische Aufzählungen des politischen Tagesgeschehens sind jedoch viel zu begrenzt, um die gegenwärtigen Veränderungen der politischen Kultur in Lateinamerika zu verstehen. Daher möchte ich hier auf der Zeitebene der Konjunktionen argumentieren und die Hypothese vertreten, dass der zeitgenössische Kapitalismus einem Prozess der Refeudalisierung unterliegt.
Refeudalisierung bedeutet nicht die Rückkehr zum historischen europäischen Feudalismus. Vielmehr ist es eine Wiederkehr – im Sinne von Marx’ Bonmot von der Wiederholung der Geschichte als Farce – von Elementen, Diskursen und Positionen, die eine hohe Analogie zu feudalen Elementen aufweisen, aber ihre Wirksamkeit im gegenwärtigen kapitalistischen Weltsystem entfalten.
Der Prozess der Refeudalisierung findet seinen ersten Ausdruck in der dramatischen Veränderung der Sozialstruktur, die sich immer weiter vom demokratischen Versprechen der Gleichheit oder zumindest der Chancengleichheit entfernt. Weltweit erleben wir eine historisch nie dagewesene soziale Polarisierung. Seit 2015 verfügt das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung über mehr Vermögen als der gesamte Rest der Weltbevölkerung. Im Jahr 2015 wurde die Zahl der Milliardäre weltweit auf etwa 2500 geschätzt, mit einem durchschnittlichen Nettovermögen von etwa 3 Milliarden Dollar. Die heutige Sozialpyramide ähnelt der des vorrevolutionären Frankreich im 18. Jahrhundert.
Einmal in den sozialen Stand der Geldaristokratie hineingeboren, ist ein sozialer Abstieg kaum denkbar. Stattdessen kommt es zu einer intergenerationalen Verfestigung sozialer Positionen und zur Herausbildung eines ausgeprägten Lebensstils. Weltweit hat mehr als die Hälfte aller Milliardäre ihr Vermögen durch die Akkumulation früherer Generationen erhalten. Das gilt besonders für die lateinamerikanischen Milliardäre, von denen 72 Prozent den Hauptanteil ihres Vermögens geerbt haben. Hier bilden sich wahre Geldadelsdynastien heraus, einige haben ihre Wurzeln, wie im Fall von Piñeira in Chile, bereits in der Kolonialzeit oder in der Zweiten Conquista Lateinamerikas des 19. Jahrhunderts, wie die Familie Matte in Chile, Hochschild in Bolivien/Peru, Brescia in Peru, Noboa in Ecuador. Andere Superreiche in Lateinamerika gewannen ihren Reichtum im Zuge des Massenkonsums im 20. Jahrhundert (Supermarktketten, Brauereien), besonders seit der neoliberalen Wende samt ihrer Privatisierungspolitiken.
Allgemein bemerkenswert ist, dass die Milliardäre in Lateinamerika reicher sind als in anderen Weltregionen. Entgegen der marktradikalen Ideologie, die von den Neoliberalen in ganz Lateinamerika vertreten wird, ist gerade keine marktorientierte, „offene Gesellschaft“ mit gleichen Wettbewerbsbedingungen entstanden, sondern eine refeudalisierte Gesellschaft mit monopolistischen Aneignungen, die die neue Besitzaristokratie gestärkt hat.
Segregation und zunehmende soziale Kluft
Die soziale Distinktion der Aristokratie der Hyperreichen findet ihren räumlich homologen Ausdruck in der Segregation. „Soziale Distanzierung“ findet auf verschiedenen Ebenen statt, von der Mauer zwischen Mexiko und den USA bis zur Bunkerarchitektur der Zitadelle in Gated Communities. Nicht nur Wohnviertel, auch die Orte des Konsums und der Zirkulation der Reichen werden abgesondert und von öffentlichen Plätzen entfernt. Mit der sozialen Fragmentierung der Stadt kommt räumlich das Ende der modernen Vorstellung einer klassenübergreifenden sozial integrierten Gesellschaft zum Ausdruck.
Die unterschiedlichen neuen Stände bewegen sich in eigenen, abgetrennten und kontrollierten Räumen statt in gemeinsamen öffentlichen Räumen. Dieser Prozess ist längst nicht abgeschlossen. Vielmehr wird er durch die Vorstellung von Smart Cities, die über Informationstechnologie eng vernetzt einen schnellen Zugang zu globalen Verkehrsknotenpunkten haben, befeuert. Geplanten Städten, die exklusiv für die Eliten eingerichtet werden, kommt eine steigende Bedeutung zu. Am weitesten gehen hier die Überlegungen zu Free Private Cities wie Próspera in Honduras. Dieses Projekt orientiert sich an der Idee der Sonderwirtschaftszone und plant eine extraterritoriale Stadt, inklusive politischer Verwaltung ohne Staat und Steuern, für das eine Prozent der oberen Gesellschaftsschicht. In dieser neuen Stadt, die von jedweder demokratischen Regulierung abgekoppelt ist, gibt es keine Armen mehr: die Stadt als Fürstentum der Geldaristokratie.
Paradoxerweise hat die Zahl der Milliardäre in Lateinamerika während der Amtszeit linker Regierungen in den 2000ern und 2010ern massiv zugenommen. Laut einer Studie des Finanzdienstleisters Capgemini stieg sie von 420 im Jahr 2008 auf fast 560 im Jahr 2016. Offensichtlich gab es in der Zeit der Linksregierungen einen regionalen „Fahrstuhleffekt“, bei dem alle Klassensegmente einen sozioökonomischen Aufstieg erlebten, ohne dass sich die soziale Kluft grundlegend verringert hätte. Anstatt eine Umverteilungspolitik (von der Vermögens- und Erbschaftssteuer bis zur Agrarreform) zu betreiben, beschränkten sich die linken Regierungen auf staatliche Unterstützungsprogramme für die unteren Schichten, die durch den Rohstoffboom finanziert wurden. Mit dem in den 2010er-Jahren einsetzenden Rückgang der Rohstoffpreise und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise fielen die gesellschaftlichen Sektoren, die in jenen Jahrzehnten aufgestiegen waren, wieder in die Unterschicht zurück. Dieser „Bungee-Effekt“ lässt die soziale Kluft noch größer werden. Die Geldaristokratie bleibt an der Spitze und die Mittelschichten fallen tief.
Laut einer Studie von Oxfam verschärfte sich diese soziale Kluft in der Covid-19-Pandemie. Zwischen März und Juni 2020 stieg der Reichtum der lateinamerikanischen Geldaristokratie um 18 Prozent, acht neue Personen traten in den erlauchten Kreis der Milliardäre ein.
Refeudalisierung in Ökonomie und Politik
Während Milliardäre in den USA ihren Hyperreichtum auf den Finanzmärkten oder in der New Economy erworben haben, spielt in Lateinamerika der Landbesitz weiterhin eine wichtige Rolle für die Kapitalakkumulation und die Reproduktion sozialer Ungleichheit. Nach Angaben der FAO hat Lateinamerika die ungleichste Landverteilung der Welt. Der Gini-Koeffizient erreicht hier 0,79 und liegt damit weit über Europa (0,57), Afrika (0,56) und Asien (0,55).
Die Akkumulation durch Enteignung ist jedoch nicht auf die oben genannten Prozesse beschränkt, die im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft als legal gelten. Vielmehr sind illegale Aktivitäten integraler Bestandteil der aktuellen Refeudalisierungstendenzen. Ein schneller Blick auf die Listen der reichsten Menschen der Welt lässt Kriminelle auffallen. Bereits 1987 nahm Forbes den kolumbianischen Drogenboss Pablo Escobar Gaviria sowie die ebenfalls aus Kolumbien stammenden Ochoa-Brüder Jorge Luis, Fabio und Juan David auf die erste Liste der Milliardäre auf. Auch der Anführer des mexikanischen Sinaloa-Kartells, Joaquín Guzman, genannt „El chapo“, wurde auf der Liste der reichsten Männer der Welt geführt, bis er 2014 verhaftet wurde.
Hier wird das moderne Gewaltmonopol des Staates ebenso demontiert wie das Menschenrecht auf die Unverletzlichkeit der Person. Wie Raubritter, die sich städtischem Handelskapital und landesherrlicher Obrigkeit widersetzten, fallen bewaffnete Gruppen über Anwohner*innen und Migrant*innen her. Jenseits dieses Banditentums führen sich Kartelle in Mexiko und Kolumbien wie neue Lehnsherren auf, die in dem von ihnen kontrollierten Territorium Abgaben für die Gewährleistung von Sicherheit verlangen. In Aussetzung bürgerlich-demokratischer Rechte wird stattdessen das feudale Prinzip der Schutzgeldzahlungen an lokale Machthaber eingeführt.
Der Niedergang des Leistungsprinzips ist ein Abschied von der einst von Max Weber beschriebenen Idee des „Geistes des Kapitalismus“ und des Unternehmertums. In der heutigen Konsumgesellschaft, in der Identitätsbildung besonders durch Konsum stattfindet, wird der vom „neidvollen Vergleich“ getriebene Luxuskonsum zu einem zentralen Element für die neue Geldaristokratie. Im Gegensatz dazu verfallen die unteren Gesellschaftsschichten, getrieben von kulturellen Versprechungen der Konsumgesellschaft, in einen kreditkartengesteuerten Konsumzwang, der sie in eine neue Form der Schuldknechtschaft treibt. Erhebungen zufolge gab das unterste Einkommensfünftel in Chile bereits in den 2000ern 67 Prozent seines Einkommens für die Rückzahlung von Krediten aus. Mehr als 80 Prozent der so Verschuldeten gingen davon aus, dass sie ihre Kredite nicht zurückzahlen können. Verstärkt durch die Pandemie ist diese neue Form der Schuldknechtschaft lateinamerikaweit zu einem der finanziellen Hauptprobleme der von Armut betroffenen Haushalte geworden.
Identitätspolitische Implikationen der Refeudalisierung
In den 1990er-Jahren setzte in den meisten lateinamerikanischen Ländern eine plurikulturelle Neudefinition der Nation ein, die von den nachfolgenden Mitte-Links-Regierungen erweitert wurde. Das auf die weißen Eliten ausgerichtete aristokratische Modell der Nation wurde infrage gestellt, die demokratische Beteiligung erheblich ausgeweitet. Dies manifestierte sich auch in der politischen Repräsentation, wonach soziale „nobodys“ wie der indigene Kokabauer Evo Morales oder der Stahlarbeiter Lula da Silva Präsidenten werden konnten. Gleichzeitig nahm unter linken Regierungen die politische Beteiligung von Frauen stark zu, sodass Lateinamerika 2013 als die Weltregion mit dem höchsten Frauenanteil in den Parlamenten galt. Heute ist die Situation radikal anders. Über Wahlen und „kalte Putsche“ ist in den letzten Jahren eine Rückkehr des weißen Mannes an die politische Macht zu beobachten, der der Geldaristokratie nahesteht oder sie verkörpert.
Sebastián Piñera in Chile, dessen Vermögen bei seinem Amtsantritt auf 2,2 Milliarden Dollar geschätzt wurde, hat die Kehrtwende gegen die „Linke“ 2010 eingeleitet. In Argentinien stand die Präsidentschaft von Mauricio Macri (2015-2019) beispielhaft für diesen Trend, während in Brasilien der sogenannte Sojabaron Blairo Maggi Landwirtschaftsminister war (2016-2019). In Ecuador findet die Herrschaft der Geldaristokratie ihren Ausdruck in der Präsidentschaft des Bankiers Guillermo Lasso und aktuell in der Präsidentschaft des Bananenimperiumserben Daniel Noboa.
So wiederholt sich die immense Kluft, die sich im sozioökonomischen Raum zwischen den Volksschichten und der Geldaristokratie aufgetan hat, auch im politischen Bereich. Nun sind es zunehmend Vertreter*innen der Geldaristokratie, die die politische Gemeinschaft repräsentieren. Wir haben es mit einer Verdoppelung von wirtschaftlicher Macht in politische Macht zu tun, die einen nicht zu unterschätzenden Naturalisierungseffekt hat und auch als Resakralisierung verstanden werden kann.
Parallel hierzu sind weitere Diskurse der Resakralisierung festzustellen. Weite Teile der Bevölkerung wenden sich religiösen Gemeinschaften und deren Heilsversprechen zu, besonders evangelikalen Gruppen. Der Religionssoziologe Heinrich Schäfer hat herausgearbeitet, wie die bereits während des Kalten Krieges propagierten Vorstellungen eines geistigen Krieges gegen „teuflische Mächte“ erneuert und über das traditionelle Feindbild „Kommunismus“ hinaus auch auf ethnische Gruppen bezogen wurden. Zusätzlich fördert die Ablehnung der sogenannten „Genderideologie“ einen neuen Autoritarismus.
Die Feministin Rita Segato hat Gewalt gegen Frauen, insbesondere die Femizide in Ciudad Juarez, als regressive Verbindung von Postmoderne und Feudalismus analysiert. Segato sieht den „feudalen und postmodernen Baron“ mit seiner Gruppe von Gefolgsleuten „als Ausdruck par excellence seiner absolutistischen Herrschaft über ein Territorium, in dem das Recht auf den Körper der Frau eine Erweiterung des Rechts des Herrn auf sein Landgut ist“.
Auch in den staatlichen Politiken ist eine Rückkehr zur souveränen Macht zu beobachten, die Michel Foucault als das Recht zu töten charakterisiert. Ein zentraler Aspekt der Regierungstechniken verschiedener rechter Regierungen ist die Bestrafung, um das autoritär-neoliberale Projekt zu sichern. Deutliche Beispiele sind die repressive Politik des salvadorianischen Präsidenten Bukele oder Polizei- und Militäraktionen gegen indigene Bevölkerungsgruppen, insbesondere wenn sie sich gegen extraktivistische (Bergbau, Soja, Palmöl) oder Megaprojekte (Staudammbau, Verkehrsinfrastruktur) wehren.
Die sozialwissenschaftliche Forschung und politische Debatte steht vor der Herausforderung, Eliten nicht nur als integrale Bestandteile kapitalistischer Gesellschaften, die demokratisch verfasst sind, zu begreifen, sondern die Herausforderung anzunehmen, Gesellschaft grundlegend neu zu denken und dabei die vielfältigen Spaltungen und Segregationen und auch die Erneuerung antidemokratischer, antiemanzipatorischer struktureller Dynamiken und Tendenzen zu begreifen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 474 April 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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