Äußerst flexible Überlebenskünstler*innen in Brasilien: Die Barbalhos bestimmen die Politik in Amazonien

Die Augen der Welt richten sich auf Belém. Hier, in der Hauptstadt des Bundesstaats Pará, wird 2025 die 30. COP (Conference of the Parties) der Klimakonvention stattfinden. Es soll nicht eine weitere COP sein, sondern ein Wendepunkt in den internationalen Klimaverhandlungen. Mit Hoffnungen aufgeladen ist sie schon jetzt. Brasiliens Präsident Lula gilt als Unterstützer des internationalen Klimaprozesses. Dass zum ersten Mal eine COP in der Amazonasregion stattfinden wird, hängt auch mit einer gewichtigen Politikerdynastie zusammen: den Barbalhos.

Pará ist der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich bedeutendste Bundesstaat in Amazonien. 8,7 Millionen Menschen leben auf 1245 Millionen km², Pará ist mehr als dreimal so groß wie Deutschland. Gouverneur des Bundesstaates ist Helder Barbalho. Dieser ist Sohn des ehemaligen Gouverneurs Jader Barbalho, der heute immer noch als Senator in der Politik aktiv ist. Seine Mutter, Elcione Barbalho, ist Abgeordnete im Bundesparlament. Obwohl inzwischen von Jader geschieden, ist sie weiterhin Teil der familiären Politikgruppe. Der zweite Sohn des Paares ist im letzten Jahr Minister für Städte geworden, ein nicht ganz unbedeutendes Ministerium, das unter anderem für das Programm Minha Casa – Minha Vida („Mein Haus – Mein Leben“) zuständig ist, ein Flaggschiff der Regierung Lula. Sein Name lautet übrigens Jader Filho („Sohn“). Die Barbalhos sind heute nicht die einzige, aber die mit Abstand erfolgreichste politische Familiengruppe in Brasilien. Sie sind ein herausragendes Beispiel für die Überlebenskunst und Resilienz politischer Eliten, für die politische Unkultur der Straffreiheit, aber auch für deren Kraft, sich zu erneuern und sich ändernden politischen Gegebenheiten anzupassen.

Die Geschichte der Barbalhos

Als ich 1995 nach Belém zog, erhielt ich eine Lektion in regionaler Politik. Jader Barbalho war noch Gouverneur in Pará und galt als Musterbeispiel für Korruption und als großer Widersacher der erstarkenden Arbeiter*innenpartei PT. Heute ist die Gruppe Barbalho eine der wichtigsten Verbündeten der Lula Regierung. Wie konnte es dazu kommen?

Schaut man über die Zeitungsartikel, die die politische Karriere Jader Barbalhos begleiten, so erscheint sie als eine nicht enden wollende Serie von Skandalen. Dabei startete er durchaus ehrenvoll. Jaders Vater war schon Abgeordneter, sein Mandat wurde von der Militärdiktatur kassiert. Auch die Karriere Jaders begann in der MDB (Movimento Democrático Brasileiro), die zu Zeiten der Militärdiktatur die einzige zugelassene Nicht-Regierungspartei war und als sehr eingeschränkte Opposition zur Militärdiktatur geduldet wurde. Barbalho stammt nicht aus einer der Familien der traditionellen Eliten Amazoniens und baute seine Karriere von Anfang an selbst auf. Vom Abgeordneten in Belém über ein Mandat im Parlament des Bundesstaates schaffte er es, 1983 zum Gouverneur gewählt zu werden. Diese Wahlen waren ein Wendepunkt in der brasilianischen Geschichte, weil sie zu einem überwältigenden Sieg der Opposition über die Kandidaten der Militärdiktatur wurden. Im Jahr 1988 folgte ein weiterer Höhepunkt in der Karriere Barbalhos. In der Regierung Sarney, der ersten zivilen Bundesregierung nach der Militärdiktatur, wurde er zum Minister für Agrarreform. In dieser Zeit begann seine nationale Karriere als Symbol für Korruption.

Barbalho brachte das Kunststück fertig, die Agrarreform zu einem Instrument der Bereicherung von Großgrundbesitzern zu machen. Große, unproduktive Ländereien wurden gegen Entschädigungen enteignet, die weit über dem Marktwert lagen. Ein besonders krasser Fall führte zu einem der zahlreichen Verfahren gegen Jader. Bei der Enteignung der Fazenda Vila Rural wurde eine Entschädigung gezahlt, die 59-mal höher war als der Wert, den ein technisches Gutachten festgestellt hatte.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auch nur einen Überblick über die Skandale zu geben, in die Jader und seine Familie verwickelt waren. Als Beispiel soll ein landesweit bekannter Skandal dienen, der etwas skurrile Züge trägt. Im Jahr 1990 war Jader zum zweiten Mal Gouverneur von Pará und von Elcione getrennt. Zum Einflussbereich der Barbalhos gehörte die SUDAM, eine regionale Entwicklungsagentur mit reichlich Mitteln für Subventionen. Diese bewilligte einen Millionenzuschuss für ein Projekt zur Froschzucht in Amazonien, bekannt als „Ranario Touro“. Begünstigte war Marcia Zaluth, mit der Jader damals liiert war und die er später heiraten sollte (übrigens eine Nichte von Elcione). Weder die Froschzucht noch die juristische Auseinandersetzung darum zeigten Ergebnisse. Allerdings wurden die „Frösche der Frau von Jader“ zu einem Symbol der Misswirtschaft der SUDAM.

Ein anderer Skandal hätte fast die politische Karriere Jaders beendet. Untersuchungen zeigten, dass im Jahr 1984 zehn Millionen US-Dollar der Banpará verschwunden waren. Etwa die Hälfte des Geldes wurde auf einem Konto von Jader in Rio gefunden. Die langjährigen und unübersichtlichen Prozesse gegen Jader führten letztlich zu nichts. Im Jahr 2015 wurden sechs Prozesse wegen Verjährung eingestellt. Jader wurde durch ein Gesetz begünstigt, das die Verjährungsfrist für Menschen über 70 Jahre halbiert. Schließlich stellte der Oberste Gerichtshof Brasiliens im Jahr 2022 ein Verfahren gegen Jader aus Mangel an Beweisen ein. Hier ging es um Schmiergelder beim Bau des Staudamms Belo Monte. Jader Barbalho ist beredtes Beispiel dafür, wie es in Brasilien möglich ist, trotz unzähliger Skandale und juristischer Verfahren ungestraft davonzukommen. 2010 und 2018 gewann Jader die Wahlen zum Senator, heute gilt er als unbescholtenes Mitglied des hohen Hauses.

Der neue König des Nordens

Sohn Helder Barbalho musste die politische Ochsentour durchlaufen. Auch er begann als Abgeordneter im Parlament des Bundesstaats. Bereits 2005 wurde er mit nur 25 Jahren zum Bürgermeister von Ananindeua gewählt, einem Vorort von Belém mit über 500000 Einwohner*innen. Im Jahr 2015 erfolgte ein wichtiger Schritt in Helders Karriere. Er wurde zum Minister für Fischerei im Kabinett von Dilma Rousseff. Die von Lula vermittelte Ernennung war ein wichtiger Schritt, um die Allianz zwischen der Familie Barbalho und der PT zu festigen. Diese Allianz geriet durch das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma in Schwierigkeiten. Helder musste noch im selben Jahr vom Ministeramt zurücktreten, weil seine Partei (MDB) die Regierungskoalition verliess. Bald kehrte er unter Temer ins Kabinett zurück, nun als Minister für nationale Integration, in einem wichtigen Ministerium mit beachtlichen Finanzmitteln. Vater Jader war bei der entscheidenden Abstimmung über das Impeachment abwesend, er liess sich krankschreiben. Die Familie Barbalho entkam der Verurteilung der PT als Putschisten.

Dies erleichterte die erneute Annäherung 2018, als Helder mit Unterstützung durch die PT im zweiten Wahlgang zum Gouverneur von Pará gewählt wurde. Damit festigte sich eine Konstellation, die bis heute trägt: Die Familie Barbalho positionierte sich eindeutig und entschlossen gegen Bolsonaro und ist nunmehr Bündnispartner der PT. Bei seiner Wiederwahl 2022 wurde Helder bereits im ersten Wahlgang von der PT unterstützt, erreichte mit über 70 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang das beste Ergebnis aller Gouverneure Brasiliens und wurde zum neuen „König des Nordens“.

Der Lohn dafür kam unmittelbar nach der Wahl Lulas zum Präsidenten. Bei dem insgesamt knappen Ausgang waren der deutliche Sieg von Lula in Pará sowie die Unterstützung von Seiten der Barbalhos wichtige Faktoren für den Erfolg Lulas. So trat auch der zweite Sohn von Helder und Elcione Barbalho, Jader Filho, auf die politische Bühne und erhielt das Ministerium für Städte. Und Gouverneur Helder wurde mit der COP 30 belohnt. Die Familie Barbalho zeigt insgesamt großes Geschick und ein Gespür für die Zukunft, zudem verfügt sie über ein regionales Medienimperium.

Kontinuität und Erneuerung

Die politische Laufbahn der Familie spielt sich seit Jaders Vater in derselben Partei ab, der MDB (die zwischendurch PMDB hieß). Das ist eher ungewöhnlich für das politische System Brasiliens. Außerdem hat die Familie trotz Scheidungen zusammengehalten. Die Frau von Helder folgt der Familientradition als Mitglied des Landesrechnungshofes von Pará.

Helder selbst steht für eine politische Erneuerung der Familiengeschäfte. Er profiliert sich als grüner Gouverneur, mit politisch korrektem Diskurs über Nachhaltigkeit, Waldschutz, eine Bioökonomie des Waldes (statt einer Ökonomie der Entwaldung), Schutz der indigenen Bevölkerung. Alles kommt Helder flott und gekonnt über die Lippen. Auf der COP 27 (2022) im ägyptischen Sharm El-Sheikh trat er mit einer großen Delegation auf, setzte sich von Bolsonaro durch klimafreundliche Diskurse ab und warb für Unterstützung von Belém als Austragungsort der COP 30. Die politische Bilanz von Helder Barbalho ist nicht so brillant wie seine Diskurse. Seit 2006 ist Pará der Bundesstaat mit der höchsten Entwaldungsrate in Brasilien. Ein Bericht der Organisationen Justiça Global und Terra de Direitos zeigt, dass Pará von 2019 bis 2022 der Bundesstaat mit der größten Zahl von Menschenrechtsverletzungen war: Pará bleibt eine Region voller ökologischer und sozialer Konflikte. Helder will all dies durch Konsens lösen, auch und gerade mit dem Agrobusiness – dies verbindet ihn mit Lulas nationaler Politik. Die sozialen Bewegungen wollen daher die COP 30 nutzen, um die Widersprüche der grünen Versprechungen der Bundes- und Landesregierung aufzuzeigen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 474 April 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Thomas Fatheuer / Informationsstelle Lateinamerika:

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