In deutsche Medien kein Grund zur Aufregung

Sind Sie Despot/Diktator? Versprechen Sie der deutschen Bundesregierung das Einsperren und die Versklavung einer siebenstelligen Zahl von Flüchtlingen – dann können Sie mit Ihrer Opposition verfahren, wie Sie wollen. Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ wurden gestern rechtswidrig von einem türkischen Gericht zu 42 bzw. 30 Jahren Haft verurteilt. Rechtswidrig, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit 2020 ihre Freilassung forderte. Das interessiert aber weder Erdogan noch die EU.

Was machte sie so gefährlich für Erdogan? Und nicht nur ihn? Ich fasse es mal so zusammen: sie haben den kurdischen Widerstand gegen Polizei und Staatsterror entterrorisiert und demokratisiert. Sie verbanden gesellschaftliche Mobilisierung mit Erfolgen bei parlamentarischen Wahlen. Sie integrierten nicht nur 35 Mio. Kurd*inn*en in die türkische Gesellschaft. Sie verbanden sie mit der wachsenden linken und liberalen Opposition in einer autoritär von vorgeblich religiösen Männern beherrschten Gesellschaft. Was sie verfolgten, wird gemeinhin von dem wunderbaren Begriff Emanzipation zusammengefasst – Befreiung von Abhängigkeiten.

Ihre Wahlerfolge – 13% für ihre Partei 2015 und knapp 10% für Demirtaş als Präsidentschaftskandidat 2014 – machten sie nicht nur für Erdogan gefährlich, soondern auch zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für die kemalistisch-antikurdische Orientierung der oppositionellen CHP (Cumhuriyet Halk Partisi). Ihre HDP (Halkların Demokratik Partisi) integrierte nicht nur die Kurd*inn*en, sondern auch urbane Intellektuelle, die des Islamismus so überdrüssig sind, wie der mannigfaltigen türkischen Militärdiktaturen.

Doch offenbar war die internationale Netzwerkarbeit unzureichend. Denn ein umfallender Sack Reis in Taipeh hätte vermutlich für mehr Aufregung in der demokratischen Öffentlichkeit EU-Europas gesorgt. Eine Tagesschau-Meldung, nur online, bei der es schon für ein bisschen Wikipedia-Lesen nicht mehr gereicht hat.

Eine Stellungnahme der EU oder gar der Bundesregierung wurde mir nicht bekannt. Der Bundespräsident war vor knapp einem Monat dort. Hat er das rechtswidrige Gerichtsverfahren angesprochen, gar Druck ausgeübt für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit? In seinem Kommunique gibt es dazu den trockenen Satz: “Bei einem Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft tauscht sich der Bundespräsident über die Lage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Republik Türkei aus.” Da könnte es gewesen sein. War es das?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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