Die Vision des Ökosozialen und Interkulturellen Pakts des Südens

Mit den diversen Green Deals hat die Welt anerkannt: Es muss sich etwas ändern. Doch ein lateinamerikanisches Bündnis von Intellektuellen und Aktivist*innen kritisiert, dass die Deals nicht weit genug gehen. Stattdessen braucht es Antworten aus den Zivilgesellschaften des Südens. Zehn Forderungen für eine gerechte Energiewende.

Im Jahr 2020, während der ersten Monate der COVID-19 Pandemie, wurde der Ökosoziale und Interkulturelle Pakt des Südens (Pacto Ecosocial e Intercultural del Sur; englische Version hier) ins Leben gerufen. Sein Ziel ist es, über Alternativen der sozialökologischen Transformation in Lateinamerika nachzudenken. Von Anfang an hat die Plattform unterschiedliche lokale Kämpfe verbunden und unterstützt. Dazu zählen gemeinschaftliche Kontrolle, territoriale Autonomie, Ernährungssouveränität, Agrarökologie, gemeinschaftliche Energien und Ökofeminismus. Die Initiative entstand einerseits als dringende Reaktion auf die zahlreichen Krisen in der Welt, andererseits aus der Notwendigkeit, eine lateinamerikanische Alternative zu den immer einflussreicheren Transformationskonzepten und Green Deals anbieten.

Die „neue Normalität“, die sich nach vier Jahren Pandemie unter den Vorzeichen von Chaos und Instabilität eingestellt hat, spiegelt die Verschärfung mehrerer miteinander verflochtener Krisen wider – sozial, wirtschaftlich, politisch, ökologisch, gesundheitlich und geopolitisch. Es ist eine zivilisatorische Polykrise und wir leben mit der ständigen Gefahr, dass es zwischen diesen Dimensionen eskaliert.

Dabei machen uns auch die Schwächung demokratischer Institutionen und die Zunahme von extremen Rechten, Autoritarismus und Kriegskultur in der ganzen Welt Sorgen. Diese Phänomene sind in Kapitalismus, Kolonialismus, Patriarchat und Rassismus verwurzelt. Der Krieg hat zu einer extremen Ausweitung von traditionellem und neuem Extraktivismus (siehe Beitrag von Kristina Dietz), der mit der Energiewende in Ländern des Globalen Nordens zusammenhängt, geführt.

Das Problem an den Green Deals

In Anbetracht der unvermeidlichen Zusammenbrüche des Systems wurde die Energiewende von weiten Teilen der Wirtschaft und Politik in aller Welt begrüßt. Die meisten von ihnen sehen die Notwendigkeit, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Dabei stellen sie aber weder die derzeitige Verteilung von Kapital infrage, noch setzen sie dem Wirtschaftswachstum Grenzen. Ihre Transformationsprogramme beruhen auf unternehmerischen, technokratischen, neokolonialen und sogar extraktivistischen Konzepten, die keine strukturellen Veränderungen erfordern.

Der Ökosoziale Pakt stellt diese Ansätze infrage und schlägt vor, die sozial-ökologische Transformation in einer Logik der globalen Gerechtigkeit zu verankern, als Kritik an und Alternative zu den dominanten Transformationskonzepten.

In den letzten Jahren haben verschiedene Vorschläge wie der Green New Deal (GND) oder Grüne Pakte an Bedeutung gewonnen. Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Deals, aber insgesamt bilden sie heute den politisch-diskursiven Rahmen im Globalen Norden. Es geht darum, CO2-Emissionen zu reduzieren und ein vermeintlich gerechtes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu ermöglichen.

Die Green Deals des Globalen Nordens erkennen die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit einer Verbindung von wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Dekarbonisierung an. Aber nicht einmal der bisher ambitionierteste europäische Green Deal schlägt eine vollständige ökonomische Transformation vor. Im Wesentlichen bleibt er ein Versuch der Eliten, das Energiesystem grundlegend zu ändern, ohne die bestehenden Machtstrukturen und die Logik des Wachstums und der kapitalistischen Akkumulation zu hinterfragen. Der US-amerikanische Green New Deal ist weitgehend ein Wunschkonzert. Unter der Regierung von Joe Biden wurden Millionen Hektar für Offshore-Projekte zur Ölförderung in der Arktis zur Verfügung gestellt. China setzt trotz seines Plans, bis 2060 klimaneutral zu werden, weiterhin massiv auf Kohle, obwohl es das Land mit den höchsten CO2-Emissionen der Welt ist. Und die EU stellt mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs fest, dass das Netto-Null-Ziel nicht zu erreichen sei, und definierte sogar Gas und Atomenergie als grün. Außerdem treibt sie das Mercosur-Abkommen voran, um sich Zugang zu den entscheidenden Rohstoffen für die Energiewende zu sichern.

Die Transformation vom Süden her denken

Viele dieser Vorschläge reduzieren die notwendige ökosoziale Wende auf die Energiewende. Der grüne Kolonialismus ist das Herzstück eines neuen kapitalistischen Konsenses, den wir als Dekarbonisierungskonsens definieren. Für uns ist es essenziell, die neue Zunahme des Extraktivismus im Namen der „grünen“ Energiewende des Nordens zu kritisieren. Die Struktur des fossilen Regimes bleibt erhalten. Marktkonzentration und territoriale Eingriffe von oben kennen wir schon vom früheren Rohstoffraubbau. Ein Beispiel für diese unternehmerische Wende ist das sogenannte „Lithiumdreieck“ Nordargentinien, Chile und Bolivien. Hier sind wir schon heute Zeug*innen dieser Neuordnung des Extraktivismus im Sinne einer grünen Wende für den Globalen Norden. Was diese hegemonialen Green Deals als „Wende“ bezeichnen, ist lediglich ein breiteres Aufstellen der Energieversorgung.

Wo es wirklich darum geht, soziale Gerechtigkeit mit Umweltgerechtigkeit zu verbinden, ist die „gerechte Wende“ auf die eigenen nationalen Strukturen beschränkt, ohne die Auswirkungen auf den Globalen Süden zu berücksichtigen. So wird eine ökologische (und digitale) Wende gefördert, die den kapitalistischen Gedanken von unbegrenzter Akkumulation nicht aufgibt. Und das erfordert eine verstärkte Ausbeutung natürlicher Ressourcen.

Als Gegenentwurf schlagen wir vor, gerechte Transformationen vom Süden aus zu denken, um uns nicht vom Norden Konzepte diktieren und uns wieder kolonisieren zu lassen. Wir müssen diese fragmentierte Herangehensweise hinter uns lassen und eine ganzheitliche Vision von sozialökologischen Transformationen entwickeln. So eine Transformation muss sich mit der radikal ungleichen Verteilung von Energieressourcen befassen. Sie muss antikapitalistisch und dekolonial sein und sie muss die Resilienz und Regeneration der Zivilgesellschaft und alles natürlichen Lebens stärken. Ansonsten bleibt die Energiewende eine partielle Reform, die nicht die strukturellen Ursachen des Kollapses angeht. In unserem Vorschlag geht es um die Geopolitik der sozialökologischen Transformation. Dafür müssen wir die territorialen und wirtschaftlichen Nord-Süd-Beziehungen aus zwei Perspektiven analysieren: erstens, durch die Brille des historischen Kolonialismus, als Fortsetzung der kapitalistisch-imperialen Enteignung, zweitens indem wir die falschen Lösungen entlarven, die Staaten und Unternehmen anbieten, die für ihre zerstörerische Rolle in lokalen Kontexten bekannt sind.

Wer schuldet wem? 2.0

Ein zentrales Thema, das in Klimadiskussionen zwischen Regierungen des Nordens und des Südens oft vernachlässigt wird, ist die ökologische Schuldenlast. Die hat ihre Ursprünge in der kolonialen Ausbeutung, sei es durch den Abbau von Bodenschätzen oder die großflächige Abholzung der Wälder. Heute zeigt sie sich zum Beispiel, wenn industrialisierte Länder für ihren räuberischen Lebensstil die Umwelt der arm gemachten Länder besetzen, ohne dafür zu zahlen.

Wir glauben, dass genau hier eine strategische Schnittstelle für den Dialog mit Kämpfen und kritischen Akteuren des Nordens ist, um eine globale und systemische Perspektive auf Postwachstum zu vertiefen und neue Möglichkeiten der internationalistischen Zusammenarbeit zu finden. Unter heutigen Vorzeichen müssen wir die alte Frage „Wer schuldet wem?“ neu stellen. Die ökologische Schuldenlast ist auch eine Klimaschuld, bei der durch die historischen Emissionen eine große Lücke zwischen Globalem Süden und Globalem Norden klafft. Europa und Nordamerika sind seit 1750 für mehr als 60 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, Südamerika für drei Prozent. Das darf genauso wenig ignoriert werden wie wir die ökologische Verschuldung alleine auf Lösungen durch monetäre Kompensation beschränken können. Kurz gesagt: Hegemoniale Konzepte der Transformation sind weit davon entfernt, die geopolitische Kluft zu verringern, und bergen die ernste Gefahr, koloniale und ökologische Schulden im Globalen Süden zu vertiefen. Klimagerechtigkeit oder eine sozial-ökologische Wende sind ohne Reparationsleistungen nicht möglich.

Zehn Forderungen für die gerechte Transformation

Anstatt die Energiefrage in den Mittelpunkt zu stellen, konzentrieren wir uns in der sozial-ökologischen Transformation auf eine strukturelle Veränderung des Energiesystems, das heißt des Produktionsmodells und der Beziehung zur Natur. Wie wir im Manifest für eine gerechte und populare sozial-ökologische Transformation aus den Völkern des Südens zum Ausdruck gebracht haben, verstehen wir unter Energiewende:

1. Energie ist ein Recht; Energiedemokratie ist eine Perspektive, um natürliche Öko- und gesellschaftliche Systeme aufrechtzuerhalten.

2. Soziale Gerechtigkeit muss mit Umweltgerechtigkeit verknüpft werden. In unseren Ländern bedeutet das die Beseitigung der Energiearmut und den Abbau von Machtverhältnissen, die nach wie vor einer privilegierten Gruppe der Gesellschaft Zugang verschaffen, gefährdete Gruppen ausschließen und feminisierte (1) Körper und die Natur zu Objekten machen.

3. Den Kohleausstieg unserer Gesellschaften und Volkswirtschaften: Dies ist wegen der ökologischen, historischen und kolonialen Spuren der Ausbeutung und der Vorkommen natürlicher Ressourcen (die exportiert werden „müssen“) im Süden eine größere Herausforderung als im Norden.

4. Wir müssen unsere ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen von fossilen Brennstoffen, dem Recht, die Natur auszubeuten, und der eldoradistischen Vorstellung von Entwicklung entkoppeln.

5. Das System verändern, nicht nur die Energiematrix (das heißt dekonzentrieren, deprivatisieren, dekommodifizieren, dezentralisieren, depatriarchalisieren, reparieren und heilen).

6. Die Umgestaltung von Produktionsmodellen und der sozialen und Naturbeziehungen.

7. Wechselseitige und Umweltabhängigkeiten sichtbar machen. Energie ist relational.

8. Auf die vom grünen Kolonialismus vorgeschlagenen „falschen Lösungen“ aufmerksam machen. Dazu gehören die Grenzen und Ambivalenzen der erneuerbaren Energien (Lithium und andere kritische Rohstoffe) sowie der von Unternehmen und Staaten auf Klimakonferenzen erzielte Konsens zu Energiemodellen, die für den Süden kontroverse Themen beinhalten (wie grünen Wasserstoff, intelligente Landwirtschaft, CO2-Märkte, Geo-Engineering). Sie zielen darauf ab, Machtverhältnisse zwischen Globalem Norden und Süden aufrechtzuerhalten.

9. Die ökologischen Schulden aus Perspektive des Südens zurückzufordern.

10. Mit weniger Materialien und Energie produzieren, um den sozialen Kreislauf zu deeskalieren.

Gleichzeitig sind wir uns des Gewichts von rückständigen und oligarchischen Kräften bewusst. Deshalb werden wir weiterhin Proteste und Vorschläge, Kritik und Alternativen miteinander verbinden. Wir unterstützen Ideen wie die Rechte der Natur, das Gute Leben, Verteilungsgerechtigkeit, Fürsorge und gerechte Transformation. Außerdem setzen wir uns für Autonomie, Postextraktivismus, ökoterritoriale Feminismen und Ernährungssouveränität ein. Wir stehen für einen anderen Pakt – nicht den hegemonialen Grünen Deal, sondern einen Pakt mit der Erde, der vom Süden und für den Süden kommt. Ein Pakt, der sich für andere Arten des Seins und Lebens mit und in der Welt einsetzt.

Anmerkung

(1) Bei dem Begriff geht es nicht darum, dass ein Körper biologisch weiblich ist, sondern dass er von einem patriarchalen System zu einem weiblichen gemacht und deswegen schlechter behandelt wird. Ein feminisierter Körper kann zum Beispiel auch der einer inter- oder transgeschlechtlichen Person sein.

Übersetzung: Inga Triebel. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 475 Mai 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Maristella Svampa, Alberto Acosta, Enrique Viale, Breno Bringel, Miriam Lang, Raphael Hoetmer, Carmen Aliaga und Liliana Buitrago / Informationsstelle Lateinamerika:

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