Wir haben eine skurrile Woche erlebt und es ist dem WDR 5 Radio zu verdanken, als einziges öffentlich-rechtliches Medium bei Besinnung geblieben zu sein. Abschieben wollen sie jetzt alle – auch die Grünen. Abschieben ist en Vogue. Auch wenn Amnesty International zurecht protestiert. “Es reicht jetzt”, wie Herr Merz sagt, das individuelle Asylrecht, die Errungenschaft des Grundgesetzes nach der Erfahrung des Nationalsozialismus, gehört weg, so auch Herr Söder. “Straftäter sollen nicht meinen, der Abschiebung entgehen zu können”, triumphiert der Kanzler am Donnerstag nach dem Abschiebeflug nach Afghanistan und die Grünen Irene Milalic und von Notz fordern rechtstaatlich “eine Zeitenwende in der Innenpolitik”.  WDR 5 fragte zurecht, was das denn alles bringt und vor allem: Was denn diese Symbolpolitik mehr bringt, als der AfD nachzugeben?

Die hatte kurz sichtlich Probleme, angesichts der Abschiebebereitschaft von Ampel bis CDU/CSU und BSW neue Forderungen zu erfinden, die noch weit über die der Regierung, vor allem aber der CDU/CSU und Friedrich Merz hinaus gingen. Und angesichts der am Freitag erfolgreichen “sensationellen” Abschiebung von “28 schweren Straftätern” (was sie  getan haben, wurde nicht bekannt) und damit demonstrierten, scheinbaren “Handlungsfähigkeit” blieb der AfD nichts übrig, als mit zu jubeln. Fünf Jahre Grenzen dicht und  totaler Migrationsstopp – da musste Weidel schon weit ausholen und tief in die Verfassungs- und menschenrechtsfeindliche Forderungkiste der Neonazis greifen.

Der asylpolitische Faustschlag der Ampelregierung

Am Donnerstag wurde von der Koalition ein Gesetzespaket präsentiert, das angeblich nun die Probleme lösen wird. Ausreisepflichtige nach dem Dublin-Abkommen sollen überhaupt kein Geld mehr für den Lebensunterhalt bekommen. Ob das gerichtsfest Bestand hat, darf bezweifelt werden. Alle anderen Maßnahmen sind nichts neues, eher Selbstverständlichkeiten im Verwaltungsvollzug. Das wichtigste Signal aber bleibt hängen: Wir machen jetzt endlich auch was gegen Flüchtlinge. Inhaltlich sanfter ausgedrückt, weniger verfassungswidrig oder -feindlich, als die Forderung nach Asylverfahren außerhalb der EU. Aber unterm Strich so, dass man sich etwas zivilisierter ausdrückt, aber mit der politischen oder staatlichen “Körpersprache” der AfD recht gibt. Die Ampelkoalition strickt damit an der wahrheitswidrigen Legende, dass ein Zündeln um das Asylrecht irgendetwas an den Ursachen von Flucht und Migration ändern würde. Dass Flucht und Krieg zwei Seiten derselben Medaille sind und nicht Grenzen oder Verfahren im Ausland daran etwas ändern können, ist die Asyl-Lüge, die heute ebenso verbreitet wird, wie in den 90er Jahren. Was fehlt, sind politisch Verantwortliche, die da nicht mitmachen. Das waren mal die Grünen. Wie sagt die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann: “Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.”

Die Berliner Politikblase ohne Selbstreflexion

Aber das wollte anscheinend auch  der sonst so geschätzte und schätzenswerte Bundespräsident Walter Steinmeier nicht, der am Dienstag “Ergebnisse und Verständigung” zwischen Scholz und Merz einforderte. Das ist seine Aufgabe nicht. Auch er sollte im 75. Jahr des Grundgesetz lieber kühl abwägen, was die Politik da gerade mit der Verfassung macht. Ja, jener Walter Steinmeier, der als Chef des Bundeskanzleramts unter Gerhard Schröder den Referenten Hans-Georg Maaßen mit einem juristischen Gutachten beauftragte, das zur Ursache wurde, dass der deutsche Staatsbürger Murat Kurnaz anschließend jahrelang nicht aus Guantanamo freikam, sondern weiter gefoltert wurde. Er hätte jeden Grund und die Pflicht, für den Schutz des Asylrechts um so konsequenter einzutreten, wie er das auch sonst für die Grundrechte tut.

Politgezänk statt Mitleid mit den Opfern, Trauer und Nachdenken über die Ursachen

Den WDR-Redakteuren – und mir ging es genau so – ist keine einzige emphatische Formulierung von Politikern gegenüber den Angehörigen und den Opfern im Gedächtnis geblieben. Sofort das überbordende Theater der Schuldzuweisungen, ohne dass die Sachverhalte sicher geklärt waren. Schnellurteile und altbekannte Forderungen aus der Mottenkiste bei Merz und Söder, sogar erkennbar allein schon vom innerparteilichen Trieb beflügelt, endlich mit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels abzurechnen. Keine Rücksicht auf das Grundgesetz, keine Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention – “immer nur feste druff” auf die Flüchtlinge und Ausländer, denn der von der AfD geprägte und von den demokratischen Parteien und Medien inzwischen kritiklos übernommene Begriff der “irregulären Migration” umfasst ja praktischerweise Flucht und Einwanderung. Die Benutzer des Begriffs haben das bis heute nicht mal gemerkt, geschweige denn begriffen.

Statt Ursachenanalyse Gesetzgebung im Belagerungszustand

Symbolische Politik ist ist in der Innenpolitik seit Jahrzehnten bekannt. Nach der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die RAF 1977 folgte eine Welle von Antiterrorgesetzen, die Bürgerrechte teilweise dramatisch verletzten oder aushöhlten. Weitere Gesetzespakete folgten nach den Anschlägen auf den Deutsche Bank-Manager Alfred Herrhausen durch die Kohl-Regierung, und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 durch Bin Laden auf das World Trade Center durch Rot-Grün. All diese Verschärfungen führten nicht etwa dazu, den Terrorismus wirksamer einzudämmen, im Gegenteil: Die (a)sozialen Netzwerke sind seit Mitte der Nuller-Jahre zum Rekrutierungsfeld und ideologischen Radikalisierungsreservoir für Islamisten, Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretiker, Klimawandel- und Coronaleugner geworden.

Gesetze im Belagerungszustand sind immer schlechte Gesetze

Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof  wiederum haben zahlreiche dieser unter Druck von Anschlägen mit “heißer Nadel” gestrickten Gesetze wie z.B. das “Luftsicherheitsgesetz”, die “Vorratsdatenspeicherung” und den “Staatstrojaner” nach Verfassungsklagen von Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Sabine Leuthäusser-Schnarrenberger und anderen wieder aufgehoben.  Was CDU und Beamte des Faeser-Ministeriums nicht davon abhält, sie heute wieder einzufordern. Die sozialdemokratische Rechtspolitikerin Hertha Däubler-Gmelin beschrieb diesen Mechanismus während der sozialliberalen Koalition 1979 etwa so: “Es ereignet sich ein furchtbarer Anschlag. Man guckt, was die CDU fordert und streicht die Hälfte weg und das ist dann sozialdemokratische Politik.” (Zit. nach Erhard Blankenburg, “Politik der Inneren Sicherheit”, 1980 S. 147). Seither hat sich offensichtlich nichts geändert, nicht nach dem 11. September 2001 und nach dem neuen Anschlag von Solingen im August 2024. Die ganze Stoßrichtung gegen Flüchtlinge und das Asylrecht ist nicht vom Ziel bestimmt, die Ursachen dieses Anschlages oder auch den Hintergrund des Attentats auf dem Breitscheidtplatz Berlin in Zukunft zu verhindern, sondern ein pauschales Vorurteil gegen Flüchtlinge im Allgemeinen und Muslime im Besonderen zur vermeintlichen Tatursache zu machen. Die Reaktion des Staates erinnert an die Schlussszene des Films “Casablanca” mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman von 1942: “Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.” sagt Capitaine Louis Renault.

Rassismus der politischen Mitte statt Ursachenbekämpfung

Der Glaube, entschlossene Terroristen würden sich von einem Messerverbot von der Tat abschrecken lassen, ist so naiv wie einfältig. Die sicher sinnvolle Optimierung der Rückführung von Asylantragstellern in das Land, in dem sie den Erstantrag gestellt haben, ist nach den Dublin-Regeln so sinnvoll, wie aufgrund der Korruption in den EU-Zielländern dieser Maßnahmen von fraglich dauerhaftem Erfolg. Ebenso absurd ist es, das fehlerhafte Verfahren beim mutmaßlichen Täter als ernsthafte Ursache seines Handelns darzustellen. Diese Argumentationsweise hat ein ehemaliger SPD-Kanzlerkandidat einmal als “Hätte, hätte, Fahrradkette” richtig charakterisiert. Ein ganzer Regierungsapparat und der Oppositionsführer, ebenso die Kontrahenten anderer Parteikonstellationen im Landtag NRW, verhalten sich und argumentieren so infantil, als hätten sie es bei den Bürger*innen mit gutgläubigen Schafen zu tun. So wird ihr Gerede der teuflischen Hetze der Rechtsextremisten zwangsläufig nicht gerecht.

Nicht die AfD, die Merz-CDU, Söder und Teile der Ampel sind das Problem

Das schlimmste politische und ideologische Vergehen der CDU/CSU ist es, einen Mord und letztlich jeden Mord dieser Art für billige politische Spielchen zu instrumentalisieren. Dieses Vorgehen wird auch den Opfern und deren Angehörigen nicht gerecht. Wer waren die Opfer? Wen sollten wir betrauern, wessen gedenken?  Friedrich Merz ist in seiner Verblendung gegenüber der Merkel-Politik derart maßlos und blind für Realitäten, dass er mit seinen inhaltlichen Forderungen, aber auch mit der Art seines Auftretens, nicht mehr zur verständigen Abwägung fähig ist. Er stellt seine Eitelkeit, Besserwisserei und Karrieregeilheit über die Chance einer rationalen Diskussion über Ursachen islamistischen und rechtsextremen Terrors für unsere Gesellschaft, über das Wohl der gesamten Politik und auch das Wohl der Demokratie. Und Söder treibt ihn an, um ggf. von seinen Fehlern um die Kanzlerkandidatur zu profitieren. Seine vergiftete Forderung an Olaf Scholz, ohne FDP und Grüne die Verfassung zu ändern, ist so intrigant wie primitiv, und beweist, dass er sich nicht zum Kanzler eignet, weil er übergeordnete Interessen des Landes vor seiner persönlichen Karriere nicht anerkennt. Sein Parteikollege Herbert Reul unterscheidet sich erfreulich davon – er hat in dieser Woche vor einer hektischen Diskussion gewarnt. Was hätte Merz gewinnen können, wenn er wie der norwegische Ministerpräsident nach der furchtbaren Tat von Anders Breivik erklärt hätte, dass jetzt in Trauer und Nachdenklichkeit inne gehalten werden solle, und es nicht um neue Gesetze gehe, sondern allenfalls, wenn alle Hintergründe aufgeklärt und der Täter verurteilt wären.

Das hätte der AfD ganz anders den Wind aus den Segeln genommen und seine Chancen, politisch ernstgenommen zu werden, drastisch erhöht, ihn zum Staatsmann gemacht. So ist Friedrich Merz nur ein kleines, ehrgeiziges Licht der westfälischen Provinz geblieben. Ob Moped oder Privatflieger – Persönlichkeitswachstum: Fehlanzeige.

Politik im Belagerungszustand bewirkt das Gegenteil und gefährdet das Asylgrundrecht

Aber das gilt ohne die persönliche Komponente auch für Scholz, Faeser, Buschmann und die Grünen. Auch sie haben es  unter dem öffentlichen Druck, den Merz entfacht hat, nicht geschafft, Kurs zu halten, das Ablenkungsmanöver von CDU/CSU und AfD als durchsichtiges Manöver zu entlarven und die Grundrechte zu verteidigen. Irene Mihalic und Konstantin von Notz liegen mit ihren Forderungen, das Internet einzuhegen, Extremismus und Desorientierung, Spionage und Einflussnahme dort zu verfolgen, in der Sache richtig: Dies jedoch mit der Forderung nach einer “innenpolitischen Zeitenwende” zu verbinden und am 28.8. 2024 im Zusammenhang mit den Morden des Täters von Solingen zu publizieren, war der falsche Zeitpunkt im falschen Zusammenhang. Für das individuelle Grundrecht auf Asyl, das die Väter und Mütter des Grundgesetzes formuliert haben, weil sie erlebten, wie Verfolgte des Nazi-Regimes in vielen Staaten keine Aufnahme fanden und letztlich doch ermordet wurden, kann und darf es in Deutschland niemals eine “Zeitenwende” geben!

Das Theater wird heute nur der AfD Stimmen bringen

Noch nie in der Geschichte der Asyldiskussion hat das Nachgeben der demokratischen Kräfte gegenüber den Rechtsextremisten irgend jemand Rechten überzeugt, falsch zu denken, Rechtsextremisten wie Bernd Höcke von seiner Ideologie abgebracht oder auch nur einen einzigen Wähler des braunen Packs in die Demokratie zurück geholt. Nach der Verstümmelung des Asylgrundrechts von 1993 durch die damalige “Große Koalition” von SPD und CDU/CSU gingen die Anschläge weiter. Wenige Tage später passierte der brutalste Anschlag rechtsextremer Täter in Deutschland. In Solingen, wo fünf Mitglieder der Familie Genc im brennenden Haus ums Leben kamen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net