Präsident Selenskyj: “Wie schade, dass wir den Kreml nicht attackieren können.”
Wie sich kriegerische Eskalation entwickelt
Ich wollte so gerne in meiner (ukrainischen) Muttersprache antworten, sagte der ukrainische Präsident Selenskyj jüngst während einer öffentlichen Diskussion in Italien. Tatsächlich wuchs er als russischer Muttersprachler auf. Aber es wurde noch besser, genauer ausgedrückt sehr viel gefährlicher. Unter Bezugnahme auf die Sorge von Nato-Staaten, die Ukraine könnte mit westlichen Marschflugkörpern für lange Distanzen den Kreml attackieren, erklärte er: „Wie schade, dass wir den Kreml nicht attackieren können.“ (ab Min. 11:29)
Tatsächlich fehlen der Ukraine (noch) die dazu erforderlichen Waffen (wie beispielsweise Taurus). Darum geht die aktuelle internen Auseinandersetzung innerhalb der Nato. Liefern wir das, was die Ukraine befähigen würde, auch den Kreml zu treffen, ja oder nein? Die schwatzhaften deutschen Generäle und Angestellten der Luftwaffe wussten: Egal, was wir machen, das verändert nichts am Ausgang des Krieges. Die eine Wunderwaffe gibt es nicht.
Das betonte auch der US-Verteidigungsminister auf der Pressekonferenz nach dem Treffen in Rammstein. Presseanfragen, ob die USA der Ukraine weitreichende Marschflugkörper liefern würden, beantwortete er ausweichend. An einer Stelle konnte man den Eindruck gewinnen, dass es ihm nicht darum ging, ob die Ukraine tiefe Ziele in Russland angreift, sondern darum, dass es keine US-Waffen sein dürfen, mit denen die Ukraine tiefe Ziele in Russland zu treffen sucht.
Moskau blufft nur, hieß es aus Kyiv, nachdem die Kursk-Offensive begann. Wir überschreiten angebliche „russische rote Linien“ und nichts passiert. Das stimmt zwar nicht, denn Russland hat die Angriffe auf die Ukraine daraufhin intensiviert, aber es kam zu keinem Einsatz einer taktischen Atomwaffe. Ukrainische Regierungsgebäude und auch der Palast des Präsidenten blieben unversehrt.
Gleichzeitig laufen wir mit Riesenschritten auf eine atomar geführte Auseinandersetzung zu. Russland hat angekündigt, seine Nukleardoktrin zu überarbeiten, die bisher keine Erstschlags-Option enthält. Die Biden-Administration wiederum ließ inzwischen die NYT wissen, sie hätte im März 2024 die (hochgeheimen) Modalitäten eines Atomwaffeneinsatzes (Anm.: Die US-Nukleardoktrin enthält die Option eines Erstschlags) verändert. Ziele seien Russland, China und Nordkorea.
„Autobahn in Richtung Hölle“
Bei Consortium News befürchtete Scott Ritter, ein ehemaliger Waffeninspektor, der unter anderem bei der Kontrolle der Abschaffung der Mittelstreckenwaffen für die USA in Russland tätig war, dass sich das Denken von der Abschreckung zum Erstschlag verschieben könnte. Das zusammen genommen mit dem voraussichtlichen Ende des Start-Vertrags 2026, der die Zahl der operativen Kernwaffen limitiert, bezeichnete er als „Autobahn in Richtung Hölle“.
Zur Kursker Offensive der Ukraine erklärte die britische Regierung gegenüber der Times, dass sie diese maßgeblich mitgeplant hätte. Alle Übrigen wussten angeblich von nichts.
Nun ist die Kursker Offensive auch steckengeblieben, und im Donbass ist die Lage ebenfalls kritisch. Ich empfehle jedem das CNN-Interview mit dem aktuellen Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Syrskyi. Dieser Mann kann einem nur noch leidtun. Er war kaum mehr fähig, der CNN-Journalistin, Christiane Amanpour, die versuchte, die ganze Lage mitfühlend zu verstehen, auch nur in die Augen zu blicken.
Lange hatte ich auch mit dem ukrainischen Präsidenten Mitleid. Das änderte sich, als dieser 2022 nach einem nuklearen Erstschlag der Nato auf Russland rief. (ab Minute 25) Heute scheint ihm das Schicksal der Ukraine oder der Welt völlig egal. Gewählt wurde er wegen des Versprechens, Frieden mit Russland herzustellen. Er hat es anfangs auch versucht. Seine Bemühungen um die Implementierung des Minsk-Abkommens scheiterten allerdings am Widerstand der ukrainischen Nationalisten. Keine „Kapitulation“ vor Russland tönten diese. Seither gibt sich der ukrainische Präsident alle Mühe, bei diesen Leuten nicht anzuecken.
Heute posiert er gern und häufig mit dem republikanischen Senator Lindsay Graham. Für Graham ist die Rolle der Ukraine als Stellvertreterkrieger eine ganz normale Sache. Sie kämpft, damit wir nicht kämpfen müssen. Außerdem verfügt die Ukraine über kritische Mineralien im Wert von Billionen, die gut für die US-Wirtschaft sind. Im gemeinsamen Videoauftritt auf italienischem Boden bedankt sich Selenskyj artig beim obersten Dienstherrn. An Deutschland oder die EU dachte keiner der beiden.
Winterkrieg
Der YouTube-Kanal der Hindustan Times berichtete mit Bezug auf RT, der ukrainische Präsident habe beim jüngsten Treffen in Ramstein den US-Außenminister gebeten, dass die Nato den Druck auf Russland erhöht. Die Ukraine brauche neue Waffen. Einen Winterkrieg könne sie nicht mehr durchstehen.
Weil sich Hindustan Times auf eine russische Quelle stützte, wollte ich es genauer wissen. Nein, in Ramstein sprach öffentlich keiner davon, dass die Ukraine den Winter nicht mehr überstehen kann, aber die öffentlichen Äußerungen des ukrainischen Präsidenten waren von einer gewissen Dringlichkeit beseelt. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austins sprach von einer „gefährlichen Lage“, verbreitete aber auch die Überzeugung, dass die Ukraine mit westlicher Hilfe noch Jahre Krieg führen könne. Am Ende wird eine verhandelte Lösung stehen, dann, wenn die Ukraine in einer Position der Stärke sein wird.
Die Frage, ob es der Ukraine gelingt, alle Territorien zurückzuerobern, beantwortete er nicht. Aber der mit auf dem Podium stehende Chef des US-Generalstabs, General CQ Brown jr. ging darauf ein (ab Min 23:00). Das sei bekanntermaßen das ursprüngliche Ziel des ukrainischen Präsidenten, für den er nicht sprechen könne. Es könnte noch dessen strategisches Ziel sein. Im Moment aber konzentriere man sich auf das Hier und Jetzt. Brown sagte ebenfalls, sie hätten gute Gespräche mit der Ukraine darüber gehabt, wie die notwendigen militärischen Kräfte bis zum Winter und darüber hinaus gesichert werden können. (ab Min 22:00).
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung. Lesen Sie ergänzend auch Matthias Ubl (Interview)/Jacobin: “‘Moral verdeckt den Blick auf Realpolitik’ – Die Rivalität zwischen den Großmächten China und USA könnte zu einer neuen bipolaren Blockbildung führen. Die China-Expertin Susanne Weigelin-Schwiedrzik argumentiert: Das kann nur verhindert werden, wenn die EU Beziehungen in beide Richtungen unterhält.”
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