Über britische Geheimdienstmärchen, sowjetische Nervengifte und das, was man für plausibel hält – 2024: Der “Fall Skripal” wird wieder aufgerollt

“It is difficult to get a man to understand something, when his salary depends on his not understanding it.” Upton Sinclair. Übersetzung: “Es ist schwierig, einen Menschen dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.”

Vor wenigen Tagen begann in Großbritannien die unabhängige öffentliche Untersuchung zum Tod von Dawn Sturgess. Sie wird erst im Dezember 2024 abgeschlossen sein. Nach der Arbeitshypothese der britischen Behörden steht ihr Tod im Zusammenhang mit dem Nervengiftanschlag auf Sergej und Julia Skripal in Salisbury am 4. März 2018. Gemäß der britischen Darstellung, die im Kreis der EU und der Nato einvernehmlich geteilt wird, wurden die Skripals Opfer eines russischen Mordkomplotts mit dem aus sowjetischer Entwicklung stammenden Nervengift Nowitschok (A 234).

Die Regierung Seiner Majestät glaubt fest, der Mordanschlag sei auf persönliche Anordnung Putins erfolgt. Im September 2018 benannte die britische Justiz zwei mutmaßliche Täter, die unter falschem Namen ein Visum ergattert hatten und nach Großbritannien eingereist waren. Später wurde noch ein dritter Verdächtiger identifiziert. Sie sollen Angehörige eines Spezialkommandos des russischen militärischen Geheimdienstes sein, das unter anderem Attentate mit Hilfe eines Nervengifts aus der Familie der Nowitschoks trainierte. Sie sollen auch geübt haben, wie man Türklinken mit diesem Nervengift präpariert.

Das ist keine alte Kamelle. Die aktuelle Untersuchung in Großbritannien findet während eines Stellvertreterkriegs zwischen dem Westen und Russland statt, der militärisch in der Ukraine ausgetragen wird. Kann, ja darf man mit Putin, diesem „Mörder“ sprechen oder gar verhandeln? Sind die „Putinversteher“, die „Putinfreundinnen und -freunde“ nicht fast genauso schlimm? Muss der Kampf jetzt nicht ausgefochten werden bis zum Ende des russischen mörderischen Regimes? Wieviel Gefahr geht von Russland aus, militärisch, aber auch hybrid?

Zunächst jedoch eine kurze Rückblende zum „Skripal-Fall”:

Die Skripals wurden am 4. März 2018 – so die Veröffentlichungslage – lebensgefährlich verwundet. Noch am 22. März erklärten behandelnde Ärzte vor Gericht, es sei unklar, ob sie je das Bewusstsein wiedererlangen würden. Diese Gerichtsverhandlung war notwendig, um den OVCW-Experten die Blutentnahme bei den Skripals zu gestatten. Als Sprecher für die Skripals agierte vor Gericht ein bestellter Staatsvertreter.

Die Lage veränderte sich gegen Ende März 2018, die „Wunderheilung“ der Skripals erfolgte. Nur einmal, im Mai 2018 trat Julia Skripal an einem geheimen Ort vor eine Kamera und gab eine Erklärung ab. Sie war putzmunter, hochkonzentriert, ohne jede Nervosität. Ihr Vater, Sergej Skripal, wurde nie wieder öffentlich gesehen. Auch in der aktuellen Untersuchung werden die Skripals nicht auftreten. Sie sind durch einen Anwalt vertreten. Ob und wie sie ihn bestellt haben, ist unklar. Generell ist offen, ob die beiden noch am Leben sind (der britische Staat sagt ja), beziehungsweise wo sie sich konkret aufhalten. Der britische Staat schätzt ihre Gefährdung weiter als sehr hoch ein.

Damit nichts das britische Staatswohl oder die Skripals gefährdet, wird der live-Stream der Untersuchung zu den Umständen und Ursachen des Todes von Dawn Sturgess mit 10-minütiger Verzögerung gesendet – vorsichtshalber. Es soll in offener und geschlossener Sitzung getagt werden. Geheimes soll geheim bleiben.

Der „Fall Skripal“ ist von anhaltender Bedeutung und hat sehr komplexe Facetten. Wie man ihn betrachten soll, brachte der Tagesspiegel im April 2018 wie folgt auf den Punkt: „Es geht um Vertrauen. Die Bundesregierung, die Nato, die USA haben sich entschlossen, nicht Russland, sondern Großbritannien zu vertrauen. Was sonst?”

Ein ehrloses Mordinstrument

Erstens wurde mit ihm politisch etabliert, dass Putin ein rachsüchtiger Mörder ist, der selbst einen ausgetauschten Doppelagenten, Sergej Skripal, weiter wegen Verrats am Heimatland verfolgt und zu eliminieren sucht und dabei auch nicht vor „Kollateralschäden“ zurückschreckt. Laut einer schriftlichen Aussage von Skripal, die bei der Anhörung vorgelegt wurde, dachte dieser 2018, dass Putin persönlich hinter dem Anschlag stecke. Weil Skripal Staatsgeheimnisse kenne, und weil er wisse, dass Putin in den Handel mit seltenen Erden verwickelt sei. Putin liebe Gifte und lese auch Bücher darüber. Das habe er online gelesen. Skripal hielt es zunächst für ausgeschlossen, dass der russische militärische Geheimdienst sich seiner entledigen wollte. Gift sei ein ehrloses Mordinstrument, eher eine Masche des KGB. Später soll er das revidiert haben, so wie auch die britischen Behörden von der Verdächtigung des FSB (früher KGB) auf den russischen militärischen Geheimdienst umschwenkten.

Hinzu kommt, dass die Attentäter die originale Mordwaffe (oder, das ist eine neue Theorie, eine Reservewaffe) in Gestalt eines eigens präparierten Parfümfläschchens in Salisbury zurückgelassen haben sollen und so eine ganze Stadt gefährdeten. Auch in der Anhörung war man sicher: Vor den Schergen Putins ist man auf britischen Straßen nicht sicher, jetzt noch weniger als einst. Es gebe eine „rücksichtslose russische Sabotagekampagne in ganz Europa“, so wie das die Chefs von MI 6 und CIA im September 2024 übereinstimmend eingeschätzt hatten.

Hinsichtlich des Todes der 44jährigen Dawn Sturgess gilt als ausgemacht, dass sie zum ahnungslosen Opfer wurde, nachdem sie mit dem Giftapplikator (Parfümfläschchen) beschenkt wurde und sich parfümierte. Deshalb klagen nun die Hinterbliebenen von Dawn Sturges und ihr Partner Charley Rowley gegen den britischen Staat. Hat dieser alles getan, um Skripal, aber auch seine neue Heimatstadt Salisbury zu schützen? Sie bezweifeln das. Es geht um Schadensersatz.

Zweitens vergiftete der „Fall Skripal“ nachhaltig die westlichen Beziehungen zu Russland.

Nach der britischen Lesart vom 12. März 2018 hatte Großbritannien alle plausiblen Argumente auf seiner Seite, Russland blieb demzufolge nur übrig, die Schuld zu gestehen und falls nicht, erschien es als Lügner. Allen voran die USA, Frankreich und Deutschland machten mit, später die EU und die Nato. So wurde der Skripal-Fall zu einem Schritt auf dem Weg zum Krieg. Wenn es gleichgültig wird, ob man schuldig wurde oder nicht, gilt in der Politik wie im Volksmund: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert – zumindest in den russischen Beziehungen zum Westen.

Sargnagel für die Arbeit der OVCW

Gleichzeitig wurde dieser Fall auch zu einem Sargnagel für die Arbeit der OVCW als unbestechliche Hüterin einer chemiewaffenfreien Welt. Ihr Statut war geschrieben worden, um auch Ereignissen wie dem „Skripal-Fall“ auf den Grund zu gehen und lösen zu können. Tatsächlich wurde die OVCW aber nicht zum Verifikationsmechanismus der Vorwürfe gegen Russland. Die britische Premierministerin May sprach am 12. März 2018 ausdrücklich davon, dass – falls Russland nicht die Schuld gestehe – zu schlussfolgern sei, dass es sich um eine „rechtswidrige Gewaltanwendung des russischen Staates gegen das Vereinigte Königreich“ gehandelt habe. Außerdem forderte sie Russland auf, umgehend sein Chemiewaffenprogramm gegenüber der OVCW zu deklarieren.

Für solche Fälle wurden die Art IX und X der OVCW-Konvention geschrieben. Die Experten der OVCW hätten umgehend im Vereinigten Königreich zur Stelle sein können. Aber so ist es nicht gelaufen. Weder wurde sich um Streitbeilegung bemüht, noch um die Verifikation des Verdachtes, der nun im Raum stand: ein Verstoß Russlands gegen die Konvention. Tatsächlich validierte die OVCW ausschließlich die britischen Laborbefunde, und das mit großer zeitlicher Verzögerung. Die OVCW bestätigte, dass drei Menschen (die Skripals und der Kriminalbeamte Bailey) dem von Großbritannien identifizierten Nervengift „ausgesetzt“ waren. Es sei von hoher Reinheit gewesen. Es wurde ebenfalls in Umweltproben nachgewiesen.

Hinsichtlich der Giftmenge, deren Höhe ein Indikator für die mutmaßliche Mordabsicht ist, machte sie keine Aussagen. Sie machte ebenfalls keine öffentlichen Aussagen (und das unterscheidet den „Fall Skripal“ vom Fall Nawalny), ob es zu einer für Nervengifte auf Phosphatbasis typischen Enzymhemmung gekommen war. Vor allem aber verzichtete die OVCW auf das Instrument unangekündigter Laborinspektionen in Russland, obwohl Russland auch das angeboten hatte.

Bereits im Mai 2018 wurde deutlich, dass der damalige OVCW-Generalsekretär Partei im Fall war. Er beschuldigte gegenüber der NYT Russland, ein geheimes Chemiewaffenprogramm zu haben und nahm dafür die angeblich in Salisbury zum Einsatz gekommene immense Giftmenge (50 bis 100 g) als Beleg. So eine große Menge könne nicht mit Labornotwendigkeiten erklärt werden. Seine Mitarbeiter dementierten umgehend die herangezogene Giftmenge, ließen aber den politischen Vorwurf im Raum stehen. Wäre alles nach dem Statut der OVCW gegangen, hätte diese alles gründlich untersuchen müssen. Das aber lehnte der Westen ab. Frei nach dem erklärten Motto: Seit wann wird ein mutmaßlicher Mörder an den Morduntersuchungen beteiligt? Die Nato ist fest überzeugt, dass Russland entgegen seiner Verpflichtungen gegenüber der Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OVCW) ein geheimes Chemiewaffenprogramm unterhält.

Drittens beendete der „Skripal-Fall“ ein großes internationales Schweigekartell zu den sogenannten Nervengiften der “vierten Generation“, den Nowitschoks. Einige Staaten mit exzellenter Chemiewaffenforschung mussten zugeben, dass sie über die Nowitschok-Gifte nicht nur Bescheid wussten, sondern sie ausgeforscht hatten und undeklariert, also entgegen den Bestimmungen der OVCW-Konvention, in ihren eigenen Laboren vorhielten. Sie wurden 2019 verboten und einige weitere, bis dahin ebenfalls verheimlichte Gifte auch. Nebenbei wurde so deutlich, dass auf diesem Gebiet eine intensive wechselseitige Spionage stattfindet.

Einfallstor für mangelnde Transparenz

Das Einfallstor für mangelnde Transparenz in der OVCW ist die Zulässigkeit von Forschungen an diesen Giften, angeblich, um Gegenmittel herstellen zu können. Dieses Tor wurde nie geschlossen. Zudem verzichtet die OVCW bis heute darauf, herauszufinden, ob das, was die Staaten erklären, auch mit der Realität in ihren Laboren übereinstimmt. Unangekündigte Expertenuntersuchungen finden nicht statt.

Der „Fall Nawalny“ wiederum offenbarte, dass die Verbotsliste aus dem Jahr 2019 nicht komplett zu sein scheint, und auch im deutschen Chemiewaffenlabor Kenntnisse über ein angeblich „unbekanntes“ Nowitschok-Gift bestehen. Denn man findet ein Gift, oder dessen Zerfallsprodukte oder die „Spuren“ von dessen Zerfallsprodukten nur, wenn man genau weiß, wonach man zu suchen hat. Der einstige sowjetische Chemiewaffenforscher Uglew formulierte das Dilemma vor vielen Jahren so: Niemand findet eine schwarze Katze in einem schwarzen Raum.

Viertens: Die Nowitschok-Gifte sind zweifelsfrei Produkte der sowjetischen Chemiewaffenforschung. Ihre „russische“ Herkunft war ursprünglich ein Hauptargument für die britische Verdächtigung Russlands. Rechtzeitig vor der Befassung der EU mit dem Skripal-Fall behauptete Boris Johnson zudem, diese russische Herkunft sei im Labor nachgewiesen worden. Als seine Lüge aufflog, erklärten die Briten, sie hätten bereits seit Jahren Erkenntnisse über ein russisches Chemiewaffenprogramm. Das entsprechende Schreiben ist Teil der laufenden Untersuchung. Beweise legten sie öffentlich nie vor.

Sparsamer Materialeinsatz mit grausamer Schädigung

Die Gifte der Familie Nowitschok sind, vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, extrem effizient. Sie verbinden einen sparsamen Materialeinsatz mit einer grausamen Schädigung der Vergifteten. Sie stellen, so wie alle Nervengifte auf Phosphatbasis, eine Gefahr für Helfer dar. Gleichwohl gab es sowohl im Skripal-Fall wie auch im Fall von Dawn Sturgess und Charley Rowley keine einzige Vergiftung durch direkten Kontakt mit den mutmaßlichen Nervengiftopfern.

Zu dem bei den Skripals angeblich zum Einsatz gekommenen A 234, das entgegen allen anderslautenden Veröffentlichungen nicht von Mirzyanow sondern erstmals vom US-Chemiewaffenforscher James Poarch im Jahr 1997 erwähnte wurde, schrieb dieser, dass es so giftig sei wie VX und so behandlungsresistent wie Soman. Das Besondere an Soman ist seine blitzartige Alterung (zwischen unter 2 Minuten bis maximal 5 Minuten). Danach ist die Schädigung der Vergifteten irreversibel. Das macht die Nowitschok-Gifte so gefährlich. Alle Chemiewaffenexperten, die diese Bezeichnung verdienen, wissen das. Aber sie schwiegen. Sie schweigen.

Boris Johnson sagte (mal wieder) die Unwahrheit

Nur der Direktor von Porton Down, dem britischen Chemiewaffenlabor, ganz in der Nähe von Salisbury, plauderte am 4. April 2018 unbekümmert aus, dass es gegen Nowitschoks kein bekanntes Gegenmittel gibt. (“He said there was no known antidote to novichok.”) Das überhörten die allermeisten, weil wegen des gleichen Interviews offenbar wurde, dass Außenminister Johnson gegenüber der Deutschen Welle am 19. März 2018 die Unwahrheit zur verifizierten russischen Herkunft des Gifts gesagt hatte. Das bedeutet nicht, dass man eine Nowitschok-Vergiftung in geringster Dosis nicht überleben kann. Man überlebt sie nur nicht unbeschadet.

Fünftens: Mit dem „Fall Skripal“ sind menschliche Tragödien verbunden. Sie betreffen zum einen Dawn Sturgess und deren Familie sowie Charlie Rowley, den Partner von Dawn Sturgess. Sie starb. Charlie Rowley muss mit dem Verdacht leben, er sei womöglich derjenige gewesen, der ihr ein vergiftetes Geschenk machte, das sie das Leben kostete. Von ihm stammte die Parfümflasche, die das Gift Nowitschok enthalten haben soll. Er konnte sich schon im Sommer 2018 nicht erinnern, wann und wo er die Flasche fand, aber er bestand im Interview darauf, dass die Flasche eingeschweißt gewesen sei, wie neu. Um seine öffentliche Aussage kam die britische Polizei bisher nie herum. In der Anhörung hieß es nun, womöglich wäre die Flasche ein back up gewesen.

Der Wunsch der Mutter von Skripal, ihren Sohn vor ihrem Tod noch einmal wiederzusehen, erfüllte sich nicht. Sie hatten ein enges Verhältnis. Glaubt man Mark Urban von der BBC, war der regelmäßige Kontakt mit der Mutter für Skripal so wichtig, dass er sich ursprünglich sogar gegen die Teilnahme am Agentenaustausch wehrte. Urban beschrieb, Skripal hätte im russischen Gefängnis ein gutes Leben gehabt und quasi das Kommando über Mitgefangene übernommen. Seine Frau und seine Kinder dagegen hatten es wegen des Skripalschen Dienstes für die Briten nicht leicht. In Geheimdienstkreisen werden Verräter nicht geschätzt und eine gewisse gesellschaftliche Ächtung muss ihnen begegnet sein. Skripals Frau verstarb, kaum nach Salisbury umgezogen, an Krebs. Auch Skripals Sohn verstarb, er neigte der Flasche zu.

Nur Julia Skripal nahm einen ganz anderen Weg. Das etwas dickliche Geschöpf in russischer Bauernbluse, das mit Vater und Bruder in Salisbury für ein Privatfoto posierte, (dieses Foto wurde in britischen Zeitungen 2018 verwendet), wandelte sich zu einer schönen grazilen jungen Frau, sportlich, weltgewandt, in guter beruflicher Position, nicht unvermögend. Sie dachte ans Heiraten. Auch dieser Traum zerplatzte nach den Ereignissen in Salisbury.

Geschichte rivalisierender Geheimdienste

Schließlich ist der „Fall Skripal“ auch eine Geschichte rivalisierender Geheimdienste. Skripal, einst Auslandsspion des russischen militärischen Geheimdienstes, ließ sich vom britischen Geheimdienst anwerben und verriet den eigenen Laden. Sein Doppelspiel flog 2004 auf, er wurde verurteilt. 2010 wurde er ausgetauscht und begann mit Hilfe des MI 6 ein neues Leben in einem Haus in einem stillen Winkel von Salisbury, ziemlich am Ende einer Sackgasse gelegen. Er hatte in der neuen Heimat nur wenige Freunde, aber pflegte feste Routinen. Dazu gehörte der wöchentliche Anruf bei seiner Mutter, ein regelmäßiger Kontakt zu seinem ehemaligen britischen Führungsoffizier (Miller), über den die britische Presse nicht schreiben darf. Dieser kann mit Hilfe von „D-Notices“ der Mund verboten werden.

Miller wiederum ist das Bindeglied zu Christopher Steele, dem recht unglücklich agierenden Russland-Chef beim MI6 (bis 2009), der, später mit „Orbis“ in die Selbständigkeit wechselte und durch das von der Hillary Clinton-Kampagne bezahlte „Steele-Dossier“ weltweit bekannt wurde.

Skripal fuhr zudem regelmäßig nach London. Bei diesen Fahrten trug er einen Wolfsring, wie ein Taxifahrer 2018 bemerkte. An diesen Ring musste ich denken, als vor kurzem eine südkoreanische Agentin in den USA aufflog, die ihren Führungsoffizieren Kontakte mit US-Stellen verschaffte – sie habe „den Wolf reingebracht“, erklärte sie. Das muss nichts bedeuten, und ich will auch nicht spekulieren.

Laut BBC hieß es, Skripal habe seine geheimdienstlichen Erfahrungen gelegentlich im (befreundeten) Ausland geteilt. Ob Skripal noch „im Geschäft“ war, wird man wohl in der Anhörung nicht erfahren. Wie vielen Herren er womöglich gleichzeitig diente, auch nicht.

Julia Skripal, allgemein als unfreiwilliger „Kollateralschaden“ betrachtet, erwies sich im Skripal-Fall als äußerst gewitzt. Kaum war sie eines Telefons habhaft geworden, erklärte sie, es gehe ihr und dem Vater gut (Zu dem Zeitpunkt lag der noch offiziell im Koma.). Alle weiteren bekannten Äußerungen von ihr enthielten immer zwei Botschaften: Erstens: Ich will wieder zurück nach Russland. Zweitens: Niemand wird je für mich sprechen oder für meinen Vater. Damit setzte sie eine klare Grenze. Nur ihr gesprochenes Wort gilt. Bis heute.

Keine stringente Erzählung

Zu den Merkwürdigkeiten des Skripal-Falls gehört, dass er keine stringente Erzählung bietet. Er ist eher wie ein Kaninchenbau, in dem man sich verirren kann, oder wie ein Schweizer Käse. Wo man hinschaut, klaffen logische Löcher.

Aber auch die russische Seite agiert sehr merkwürdig. Wohlgemerkt, Russland wehrt sich in der OVCW, im UN-Sicherheitsrat und auf diplomatischem Weg vehement und anhaltend gegen die vorgebrachten Beschuldigungen, und bringt dafür jede Menge legalistische, in Teilen auch wissenschaftliche Begründungen vor. Russische Agenten versuchten, die OVCW zu hacken und wurden dabei erwischt. Russland hackte offenbar auch die OVCW-Referenzlabore, die die Umwelt- und biologischen Proben untersuchten und gestand Letzteres sogar ein. Und doch, unter dem Strich kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, als ob es auch einen unerzählten russischen Teil im „Skripal-Fall“ gibt, der die Öffentlichkeit nicht zu interessieren hat.

So, als ob hier zwei zutiefst verfeindete Geheimdienste anhaltend ihre Kräfte messen. Das ist exakt der Stoff, aus dem Spionageromane geboren werden. Aber im Unterschied zu den verzwickten Wendungen, die ein Roman oder ein Film nimmt, um uns in Atem zu halten, ist der Skripal-Fall bei einigem Nachdenken und ein paar wissenschaftlichen Grundkenntnissen völlig transparent. Man darf sich nur nicht in der Fülle der Details verlieren, sondern muss lediglich eine einzige Hürde überspringen: die eigene Bereitschaft, das zu glauben, was man gerne glauben will und was daher auch hochplausibel erscheint. Denn es klingt ja plausibel, dass Russland Verräter ermorden lässt (Motiv), dazu Agenten aussandte (Gelegenheit) und mit Nowitschok-Giften über eine tödliche Waffe verfügt. Denn es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, dass die Nowitschoks nur in westlichen Laboren erforscht wurden. Russland tat das ganz gewiss auch.

Die britische Plausibilitätskette hat eine Achillesferse: Es ist die völlige Unbekümmertheit, was wissenschaftliche Fakten zur Wirkungsweise von Nervengiften auf Phosphatbasis im Allgemeinen und den Nowitschoks im Besonderen angeht. Man muss sich schon wundern, warum die Russische Föderation darüber nicht Klartext spricht.

Denn man muss kein Chemiewaffenspezialist sein, um ein paar ganz einfache Zusammenhänge zu verstehen: Je nachdem, um welches Gift es sich handelt, gibt es eine Giftmenge, die bei 50 (Prozent (LD 50) und verdoppelt bei 100 Prozent der Betroffenen (LD 100) sicher zum Tod führt. Die Giftmenge entscheidet ebenfalls darüber, wann Symptome eintreten und wie schwer sie ausfallen. Je höher die Giftmenge ist, desto schneller treten die verheerenden Wirkungen auf. Im Extremfall innerhalb weniger Minuten.

Es macht einen Unterschied, ob diese Gifte inhaliert oder über die Haut aufgenommen werden, auch, wieviel Körpergewicht ein Mensch hat, und wie die allgemeine gesundheitliche Verfassung ist. Aber ab einer bestimmten Giftmenge spielt auch das keine Rolle mehr. Dabei muss man immer bedenken, dass wir im Fall des klassischen westlichen Nervengifts VX bzw. des sowjetischen Nowitschoks von Giftmengen im Bereich von wenigen Milligramm sprechen. Sehr viel weniger als etwa ein Tropfen aus einer Pipette führt bei diesen Giften unabweislich in den Tod.

Mit derartigen Nervengiften Vergiftete stellen für andere, speziell Personen, die ihnen beistehen wollen, eine Gefährdung dar. Sie vergiften auch diese, nicht zwangsläufig, aber weil die Gefahr groß ist, sollen sich Ersthelfer zunächst selbst schützen. Zudem muss alles dekontaminiert werden.

Im ganzen Skripal-Fall vergiftete sich jedoch kein Mensch am Kontakt mit einem anderen, nur Dinge wurden kontaminiert (mit Ausnahme von Brot). Das führte unter anderem dazu, dass die Vergiftungsgeschichte des Kriminalbeamten Nick Bailey umgeschrieben werden musste. Den besorgten Ersthelfer der Skripals, der sich sorgend um sie kümmerte und sich dabei vergiftete, hat es nie gegeben. Diese Deutung wurde schon im November 2022 beerdigt, durch die BBC (The Inside-Story).

Es war das Skripal-Haus, die Außentürklinke, hieß es nunmehr, woran sich Nick Bailey nach den Skripals ebenfalls vergiftete. So gegen Mitternacht. Dank der öffentlichen Untersuchung ist nun amtlich, was damals in der BBC-Dokumentation „The Inside-Story“ erklärt wurde: Erst hätten beide Skripals nacheinander die Türklinke angefasst, später Nick Bailey. Die Alternative einer wechselseitigen Vergiftung stand und steht aufgrund der britischen Grunderzählung nicht mehr zur Verfügung. Über beide Skripals hieß es, sie wären schwerst erkrankt, lebensbedrohlich. Logischerweise hätten sie zwingend beide jeweils eine Giftdosis knapp unterhalb der Schwelle der Letalität abbekommen. Nick Bailey etwas weniger.

Die Frage lautet daher: Welche Giftmenge muss sich rechnerisch auf der Außentürklinke des Skripal-Hauses befunden haben, bevor der erste Mensch sie berührte? Die Antwort: Mehr als das Doppelte einer annähernd tödlichen Dosis. Kurzum: Der Mensch, der als erster eine solcherart vergiftete Türklinke berührt, stirbt und zwar innerhalb weniger Minuten. Denn die menschliche Haut nimmt auf, was da ist, die dosiert nicht.

Dass die Präsenz der mutmaßlichen Attentäter am Skripal-Haus nur vermutet und nicht nachgewiesen ist, sei dahingestellt.

Die zweite Frage, die sich stellt, lautet: Wie ist es möglich, dass die Gifteigenschaften eines Nowitschok-Giftes wissenschaftlich ausschließen, dass die Skripals damit vergiftet worden sein könnten (und es auch noch schafften, dies schadlos zu überleben), aber unabhängige Labore der OVCW ihre Exposition hinsichtlich eines Nervengifts der Familie der Nowitschoks attestierten? Die Arbeit solcher Labore ist über jeden Zweifel erhaben.

Sherlock Holmes, bzw. sein Erfinder formulierte einst: „Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein – wie unwahrscheinlich es auch ist”.

Ich entbiete ich den britischen Spezialisten mein Chapeau

Die Entnahme der Bioproben (Blut, Urin) bei den Skripals erfolgten erst nach der gerichtlichen Verfügung (22. März 2018). Bei Nick Bailey erfolgten sie nicht vor dem 19. März 2018. Dieser Zeitablauf bedeutet, dass alle Personen nicht mehr das originale Gift, sondern allenfalls dessen Zerfallsprodukte oder dessen Spuren im Blut (und/oder Urin) haben konnten. Damit beantwortet sich auch diese Frage. Ich nehme allerdings an, dass es nicht ganz einfach ist, diese Zerfallsprodukte oder deren Spuren zu kultivieren. Insofern entbiete ich den britischen Spezialisten mein Chapeau.

Wer das ebenfalls nicht verstehen will, sollte sich überdies die Frage stellen, wie der Auffindungsstatus der beiden Skripals war. Entsprachen ihre Symptome jenen von Opfern einer akuten Nervengiftvergiftung? Dabei ist völlig klar, dass niemand an einem so idyllischen Ort wie Salisbury vermuten kann, muss oder sollte, man werde mit Opfern eines Anschlags mit einem extrem bösartigen Nervengift konfrontiert. Folglich glaubten auch die ersten Helfer der Skripals, die vom medizinischen Dienst kamen, an etwas anderes (Opiatvergiftung).

Aber es gab die Polizistin, Tracey Holloway, die im Dezember 2018 mit dem Guardian sprach. Nach deren Aussage war es nicht so einfach, Sergej Skripal in den Rettungswagen zu bugsieren. Der war ganz steif, “rigidly fixed in a sitting position, so it was hard to manoeuvre him on to a stretcher.” Zu den Symptomen einer extremen Nervengiftvergiftung auf Phosphatbasis (wie ein Nowitschok), gehören unkontrollierte Zuckungen, Verkrampfungen der Muskulatur (was alles schon sehr gefährlich ist) und schließlich eine schlaffe Lähmung („flaccid paralysis“). Die Muskeln, vor allem die Lungenmuskeln verweigern schließlich den Dienst. Sie werden schlaff. Wie Gelee. Befragt von Mark Urban, BBC, äußerte sich Dr. Jukes vom Salisbury Hospital im Mai 2018 (ab Minute 4:30) zu den akuten Symptomen einer Nervengiftvergiftung auf Phosphatbasis.

Wer die Nerven dazu hat, kann sich den furchtbaren Tod eine Zeit lang anschauen, die durch ein Nervengift vergiftet wurde. (Ich lasse mal beiseite, warum in dieser Dokumentation Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter vom Salisbury Hospital nur über die einsame Julia Skripal sprachen, so allein im fremden Land). Das alles ist das exakte Gegenteil des Auffindungsstatus von Sergej Skripal. Polizistin Tracey Holloway war bei weitem nicht die einzige Zeugin in Salisbury, die das damals bemerkte und gegenüber der Presse äußerte.

Diese drei Aspekte haben, ich möchte das unbedingt klarstellen, in den russischen Argumentationen zum Skripal-Fall nie eine Rolle gespielt. Im Westen wurde sie auch konsequent übersehen, wenn es auch in unabhängigen Medien durchaus eine intensive Beschäftigung mit der Fülle der Ungereimtheiten gab.

Ich habe mich hier nur auf das absolut Wesentliche konzentriert.

Ein Imperium geht zu Bruch

Vor kurzem wurde ich in einer Veranstaltung gefragt, ob ich mich nicht fürchten würde, wegen all dem, was ich schreibe. Ich habe das verneint. Ich bin ohne Angst.

Die Leuchtturmwärterin sendet ihre Signale. Ich denke, die Sicherheitsapparate aller möglichen Länder haben ganz andere, sehr viel größere Sorgen. Denn da geht ein Imperium zu Bruch.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.