Hat Erdogan einfach erfolgreich gezockt? War ein Deal zwischen ihm, Putin und den USA das Ende des Doktor Baschar al Assad, der sich demnächst mit einer Augenarztpraxis in Moskau niederlassen könnte? Man möchte kaum glauben, wie schnell die Islamisten, die nun in der westlichen Presse nur noch “Rebellen” genannt werden – wer legt eigentlich solche Begriffe fest? – Syrien überrennen, Erfolg haben? Hat der große Beschützer Assads, Wladimir Putin, einfach derzeit anderweitig zu viel zu tun, um keine Streitkräfte, nicht mal ausreichend Luftwaffe entbehren zu können, um seinen syrischen Satelliten vor dem Untergang zu retten? Oder hat er Assad nur verladen?
Und was ist mit den beiden russischen Militärbasen, von denen aus Russland
a) Zugang zum Mittelmeer hat und
b) seine Afrikaeinsätze in Mali, im Sahel und anderswo in Afrika koordiniert und versorgt?
Assads Folterspur, die sich durch die letzten Jahrzehnte zieht, wird niemand eine Träne nachweinen. Interessanter sind schon die Hintergünde, die zu dem aktuellen und durchaus überraschenden Durchmarsch islamistischer Truppen führten, ihn ermöglichten. Schade, dass Peter Scholl-Latour nicht mehr lebt, der würde uns das alles schlüssig erklären – so sind wir auf Vermutungen und Teile des wahren Flickenteppichs angewiesen.
Assad war ein eher weltlicher Diktator, in Europa sozialisiert, mit Russland (verständlich) und dem Iran (ideologisch nicht verständlich) verbündet. Auf dem Territorium Syriens gab und gibt es im Gegensatz zu vielen anderen arabischen Staaten keine religiöse, sondern eine starke nationalistische Bindung, die beinhaltet, Minderheiten und multiple Religionen zu schützen und friedlich zu organisieren. Assad und die Partei seines Vaters haben einen säkularen Kurs der Diktatur verfolgt. Selbst Aleviten, haben sie das friedliche Nebeneinander von Christen, Sunniten, Schiiten, Aleviten, Drusen, Jeziden und Juden immer geschützt und toleriert. Wer politisch aufmuckte, wurde verfolgt. Allerdings waren die Kurden, die in der Türkei, im Irak und eben auch in Syrien leben, auch Assad ein Dorn im Auge. Als vor mehr als einem Jahrzehnt die vom Westen und der Türkei unterstützten islamistischen Rebellen der ISIS und des IS den Irak und Syrien mit Mord und Völkermord terrorisierten, kamen die Kurden in Gestalt der YPG, dem militärischen Arm der PKK, den Minderheiten zu Hilfe und retteten zehntausende Yeziden, sperrten mehrere zehntausend IS-Terroristen in Camps ein. Dort befinden sich bis heute IS-Kämpfer, Frauen und ihre Kinder, die vom IS verschleppt wurden oder die sich ihm freiwillig anschlossen. Immer noch lebt eine erkleckliche Zahl von IS-Anhänger*innen, auch aus Deutschland, in solchen Lagern, deren Schicksal nun offen ist. Ihre Freilassung wäre eine Gefahr nicht nur für die Region und politisch unkalkulierbar.
Kurden werden nicht zum ersten mal verarscht
Sie halfen dem Westen, die Minderheiten gegen Übergriffe des IS auf die Menschenrechte zu schützen, und machten sich um die Festsetzung von Fanatikern des IS verdient. Dafür wurden sie vom Westen für nichts belohnt, sondern Erdogan ausgeliefert, der den ganzen Krieg in Syrien über den IS und andere Islamisten beschützt hat, medizinisch versorgt, sogar Terrorzellen in der Türkei ausgebildet und mit Pickups und Raketenwerfern ausgestattet hat. Journalisten, die das aufdeckten, wanderten in Erdogans Foltergefängnisse. Während der Westen der YPG dankbar war – Russland auch – aber nichts für sie tat, konnte Erdogan mehr und mehr schalten und walten, wie er wollte. Offensichtlich ist es Erdogan, der aktuell die islamistischen Rebellen in Syrien unterstützt, die Damaskus eingenommen haben.
Putin als hilfloser Patron Assads oder Dealer?
Wir haben alle mal “Der Pate” gesehen, und wissen deshalb, dass Putin der Beschützer Assads war, und dass er ein hohes Interesse haben musste, diesen Bündnispartner nicht zu verlieren, denn der saß an wichtigen, nicht islamistischen Schalthebeln zur islamischen Einflussnahme auf den Nahen Osten. Nun ist der Weg frei für Erdogan, sich als mit dem Iran mindestens gleichwertig zu präsentieren. Der russische Einfluss auch auf den Israel-Konflikt ist marginalisiert. Dass Putin sein Patenkind Syrien in einer sich zuspitzenden Lage so allein lässt wie geschehen, legt einen Schluss nahe: die Ukraine erfordert Putins volle Konzentration, für Syrien gibt es weder Platz für Luftwaffeneinsaätze, noch für militärische Unterstützung am Boden.
Kalte Kriegsphantasien reine Ideologie ?
Wäre dem so, würden sich damit alle Phantasien der westlichen Auguren über den angeblichen Machthunger und die Interventionsgier Putins gegenüber dem Baltikum, Polen oder anderen als das erweisen, was sie sind: Ammenmärchen und Feindbildprojektionen eiskalter Krieger auf Seiten des Westens. Von wegen Überfall Russlands auf Europa nach 2029: dem Autokraten in Moskau geht angesichts eines sich anbahnenden Drei-Fronten Krieges, wie ihn die NATO beschreibt, Ukraine – Syrien – und den hybriden Schlachtfeldern Georgien, Moldavien, Belarus und Osteuropa, namentlich Rumänien – jetzt die Puste aus. Momentan sind das alles Spekulationen. Aber es verwundert schon, mit welcher Leichtigkeit die islamistischen Kämpfer Assads Armee zurückdrängen konnten.
Wer sind diese Typen?
Auffällig ist, dass sich die islamistischen Kämpfer bei und nach ihren Eroberungsfeldzügen als vergleichsweise, liberal, tolerant, ja versöhnend präsentieren. da werden Wiedersehen von jahrelang getrennten Familien propagandistisch verwurstet, Toleranz und Weltoffenheit, auch im Umgang mit religiösen Minderheiten, durch die Anführer propagiert. Ihr Anführer hat sich offensichtlich kleidungsmäßig eher an Wolodomyr Selenskij, als an Jassir Arafat orientiert und gibt sich versöhnlich.
Schaumermal, wie lange das hält, sollte sich ihre Herrschaft stabilisieren. Offensichtlich scheinen sie und ihr Führungspersonal – vielleicht direkt bei Erdogan – eine Art Sympathiecoaching erfahren zu haben. Stellt Euch erstmal als weltoffen und liberal dar. Dass es voll im Interesse des “kleinen Sultan” Erdogan liegt, mittels solcher Täuschungen seinen Machtbereich zu erweitern, liegt auf der Hand. Für die YPG, die im Norden Syriens operiert, aber auch dort von der türkischen Armee angegriffen wird, könnte sich das ganze Spiel als üble Falle erweisen.
Reaktionen in Europa
Es ist allen syrischen Bürgern und Flüchtlingen zu wünschen, dass sie nach der Vertreibung Assads die Chance auf ein neues, friedliches und demokratisches Syrien bekommen. Dafür sollten die EU und Deutschland gerne in die Tasche greifen und helfen, das kaputte Land wieder aufzubauen. Die kurdischen Flüchtlinge in Deutschland könnten – eine demokratische Gesellschaft vor Ort – eine großartige Chance sein, dass auch Deutschland und die EU aufgrund ihrer manchmal zögerlichen Hilfe dort beim Aufbau eine wichtige Rolle spielen und beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft helfen. Die Frage, wohin sich Syrien entwickelt, ist offen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
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