Legu wohnte schon seit ewigen Zeiten hier. Er war gewissermaßen die graue Eminenz in der Republik freier Flaschenhals. Etwas grau an den Schläfen war der Mittvierziger tatsächlich über die Jahre geworden. Im Schweinestall, neben Angels und Joshs Grafikatelier, befand sich Legus großartige Bibliothek, die er über die Jahre antiquarisch und dazu systematisch aufgebaut hatte. Rund um den fast zwanzig quadratmeter großen Raum standen die Bücher schon zweireihig bis unter die Decke hoch aufgestellt. Legu wusste aber genau, wo jedes Buch zu finden war. Etwa Fichtes Reden an die Deutschen oder ein Nachdruck von Michael Preatoris’ ikonographischem Standardwerk „Musica getutscht“ aus der Renaissance.
“Die Verlängerung meines Hirns,” sagte er mit Verweis auf die alten Stadtansichten, sicher auch recht wertvollen Weltkarten und einer Unmenge von Expeditionsberichten, geologischen Abhandlungen, einer ganzen Wand Astronomie und Evolutionstheorie und nicht weniger Fachliteratur zur Weltgeschichte, technischen Entwicklung und unzähligen Kunstbänden. Die Brockhaus-Enzyklopädie im Goldschnitt befand sich dort ebenfalls in ausladender Reihung wie die Encyclopædia Britannica. Sein ganzer Stolz allerdings war eine der ersten Ausgaben von Diderots “Enzyklopädie” aus dem 18. Jahrhundert. Wenn Legu, dessen richtigen Namen eigentlich niemand kannte, einmal nicht weiter wusste, schmökerte er stundenlang in diesem ersten großen Versuch, Wissen zu demokratisieren. Diderot hat die französische Revolution erst möglich gemacht, war Legus These. „Es waren nicht die Brotpreise, die das Volk zum Sturm auf die Bastille anstachelten, sondern das verbürgerlichte Wissen um die Dinge der Welt. Danton war gar kein Kleinbürger, das war eigentlich ein aufgeklärter Bildungsbürger.“ Legu arbeitete seit Jahren schon an seinem einzigen Projekt, an einer Weltgeschichte des Wetters: “Wetter und Welt” sollte sie heißen. „Nicht Männer machen Geschichte,” sagte Legu immer, „sondern das Wetter.” Der Urknall sei auch das Urwetter gewesen. Alles Weitere habe sich dann aus dem dadurch ins All geschleuderten Schlamm entwickelt. Klar, die Aminosäuren sollen es gewesen sein, aber letztlich waren die auch nicht mehr, als ziemlich flüssiger Matsch, der sich unter günstigen, feuchtwarmen klimatischen Bedingungen, also dem Wetter, zu so etwas wie einer Zelle vermischt hätte. Die Sintflut, der Pyramidenbau, die sieben Plagen, die Hermannsschlacht, die Erfindung der Dampfmaschine und der bemannte Raumflug, für Legu war alles auf das Wetter im Allgemeinen und zu bestimmten Zeiten auch im Speziellen zurückzuführen.
Selbst Shakespeares Hamlet erklärte er als eine Klimalaune, denn was sonst sollte sein oder nicht sein: Das Wetter. Das erst würde ein edles Gemüt hervorbringen. Und war nicht auch Ophelias Freitod die Folge einer lang anhaltenden Inversionswetterlage in Skandinavien. Dunkelheit und Inversion ist gleich Depression ist gleich Selbstmord. „Ich bin Ophelia, die Frau am Strick, die Frau, die das Wasser nicht behalten hat,“ zitierte er dann gerne aus Heiner Müller Dramentorso „Die Hamletmaschine.“
„Müsste eigentlich ‚Die Wettermaschine‘ heißen,” lautete sein Kommentar. Fasziniert von dem Text mit unzähligen Bezügen war er allerdings schon. Zum Beispiel gefiel ihm das Pasternak-Zitat: „Nachts kamen sie ins Dorf und rissen einen Bauern.“
Wenn aber ein Zusammenhang zwischen Witterung und Geschichtsverlauf zu absurd erschien, griff Legu auf die Chaostheorie zurück. Im Spiegel hatten sie darüber vor wenigen Jahren eine große Wissenschaftsserie gebracht. „Zu komplex, um es auf Anhieb zu begreifen,” meinte Legu bei Erklärungsnotstand. Am Aussterben der Dinosaurier etwa war nicht irgendein Komet Schuld, der durch seinen gigantischen Aufschlag auf die Erde nicht nur den Titicacasee verursacht hätte, der in Wahrheit dessen Krater sei, sondern die Kontinentaldrift. Und die habe ihrerseits dafür gesorgt, dass eine beständige Großwetterlage über dem Festland, also über allen Kontinenten, die damals ja nur einer hätten gewesen sein können, entstanden sei. Mit der Kontinentaldrift hätten sich dann aber ganz unterschiedliche Wetter gebildet, hier die Wirbelstürme, da die großen Dürren, je nach Drift. „Warum ist denn im Schwarzwald meistens schlechteres Wetter als in den Vogesen?“ fragte Legu rhetorisch, wenn seine Kritiker zu stark wurden.
„Weil sich die Kontinentaldrift da im Kleinen eben auch noch bemerkbar macht. Der Rheingraben ist nichts anderes als die Entfernung des Kontinentes Asien vom Kontinent Europa. Der Zug an der Platte kommt eigentlich aus China. Das ist Chaostheorie, lässt sich leider nicht eindeutig herleiten.“
„Inkontinenz fällt mir dazu nur ein,” soll der Schlacks Harry bei einem Sommerfest darauf einmal geantwortet haben. Seitdem besteht auch zwischen Legu und Harry eine sicher bis zur Stammesfehde auswachsende Feindschaft, wenn beide denn einem Stamm angehören würden. Nein, eher war es eine Art Hasssympathie. Letztlich war Harry ziemlich verschroben, aber Legu übertraf ihn darin dann noch um einiges.
Legu gehörte allerdings einem Stamm im Hunsrück an, einem alteingesessenen Zimmerer- und Dachdeckerclan aus Rheinböllen. Die hielten da gewissermaßen das Schieferschindelkartell. Selbst dem Geburtshaus des Schinderhannes wollen die das Dach gedeckt haben. Na ja, Banditen waren sie ja irgendwie auch geworden, mit ihrem Monopol auf Verbandsgemeindeebene.
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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