Vorweggeschickt: Britannien ist eine koloniale Mittelmacht, Atommacht dazu. Erst vor wenigen Tagen lernte ich, dass Letzteres von den Wartungs- und Reparaturarbeiten in den USA abhängt. Autonomie ist was anderes. Und Premierminister Keir Starmer, der Jeremy Corbyn als Labour-Parteichef ziemlich erfolgreich abgesägt hat, ist weit davon entfernt, eine auch nur annähernd ähnliche gesellschaftliche Mobilisierung auszulösen oder gar anzuführen. Wahrscheinlicher ist, dass er den Weg der lahmen Enten von Frankreich und Deutschland, Emmanuel Macron und Olaf Scholz, in Kürze vor sich hat. Umso mehr Respekt habe ich. Macron hat als Staatspräsident verfassungsrechtlich immerhin mehr Handlungsspielraum als ein abgewählter Bundeskanzler.

Denn anders als seine europäischen Nato-Kolleg*inn*en hat Keir Starmer offenbar das Handwerk der Politik noch nicht verlernt. Er räumt der Spur der Verwüstung, die die US-Trump-Administration in der Welt hinterlässt, hinterher. Und was entscheidend ist: er kann nicht nur mit allen – unabhängig von Sympathie und Antipathie – reden. Er tut es auch.

Absehbar ist, dass es nicht auf eine europäische Friedensordnung, sondern auf eine Teilnahme am ökonomisch, ökologisch und sozial ruinösen Wettrüsten hinausläuft. Die Begrifflichkeit (Sonder-)”Vermögen” zeigt dabei sprachlich zweifellos schon trumpsches Format. Florian Rötzer/overton skizziert das leider weitgehend zutreffend : Europa muss aufrüsten, ist das Mantra, um sich gegen Russland verteidigen zu können – Gängige Behauptung ist, dass Europa massiv aufrüsten müsste, um einen angeblich bevorstehenden Angriff von Russland abwehren zu können und die Ukraine weiter nach der Devise ‘Die Ukraine muss gewinnen’ zu unterstützen, nachdem Donald Trump direkte Verhandlungen mit Wladimir Putin über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg führen will. Erwogen wird, dass Frankreich und auch Großbritannien ihre Atomwaffen europäisieren.” Letzteres wünschen sich zwar deutsche Bundesregierungen, deutsches Kapital und deutsche Denkpanzer, doch in Frankreich und UK denkt niemand ernsthaft daran, das zu tun. Dem stehen nicht nur Staatsverfassungen im Weg, sondern auch Interessen, die sich nicht decken. Gut so. Den Deutschen ist nicht zu trauen.

Ich würde gerne von einer Regierung regiert, die das auch kann, was Starmer derzeit macht. Ohne zu wissen, was da heute rauskommt, während ich dies schreibe. Meine Kriegsangst, zu der ich offen stehe, würde eingedämmt. Helmut Schmidt (1974-1982), den ich innenpolitisch bekämpft habe, konnte das und tat es, auch wenn es ihm lebensgefährliche Herzprobleme machte. Hans-Dietrich Genscher, Bundesaussenminister 1974-1992, konnte es und tat es – und trat rechtzeitig zurück, bevor es ihn umbrachte. Ihn habe ich innenpolitisch noch härter bekämpft. Aber der hat die multipolare Weltodnung vorhergesehen, die viele in Brüssel und Berlin heute noch nicht erkennen können. Diese deutschen Aussenpolitiker nannten sich nicht “Realos” – aber sie waren es.

Ihr Denken und ihre Fähigkeiten fehlen heute in Berlin, Hauptstadt der BRD. Und die EU in Brüssel ist in dieser Hinsicht ein Totalausfall. Das hat Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer Personalpolitik mitverbockt. Nun sind wir abhängig von der Vernunft im Brexit-London. Gut, dass ich schon 68 bin.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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