Warum traumatisierte Geflüchtete dringend mehr Hilfe brauchen – Mit traumasensiblen Konzepten könnten Geflüchtete mit PTBS besser in den Alltag integriert werden. Das hat nicht nur soziale, sondern auch ökonomische Vorteile.
Letztes Jahr wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 250.000 Erst- und Folgeanträge auf Asyl eingereicht. Dies entspricht einem Rückgang der Erstanträge um 30,2 Prozent und der Folgeanträge um 7,0 Prozent im Vergleich zu 2023. Darüber hinaus gibt es Migranten, die nicht über das Asylverfahren nach Deutschland einreisten. So erhalten ca. 1,1 Millionen Ukrainer einen vorübergehenden Schutz über einen humanitären Aufenthaltstitel (Aufenthaltsgesetz).
Schätzungen zufolge leiden mindestens 30 Prozent der geflüchteten Menschen in Deutschland an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression. Genaue Daten sind hierzu nicht vorhanden. Stellt man diese Zahl der Vermittlungen an betreuende Einrichtungen gegenüber, lag die Versorgungsquote im Jahr 2021 bei lediglich 4,1 Prozent. Das bedeutet, dass über 95 Prozent aller Geflüchteten mit einer klinischen Symptomatik unbehandelt wären. Da sich die Strukturen bis heute nicht wesentlich weiterentwickelt haben, wird sich dieses Verhältnis auf einem ähnlichen Niveau befinden.
Der Begriff „Trauma“ bezieht sich auf Schocktrauma nach Kriegsereignissen, Überfällen oder Vergewaltigungen, sofern es einmalige oder zeitweilige Ereignisse waren. Komplexe Traumata liegen vor, wenn Menschen über längere Zeiträume unter extremen Bedingungen leiden. Dies können systematische Gewalt und Folter, Kriegshandlungen, Unterdrückung oder langjährige Fluchterfahrungen sein.
Man darf nicht vergessen: Alleine 2024 waren über 2000 Tote oder Vermisste im Rahmen der Flucht nach Europa zu beklagen. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind in den letzten zehn Jahren über 30.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst. Viele der Überlebenden in Deutschland haben diese Schicksale als Familienmitglieder miterleben müssen, was nicht selten zu sogenannten sekundären Traumatisierungen führt.
Klinisch werden die Symptome als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) klassifiziert. PTBS zeichnet sich durch Symptome wie plötzliche und belastende Erinnerungen, Vermeidungsverhalten (wie zum Beispiel Vermeidung von Orten, Menschen oder Aktivitäten) und Übererregung aus. Das kann zu einer emotionalen Taubheit und Dissoziation von eigenen Gefühlen führen. KPTBS umfasst zusätzlich emotionale Dysregulation (also Wutausbrüche oder eine intensive Traurigkeit, mit denen nur schwer umgegangen werden kann), ein negatives Selbstbild und Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Angstzentren im Gehirn sind bei Trauma-Patienten überaktiv
Aufnahmen von den Gehirnen schwer traumatisierter Menschen mittels bildgebender Verfahren zeigen, dass in vielen Fällen die Aktivität derjenigen Hirnareale, die u.a. für wichtige Funktionen wie Konzentration, oder Affektkontrolle wichtig sind, deutlich reduziert sein können. Der präfrontale Kortex, der für rationale Entscheidungen und die Impulskontrolle verantwortlich ist, ist weniger aktiv, während die Angstzentren des Gehirns überaktiv bleiben. Das Nervensystem verharrt dann in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft.
Traumatische Erlebnisse führen in einigen Fällen zu neuer Gewalt, die in der Regel für die Betroffenen nicht oder nur schwer kontrollierbar ist. Das geschieht im öffentlichen Raum oder in Familien. Fragen der kulturellen Identität („Wer bin ich jetzt?“) sowie die Herausforderung, in einem Land mit anderen Wertesystemen und Umgangsformen zu leben (landläufig „Kulturschock“), stellen zusätzliche eigene Stressfaktoren dar.
Retraumatisierungen im Alltag
Das öffentliche Leben in Großstädten wie Berlin ist für viele Menschen unabhängig ihrer Herkunft zu einer Herausforderung geworden. Wer auf den überfüllten öffentlichen Nahverkehr, das unterfinanzierte Schulwesen oder öffentliche Einrichtungen angewiesen ist, in die seit Jahrzehnten unzureichend investiert wird, kann ein Lied davon singen.
Für traumatisierte Menschen stellen solche Alltagssituationen eine noch deutlichere Belastung dar. Lautes Gedränge in der U-Bahn, Silvesterraketen, Lärm in überfüllten Schulklassen oder Werkhallen können plötzliche Erinnerungen an Krieg und Gewaltsituationen auslösen. Daraus können intensive Stressreaktionen und Panik resultieren. Die Gefühle von Sicherheit und Kontrolle sind massiv beeinträchtigt. Solche Überforderungen können im schlimmsten Fall zu Retraumatisierungen führen und bestehende Symptome weiter verstärken.
Die Mittel im Gesundheitswesen sind knapp
Eine Umfrage des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2022 hat gezeigt, dass Wartezeiten für Psychotherapieplätze durchschnittlich fast fünf Monate betragen. Bedenkt man, dass Geflüchtete oft mit Sprachbarrieren oder einem unbekannten System umzugehen haben, kann man davon ausgehen, dass die Wartezeit unter Geflüchteten noch deutlich höher ausfällt. In ländlichen Regionen sieht es oftmals noch kritischer aus.
Neben therapeutischen Maßnahmen gibt es weitere Möglichkeiten. Durch das Verständnis der Hintergründe von Traumata können traumasensible Organisationen ein wichtiger Ansatz sein, die Not von Flüchtlingen und anderen von Traumata betroffenen Bevölkerungsgruppen nachhaltig zu berücksichtigen.
Bei der „traumasensiblen Organisation“ geht es um erprobte Ansätze in Unternehmen und öffentlichen Institutionen. Traumatisierte Menschen, die unter den psychologischen und sozialen Folgen von Gewalt und Vertreibung leiden, können mit ausgewählten Maßnahmen besser in die Arbeitswelt, Schulen etc. integriert werden. Dies beginnt schon damit, dass hinreichend Bewusstsein geschaffen und über Hintergründe und Symptomatiken informiert wird. Ziel der Ansätze ist es auch, Umgebungen zu schaffen, die Retraumatisierung verhindern und Resilienz fördern.
Traumasensible Organisationen bauen auf Maßnahmen für Sicherheit, Vertrauen, kulturelle Sensibilität und Empowerment. Damit verbessert sich nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern – je nach Organisation – auch die Zusammenarbeit, Krankenstände, die Arbeitskonzentration, das Lernverhalten sowie die Arbeitsproduktivität. Darüber hinaus kann mit emotionalen Situationen besser umgegangen werden. Die Vorteile sind also nicht nur sozialer und psychologischer Natur, sondern oftmals auch arbeitswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich sinnvoll. Traumatisierte Menschen profitieren überproportional von diesen Maßnahmen.
Schulungen, Ansprechpartner und mehr soziales Miteinander
Es kann mit einfachen Maßnahmen begonnen werden. Eine effektive Methode ist die Durchführung von Schulungen, um das gegenseitige Verständnis zu stärken und Hinweise für einen traumasensiblen Umgang miteinander zu erhalten. Des Weiteren ist die Einrichtung eines vertraulichen Ansprechpartners hilfreich, bei dem Mitarbeitende in einem sicheren Rahmen Unterstützung finden. Weitere Maßnahmen zielen auf die interne Kommunikation, das soziale Miteinander sowie betriebliche Abläufe.
Für Organisationen, die traumasensibles Handeln systematischer fördern möchten, bietet sich ein umfassender Werkzeugkasten. Am Anfang steht eine gründliche Recherche, um die Auswirkungen von Trauma im eigenen Betrieb zu verstehen. Manchmal sind einzelne Abteilungen besonders betroffen. Anschließend erfolgen Schulungen zur Symptomatik und der Auswirkungen von Traumata. Im Anschluss werden praktische Maßnahmen konzipiert und umgesetzt (z.B. Arbeitszeitmodelle, Abbau von Stressfaktoren, Zugang zu Beratungsdiensten oder die Umstrukturierung einzelner Räume, um ein sicheres Umfeld zu schaffen). Idealerweise werden die Maßnahmen nach einem gewissen Zeitraum auf Effizienz und Effektivität geprüft.
In Chicago wird das Konzept schon getestet
In den USA wurde das Konzept einer traumasensiblen Umgebung seit einigen Jahren an Schulen in Chicago durch das Healing Trauma Together (HTT) Programm angewendet. Zu den Maßnahmen des Programms gehören die Einrichtung von „Calm Rooms“, sicheren Rückzugsorten, in denen Schüler bei sensorischer Überlastung oder emotionalem Stress Unterstützung finden können. Des Weiteren wurden tägliche „Achtsamkeits-Praktiken“ in den Unterricht integriert. Diese unterstützen alle Schüler, ihre Fähigkeiten zur emotionalen Regulation und Stressbewältigung zu stärken.
Ein weiteres wichtiges Element sind Peer-Support-Gruppen, die einen Austauschraum für Schüler bieten, die ähnliche traumatische Erfahrungen gemacht haben. Diese können sich dort gegenseitig unterstützen und das Gefühl der Zugehörigkeit stärken. Diese praktischen Ansätze tragen auch dazu bei, die Resilienz der Schüler zu fördern.
Besonders profitieren können von den Maßnahmen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) wie Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Technisches Hilfswerk und andere Hilfsorganisationen (z. B. DRK, Johanniter etc.) sowie Behörden mit relevanten Kontaktstellen wie Sozialverwaltung oder Einwanderungsbehörden. Gleiches gilt für Unternehmen, die überproportional traumatisierte Mitarbeitende beschäftigen.
Felix Richter ist Unternehmensberater und Traumatherapeut mit langjähriger interkultureller Erfahrung in Afrika, Asien, dem Mittleren Osten sowie Nord- und Mittelamerika. Er arbeitet seit über zehn Jahren in der Geschäftsführung eines mittelständischen Beratungsunternehmens sowie in seiner eigenen Praxis für Traumatherapie in Berlin-Friedenau. Katharina Klindtwort ist Unternehmensberaterin. Sie studierte Volkswirtschaft sowie International Health an der Universität Bayreuth und der Charité. Zuletzt forschte sie an der Charité zu traumasensiblen Organisationen in Zeiten geopolitischer Krisen. Sie ist zudem als Rettungssanitäterin in Berlin und Bayreuth tätig. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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