Zu den Sondierungen der Koalition: Neue Regierung mit schwacher Legitimation – Was zählt der Wille der Wählerinnen und Wähler als Souverän?

Nach der Bekanntgabe des amtlichen Wahlergebnisses vom 14. März 2025 rechnen sich die Bundestagsparteien, insbesondere die künftige Regierungskoalition, ihre Wählerzustimmung schön, auf die sie sich als Legitimation berufen. Eine wirkliche Wahlanalyse mit abzuleitenden Konsequenzen findet kaum statt. Dass trotz hoher Wahlbeteiligung immerhin ein Drittel der 60 Millionen Wahlberechtigten entweder als Nichtwähler (17,5%) oder als Wähler zahlreicher „sonstiger“ Parteien (13,7%) den Bundestagsparteien der „Mitte“ somit ihre Zustimmung verweigerten und ein weiteres Drittel (29,6% bzw. 34,5%) die Parteien der so genannten „Ränder“ wählte, findet kaum Beachtung – außer mit der gewissenlosen Übernahme rechtspopulistischer Forderungen in der Migrationspolitik zur eigenen Machterhaltung.
Ebenso wenig wird reflektiert, dass die drei künftigen Regierungsparteien CDU/CSU/SPD jeweils von mehr als Dreiviertel der Wählerschaft nicht gewählt und damit mehrheitlich eigentlich nicht gewollt wurden, auch wenn sich aus der bloßen Addition unterschiedlicher Wählerstimmen eine rechnerische Mehrheit für eine Koalitionsbildung ergibt. Das tatsächliche Wählervotum und die sozialen Nöte und Anliegen der Wählermehrheit werden bei den Sondierungsverhandlungen einfach ausgeblendet und die soziale Ungleichheit weiter in Kauf genommen? Verbleibt die Hoffnung auf die konkretisierenden Koalitionsverhandlungen, ansonsten riskiert man den Durchmarsch der Rechten bei der nächsten Bundestagswahl in 2029.

Rechnet man die Nichtwähler mit ein, so ist die „siegreiche“ CDU als größte „Volkspartei“ von 76,4% der Wahlberechtigten diesmal nicht gewählt und damit nicht gewollt worden, da nur ein knappes Viertel für sie gestimmt hatte (28,6% bzw. 23,6% nach Abzug der Nichtwähler). Ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis überhaupt gilt nun als „Erfolg“. Von der SPD mit ihrem schlechtesten Wahlergebnis aller Zeiten (86,5% einschl. Nichtwähler haben sie nicht gewählt und nicht gewollt) erst gar nicht zu reden. Zwei Wahlverlierer schließen sich also zusammen, um eine Regierungskoalition zu bilden.

Mehrheitlich abgelehnte Parteien wie CDU und SPD wähnen sich dabei immer noch als maßgebliche „Volksparteien“. Ihre in wiederholten Umfragen mehrheitlich sogar für inkompetent oder unsympathisch empfundenen Kanzlerkandidaten können sich jedoch (ohne Selbstkritik) auf das Wahlsystem berufen und damit den politischen Kurs bestimmen. Friedrich Merz als Kanzler in spe wurde in diversen Umfragen zuletzt im Februar und März 2025 nur von einem Fünftel bis zu einem Viertel der Befragten für vertrauenswürdig oder sympathisch gehalten. Mit wieviel narzisstischem Selbstbewusstsein muss jemand ausgestattet sein, der sich dem Wahlvolk als bester Kanzleranwärter andient, obwohl ihm das Amt auch die Oppositionsparteien mangels Vertrauen und Kompetenz nicht zutrauen?

Regionale Landespartei bestimmt den Kurs der Bundespolitik?

Die CSU als regionale „Bayernpartei“ mit bundespolitischem Anspruch wurde von 95% der wahlberechtigten Bundesbürger nicht gewählt. Dennoch erhebt deren narzisstischer Vorsitzender (mit bisweilen pubertärem Verhalten auf Tik-tok und Aschermittwochs-Events) einen gleichberechtigten Führungsanspruch in der Koalitionsrunde der bundesweiten Parteien und will eine Anzahl wichtiger Minister-Posten in Berlin für seine bayrischen Parteifreunde. (Noch bevor ein Koalitionsvertrag zu Ende verhandelt ist, kursieren bereits Namen für Ministerposten, darunter auch ein vorbestrafter Landwirtschafts-Lobbyist und Umweltsünder vom Bauernverband als künftiger Landwirtschaftsminister – kein Garant für nachhaltige Landwirtschaft und gesunde Ernährung).

Die übrigen 15 Bundesländer, insbesondere das viel bevölkerungsstärkere NRW, lassen sich solchen privilegierten Sonderstatus eines süddeutschen Bundeslandes in der Berliner Regierungszentrale gefallen? Zu guter Letzt die Grünen, die (einschl. Nichtwähler) von 90,4% der wahlberechtigten Bevölkerung nicht gewählt und gewollt wurden, konnten über den alten Bundestag nochmal machtvoll in das Sondierungs-Pokerspiel eingreifen. So bieten die zersplitterten Mehrheitsverhältnisse Spielräume für allerlei parteitaktische Manöver – aber sind diese immer im Sinne der Wählerschaft? Immerhin hat der überlebensnotwenige Klimaschutz im Vorfeld wieder einen höheren Stellenwert erhalten, der ansonsten unter „ferner liefen“ vernachlässigt worden wäre, während zugleich Hunderte Milliarden in Rüstungsgüter und tödliche Waffen versenkt werden. Ein Friedens- und Abrüstungskonzept sehen die Koalitionsparteien nicht vor, sondern streben nach “Kriegstüchtigkeit”.

Ist die Zivilgesellschaft demokratisch engagierter als die Parteien?

Nur knapp 2% der wahlberechtigten Bevölkerung, nämlich 1,2 Mio. Personen, sind insgesamt in den Parteien organisiert, also 98% sind keine Parteimitglieder. Demgegenüber ist etwa jeder zweite Bundesbürger in einer der 657.000 Nichtregierungsorganisationen engagiert. Haben diese es nötig, sich ausgerechnet wegen ihrer Proteste gegen Rechtsextremismus vom künftigen Kanzler Merz in den Missbrauchsverdacht der NGOs rücken zu lassen und ihren gemeinnützigen oder gemeinwohlorientierten Charakter in Frage stellen zu lassen?

Haben die Unionsparteien und ihr Kanzlerkandidat nicht begriffen, dass die Demokratie von der Zivilgesellschaft lebt und es deshalb die Aufgabe des Staates ist, bürgerschaftliches Engagement zu fördern? Wenn sie das in Frage stellen, fördern sie stattdessen die zunehmende Radikalisierung und Polarisierung in der Gesellschaft. Der skandalöse Angriff auf die demokratische Zivilgesellschaft von der Spitze einer demokratischen Partei erinnert an autoritäre oder illiberale Staatsführer und lässt böse Vorahnungen mit Blick auf den neuen Regierungschef Merz aufkommen, der schon in der Vergangenheit die Rechte, insbesondere Klagerechte von Umweltorganisationen beschneiden wollte und sich über lobbykritische Organisationen ärgerte, die seine Nebentätigkeiten als Wirtschaftslobbyist offenlegten oder die rechtswidrige Einbindung der „Wirtschaftsunion“ in die CDU-Parteigremien anprangerten.

Was ist der Wille des Volkes in einer repräsentativen Demokratie mit sozialer Spaltung?

Alle Statistiken und Umfragen zur sozialen Gerechtigkeit und Ungleichheit oder zur Steuergerechtigkeit zeigen über lange Zeiträume: Nicht nur die vielen sozialen Verlierer, sondern eine große Mehrheit des Volkes will mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit und faire Lastenverteilung angesichts einer Armutsquote von 16% und 6% extremer Armut in Deutschland, bei gleichzeitig steigendem obszönem Reichtum und niedriger Steuermoral der Reichen. Von Vermögens- und Erbschaftssteuer wird sich auch die SPD in der Koalition wieder einmal verabschieden? Die Ärmsten werden beim Bürgergeld sanktioniert, die Steuerhinterzieher werden nicht belangt. Die Multimillionäre mit nur 24% Steueranteil leben im Steuerparadies, während die unteren und mittleren Einkommen 43% der Steuerlast tragen müssen. Der Mindestlohn bekämpft die Armut nicht.

Doch die sozialen Nöte der Menschen, vor allem die akute Wohnungsnot, der Mietpreisanstieg und die Bildungsmisere haben im bisherigen Sondierungspapier der Koalitionäre keine Priorität und finden kaum Erwähnung. Die Testergebnisse der Pisa-Studie waren zuletzt so schlecht wie nie zuvor. Die Nettokaltmiete ist in den letzten 5 Jahren um 42% gestiegen. Die Preise für den täglichen Bedarf steigen ungebremst; die gefühlte Inflation beträgt 15%. Die Beiträge zur Krankenkasse und Pflegekasse sowie demnächst zur Rentenkasse steigen auf Höchstniveau, ohne dass nachhaltige Reformen in Angriff genommen werden. Trauen wir Union und SPD eine echte soziale Zeitenwende zu oder verpassen die eine Jahrhundertchance auf echte Reformen, unter anderem eine Pflegereform, bevor die Pflegefälle auf 50% bis 70% wachsen?

Wie repräsentativ ist unser Parlament und wie befangen sind unsere Volksvertreter?

Das Problem des Deutschen Bundestages ist neben dem ausufernden Lobbyismus und den vielen Nebentätigkeiten der Abgeordneten die mangelnde Repräsentativität des Parlamentes, denn die dort überproportional vertretenen Akademiker, Juristen, Lehrer, Beamte, Verbandsfunktionäre, Freiberufler etc. sind alles andere als ein Spiegelbild der arbeitenden Bevölkerung. Unsere gut versorgten Volksvertreter in Berlin, von denen die Hälfte noch stattliche Nebeneinkünfte haben, leben somit in Berlin in ihrer eigenen abgehobenen „Blase“ der „oberen zehn Prozent“, fernab der Sorgen und Nöte der „Normalbürger“. Der Blick von oben oder in den Wahlkreisen auf die soziale Lage scheint seit Jahrzehnten getrübt zu sein.

Die Schlangen an Tafeln und Suppenküchen, die Kinderarmut und die Zahl der Armutsrentner steigen ungebrochen, während die privilegierten Politiker und Beamten ohne Einzahlung in die Rentenkasse die größten Profiteure sind: Für deren üppige Pensionen werden demnächst 80 bis 100 Mrd. € aus Steuermitteln aufzubringen sein. Niemand spricht hier von Belastung nachfolgender Generationen, wie bei der Rentenkasse. Die Bundestagsabgeordneten sind die bestbezahlten in Europa und kosten uns jährlich 90 Mio. € pro Jahr (plus 230 Mio. € für ihre Mitarbeiter). Können wir von dort oben aus der neuen schwarz-roten Regierungskoalition eine grundlegende Verbesserung der sozialen Verhältnisse endlich erhoffen – unter einem Kanzler Merz als Multimillionär, Privatflieger, Besitzer einer Ferienvilla am Tegernsee und langjährigem Wirtschaftslobbyisten? Welchen Einfluss und Ehrgeiz hat die geschwächte SPD in der künftigen Regierung?

Wie unabhängig und glaubwürdig sind unsere gewählten Volksvertreter?

Auf den exorbitanten Anstieg der Rüstungsausgaben im Sinne der Rüstungsindustrie – was die neue Regierung mit propagandistischer Begleitung zu ihrem Hauptanliegen erkoren hat – und auf die Preisentwicklungen am Immobilienmarkt wäre ein erweiterter Blick möglich: Wenn nämlich auch die Bundestagsabgeordneten und Minister sowie der Kanzler offenlegen würden, ob sie ihr Geld auch selber privat in Rüstungsaktien anlegen, die nunmehr als „nachhaltige und damit ethische Geldanlage“ gelten sollen, sowie in Immobilien oder Immobilienfonds, die den Wohnungsmarkt verteuern. Schon als damaliger Bundestagsabgeordneter hatte sich Friedrich Merz geweigert, seine hohen Einnahmen aus zahlreichen Nebentätigkeiten in der Wirtschaft offenzulegen und wollte gegen die Offenlegungspflicht klagen. Der Finanzkonzern BlackRock, deren Aufsichtsratsvorsitzender er in Deutschland war, zählt zu den größten Aktionären bei fast allen Rüstungsunternehmen. Haben wir demnächst einen unbefangenen Kanzler?

Der kleine Koalitionspartner SPD unter Lars Klingbeil lässt Zweifel aufkommen, ob diese Partei wirklich als soziales und friedenspolitisches Korrektiv in der neuen schwarz-roten Koalition unter Kanzler Merz sichtbar wird. Schon dass der große Wahlverlierer Lars Kingbeil als SPD-Vorsitzender (vom rechten Seeheimer Flügel der Partei) am Wahlabend nicht zurückgetreten ist, sondern sich ohne Rückkopplung mit seiner Parteibasis im Alleingang zum Doppelvorsitzenden von Partei und Fraktion ausrief (und Rolf Mützenich vom linken Parteiflügel damit verdrängte), zeugte von mangelndem innerparteilichen Demokratieverständnis. Ähnliches praktizierten zurückliegend die gescheiterten SPD-Kanzlerkandidaten Steinmeier und Steinbrück, und auch SPD-Vize Olaf Scholz war nach dem Rücktritt der SPD-Chefin Andrea Nahles handstreichartig zum Kanzlerkandidaten ausgeguckt worden, obwohl er von den stellvertretenden Parteivorsitzenden jedes Mal das schlechteste Wahlergebnis von den Delegierten bekam.

Der neue starke Mann der SPD als Garant für die rüstungspolitische Neuausrichtung der Regierungspolitik?

Der Soldatensohn Lars Klingbeil, ehemaliger Wahlkreis-Mitarbeiter von Gerhard Schröder, war lange Mitglied in der Lobbyorganisation „Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik“ und im „Förderkreis deutsches Heer“, dem Lobbynetzwerk der deutschen Rüstungsindustrie. An seinen Wahlkreis grenzt der Rheinmetall-Standort Unterlüß an, wo Munition und Waffen sowie der Kampfpanzer Leopard 2 auch für den Rüstungsexport hergestellt werden und gerade eine neue Munitionsfabrik erstellt wird. Für das durch die neue schwarz-rote Koalition angestrebte gewaltige Rüstungsprogramm in dreistelliger Milliardenhöhe ist Lars Klingbeil für einen Kanzler Friedrich Merz der ideale Koalitionspartner; der aus der Friedensbewegung stammende Rolf Mützenich wäre hier nur hinderlich für die Bellezisten.

In einer Grundsatzrede im Juni 2022 hatte SPD-Chef Lars Klingbeil (frei nach dem preußischen Generalmajor Clausewitz) „militärische Gewalt als legitimes Mittel der Politik“ betrachtet. Das galt als Zeitenwende in der einstigen Friedenspartei SPD unter Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Dieser hatte Kriege nicht als „ultima ratio“, sondern als „ultima irratio“ gekennzeichnet. Die Irrationalität eines Lars Klingbeil wird auch sichtbar in dem Ausspruch des Friedensnobelpreisträgers Michail Gorbatschow von 1990: „Politiker, die meinen, Probleme und Streitigkeiten könnten durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden – und sei es auch nur als letztes Mittel – sollten von der Gesellschaft abgelehnt werden, sie sollten die politische Bühne räumen.“ Der Rücktritt von Lars Klingbeil wäre also überfällig.

Koalitionspartner SPD steht für neue Runde des Wettrüstens statt für die soziale Frage

„Inzwischen ist eine neue Runde des Wettrüstens gestartet worden, die Umweltkrise verschärft sich, die Kluft zwischen den reichen und armen Ländern wird immer größer und die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Staaten öffnet sich immer weiter. Das sind Probleme, die ganz oben auf der Weltagenda stehen sollen und müssen. Doch sie werden nicht gelöst. Sackgassen überall, wohin man auch schaut“, so lautete die damalige Analyse von Michail Gorbatschow, die auf die heutige Situation übertragbar ist und die den Koalitionsparteien ins Stammbuch geschrieben werden sollte. Gorbatschow wurde nicht müde zu wiederholen, dass die menschheitlichen Ziele nur unter den Bedingungen einer demilitarisierten Politik und demilitarisierter internationaler Beziehungen erreicht werden.

Seinen Appell zum Handeln richtete Gorbatschow nicht nur an die Staatsführungen, sondern auch an die Zivilgesellschaft: „Ich bin zuversichtlich, dass die Zivilgesellschaft eine immer größere Rolle spielt.“ Bei der Beendigung des Kalten Krieges habe die Öffentlichkeit eine enorme Rolle gespielt. Gorbatschow appellierte „an alle Menschen, die nicht nur an sich denken und denen die Zukunft ihrer Kinder und Enkel nicht gleichgültig ist, ihre Bemühungen zu vereinen, um die Welt vor Kriegsleid, vor der Bedrohung einer Umweltkatastrophe, vor Armut und Rückständigkeit zu bewahren.“

Unsere Verpflichtung als Wähler und als Zivilgesellschaft

Die Wählerinnen und Wähler in Deutschland sollten diesen Appell beherzigen und als Zivilgesellschaft die neue Regierungskoalition auf diese „Zeitenwende“ verpflichten, denn wir als Volk sind der Souverän. Handelt die neue Koalitionsregierung dem zuwider, werden wir bei der Bundestagswahl in vier Jahren erleben, dass die Parteien der Mitte davongejagt werden und die Rechtsradikalen das Ruder in Deutschland übernehmen. Wollen wir dem tatenlos zusehen?

Dieser Beitrag erschien zuerst bei lokalkompass.de, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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