Koalitionsverhandlungen: Führt der „Politikwechsel für Deutschland“ zu einem Desaster für soziale Verlierer und zum Siegeszug der Rechtsextremen?
Während die Koalitionäre von CDU und SPD in Berlin gerade über die Einsparung von sozialen Leistungen zur Finanzierung der vereinbarten Schulden durch weitere Umverteilung von unten nach oben ringen, zeigt die Nichtregierungsorganisation „Human Rights Watch“ die Folgen für die von sozialem Abstieg Betroffen auf: Durch die gravierenden Missstände im deutschen Sozialsystem seien nach 20-jährigem Anstieg der Armutsquote 12 bis 18 Mio. Menschen in Deutschland in einem Ausmaß von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, dass ihre Menschenrechte verletzt sind.
Das bisherige Koalitionspapier der demnächst fünften schwarz-roten Regierung wird mit den geplanten Sozialkürzungen absehbar zu einem Förderprogramm nicht nur für die Rüstungsindustrie, sondern auch für die weiterwachsende AfD. Diese profitiert von den sozialen Abstiegsängsten der Menschen vor allem in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet, wie die aktuellen Trendumfragen belegen. Danach könnte die AfD die CDU überrunden. Der am Boden liegenden SPD droht 2029 zugleich der mögliche Abstieg bis an die 5%-Grenze, während sie von der Linkspartei überholt wird. Droht uns eine Regierungsära der sozialen Kälte zugunsten „heißer Waffen“ an der Rüstungsfront mit anschließendem Rechtsruck?
Dem stetigen Aufstieg der AfD, beflügelt durch den Unmut über die Koalitionsverhandlungen, wird von den Koalitionären nichts entgegengesetzt, obwohl die SPD bereits von der AfD überflügelt wurde. Die versprochenen „schonungslosen Wahlanalysen“ sind vorerst den eiligen Koalitionsverhandlungen zum Opfer gefallen, so dass der angekündigte “Politikwechsel für Deutschland“ eher zu einem inhaltlichen „weiter so“ wird. Denn die 6-stelligen Milliardenschulden für den Politikwechsel kommen nicht den Bedürftigen und den „Normalbürgern“ der Mittelschicht zugute, auch nicht ausreichend den Städten und Gemeinden mit ihren Rekorddefiziten.
Die soziale Sicherheit in unserem Sozialstaat ist voraussichtlich unter der neuen Regierung nicht mehr für alle gewährleistet, für viele nicht einmal die Sicherstellung eines Existenzminimums. Denn Einsparpotenziale sieht man vor allem im Sozialbereich. Den Erwerbslosen wird pauschal Faulheit und Arbeitsverweigerung unterstellt, deshalb gibt es eine „Rolle rückwärts“ beim Bürgergeld und eine eventuelle Deckelung des Rentenniveaus, obwohl bereits jeder fünfte Rentner, (insbesondere Rentnerinnen) in Armut lebt, ebenso jedes fünfte Kind. Auch die geringfügige Erhöhung des Mindestlohnes in Anpassung an die EU-Richtlinie ist noch ungewiss und ohne konkrete Zusage in den Koalitionspapieren, die bis Ostern fertiggestellt sein sollen.
Kürzung von Sozialleistungen zur Steigerung von Rüstungsausgaben?
Während die meisten Menschen unter steigenden Mieten und Preisen bei anhaltender Inflation und sinkender Wirtschaftskraft leiden, droht ihnen zusätzlich die Kürzung von Sozialleistungen, angefangen beim Bürgergeld über die Rente bis zum Erziehungsgeld und verteuertem Deutschlandticket, bei gleichzeitigen Steuergeschenken an Gutverdienende und Vermögende.
Das Ehrenwort des noch geschäftsführend amtierenden Kanzlers Scholz im Wahlkampf, dass für die Rüstungsausgaben keine Sozialleistungen geopfert würden, wird seinen Nachfolger nicht binden. Denn zunehmend wird Kriegshysterie geschürt und die Rüstungslogik befeuert bis hin zur Anschaffung von Angriffsdrohnen für unsere bisherige Verteidigungsarmee. Man fiebert dem großen Krieg Russlands gegen die NATO spätestens in der nächsten Dekade entgegen und lenkt so von den sozialen Inlandsproblemen und den Umschichtungen der Gelder ab.
Rüstungsfinanzierung durch Umverteilung von unten nach oben?
Mit der zugestandenen Aussetzung der Schuldenbremse kann Deutschland theoretisch unbegrenzt viel Geld in Verteidigung, Rüstung, Militär und Zivilschutz investieren und über Kredite finanzieren. Zusammen mit dem Sondervermögen von 500 Mrd. € für Infrastruktur-Investitionen und Klimaneutralität, müssen die jährlich zweistelligen Milliardenschulden außerhalb des Bundeshaushaltes irgendwann ausgeglichen werden. Als Einsparpotenzial fällt der Union als erstes der Sozialhaushalt ein
Die deutsche Aufrüstung auf Rekordniveau soll nach Vorstellung der Union, deren Sozialflügel kaum noch Einfluss hat, mit einer Umverteilung von unten nach oben finanziert werden, obwohl die 500 reichsten Deutschen über mehr als 1 Billion Euro verfügen und die reichsten 10% über 60% des Gesamtvermögens in Deutschland. Die Zahl der Milliardäre im Lande stieg auf die Rekordzahl von 250. Doch eine „Reichensteuer“ oder Vermögenssteuer wird die Koalitionsregierung unter CDU-Kanzler und Multimillionär Merz niemals einführen, obwohl die Zahl der Superreichen in den vergangenen 20 Jahren steil angestiegen ist, darunter der jüngste Milliardär Deutschlands mit 19 Jahren als Anteilseigner eines Pharmakonzerns.
Verteilungspolitik falsch herum
An eine soziale Umverteilung von oben nach unten ist weniger denn je gedacht, sondern es bleibt bei der umgekehrten Verteilungspolitik im Sinne der Finanz- und Rüstungslobby und der Wohlhabenden, zu denen der künftige Kanzler der „BlackRot-Koalition“ als ehemaliger Wirtschaftslobbyist selber gehört. Da seine angestrebten Bürgergeld-Regelungen als „Grundsicherung“ noch hinter „Hartz IV“ zurückfallen, sollte die SPD sich daran erinnern, womit ihr anhaltender politischer Abstieg begann.
Doch ihr SPD-Verhandlungsführer Lars Klingbeil gehörte eine Zeitlang zwei Rüstungslobbyorganisationen an und hält laut einer Grundsatzrede militärische Gewalt für ein „legitimes Mittel der Politik“. Bei dieser Sichtweise und Prioritätensetzung, die sich mit der seines Duz-Freundes Friedrich Merz deckt, kann es schon mal passieren, dass die sozialen Anliegen der Bevölkerung und deren Friedenssehnsucht und Abrüstungswünsche unter die sozialdemokratischen Räder geraten.
Vorrang der militärischen Infrastruktur vor den zivilen Investitionen
Auch die überfällige Sanierung der maroden Infrastruktur folgt prioritär den militärpolitischen Vorgaben, indem diejenigen Straßen Brücken und Schienenabschnitte absoluten Vorrang erhalten, die dem Transport militärischer Fahrzeuge, schwerer Geräte und Panzer sowie Truppen gen Osten dienen. Die Mobilität der Truppe ist laut „Operationsplan Deutschland“ wichtiger als die ausgebremste Mobilität der Bevölkerung, das gilt auch für die Streckenabschnitte bei der Generalsanierung der Bahn (durch den unfähigen Bahnvorstand). Denn Deutschland soll Schritt für Schritt „kriegstüchtig“ gemacht werden und schon die Schulkinder sollen auf ihren künftigen Einsatz vorbereitet werden, bis hin zum „Krisenbewusstsein“ und zum propagierten „Mentalitätswandel“ in unserem Hochrüstungsland.
Kanzlerpartei will erkennbar den Rückschritt
Doch eine Friedenserziehung oder eine insgesamt wirksame Bildungsreform ist – trotz bei der Sondierung vereinbarter Milliardeninvestitionen in die Kitas – nicht in Sicht und auch die erforderlichen milliardenschweren Steuerzuschüsse für die Kranken- und Pflegeversicherung werden nicht kommen, sondern stattdessen weitere Beitragserhöhungen. „Wenn jedoch Union und SPD das Ruder nicht herumreißen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die AfD auch bundesweit auf Platz eins landet“, kommentierte Alisha Mendgen vom Redaktionsnetzwerk.
Die momentan gehandelten Köpfe für Ministerposten in der neuen Regierung wären jedoch keine überzeugenden Garanten für eine „Politikwechsel“, da beide Koalitionsparteien solche Persönlichkeiten nicht vorzuweisen haben. Ein Kommentar in der taz brachte es auf den Punkt: „Noch steht die neue Koalition nicht. Trotzdem kann es einem schon flau werden beim Gedanken an die nächsten vier Jahre. Denn die vorläufigen Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen von Union und SPD zeigen: Die Partei, die bald den Kanzler stellen dürfte, will den Rückschritt.“
Auch mit der neuen Regierung geht es für viele Menschen sozial weiter abwärts
Für die Mehrzahl der Menschen wird es insgesamt auch mit der neuen Regierung in Deutschland weiter abwärts gehen; sie werden bei der nächsten Wahl ihre Enttäuschung verstärkt zum Ausdruck bringen. Denn die soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit endlich zu beseitigen, ist kein erklärtes Anliegen der Koalitionsparteien, die eher über Steuersenkungen für Unternehmen und Erben streiten statt über eine „Reichensteuer“, die niemals kommt. In beiden Parteien sind die sozialen oder linken Flügel zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, das wird auch der angekündigte Mitgliederentscheid der SPD zum „kompromissträchtigen“ Koalitionsprogramm zeigen. Schon in der Vergangenheit folgte man loyal einem „Basta-Kanzler“ bis hin zum gemeinsamen Untergang,
Eine „Brandmauer“ gegen weitere Sozialkürzungen gibt es jedenfalls nicht und dem selbst ernannten neuen starken Mann an der SPD-Spitze als Verhandlungsführer wird man nicht in den Rücken fallen. Vielmehr richtet sich der Fokus in der SPD jetzt auf das Postengeschacher, das mit der neuen Fraktions- und Regierungsbildung verbunden ist. Wie sagte noch der SPD-Generalsekretär Matthias Miersch bei Beginn der Koalitionsverhandlungen: „Eine große Koalition ist eine Herausforderung. Wir wollen Veränderung. Und wir wollen die richtigen Antworten auf die Sorgen der Menschen und ihre Zweifel an den staatlichen Institutionen geben.“. Noch sind die richtigen Antworten nicht erkennbar und die Zweifel nicht ausgeräumt.
Migrationsdebatte überlagerte im Wahlkampf das soziale Dilemma
Die alle anderen Themen überlagernde Migrationspolitik hat in Wahlkampfzeiten das soziale Desaster im Lande überdeckt und es wurde auf die vermeintlich schuldigen „Eindringlinge“ gezeigt. Doch es zeigt sich das soziale Politikversagen der letzten Jahrzehnte nunmehr ungeschminkt. „Human Rights“ sieht die Ursachen für den Armutsanstieg unter anderem in dem 2005 von rot-grün eingeführten Hartz IV-System mit dem wachsenden Niedriglohnsektor. Das Bürgergeld als künftige „Grundsicherung“ fange die Auswirkungen der Inflation nicht ausreichend auf und gewährleiste nicht einen angemessenen Lebensstandard. Dieser umfasst nicht nur die Deckung der notwendigen Lebenserhaltungskosten, sondern auch ein Mindestmaß an sozialer, kultureller und politischer Teilhabe, so fordern es die allgemeinen Menschenrechte. Der Europarat und der UN-Menschenrechtsrat haben Deutschland wiederholt angemahnt, die sozialen Menschenrechte einzuhalten, ebenso die Menschenrechtsorganisationen der Zivilgesellschaft.
Solche politischen Mahnungen der zivilgesellschaftlichen NGOs sind vor allem der CDU suspekt, die deren Einfluss beschränken möchte. Stattdessen will man Bürgerrechte beschneiden z. B. durch Abschaffung des „Informationsfreiheitsgesetzes“, mit dem in der Vergangenheit Fehlverhalten von Politikern aufgedeckt werden konnte. Das soll ebenso vermieden werden wie Transparenz in der Frage, welche (befangenen) Politiker ihr Geld in Rüstungsaktien bei Rheinmetall u. a. anlegen oder in profitable Immobilienprojekte investieren, die zum Mietpreisanstieg beitragen.
Leere Versprechungen zur Überwindung der Wohnungsnot als soziale Frage Nr. 1
Auch eine grundlegende Bodenrechts- und Mietrechtsreform zur Bekämpfung der Wohnungsnot und des Mietwuchers ist nicht zu erwarten, da allenfalls über eine geringfügige Verlängerung der wirkungslosen Mietpreisbreme diskutiert wird. Vollmundig angekündigte Wohnungsbauprogramme zur Überwindung der Wohnungsnot haben schon in der letzten Regierungsära nicht gewirkt und deshalb nicht überzeugt. Darum verzichten die Koalitionäre bewusst auf die Nennung konkreter Zahlen zum Wohnungsbau und zu bezahlbaren Mieten, sondern reden von einem „Wohnungsbauturbo“ mit schnellerem und kostengünstigerem Bauen mittels vereinfachter Bauvorschriften. Ausnahmen im Bau- und Umweltrecht sind vor allem für den Bau von Kasernen und militärischer Infrastruktur vorgesehen.
Die Bedeutung des sozialen Wohnungsbaus für die Wohnraumversorgung wird nur allgemein betont, allerdings will man die Wohngemeinnützigkeit mit Geld unterfüttern, wenn sich die SPD hier durchsetzt. Die Mietpreisbremse soll allenfalls für zwei Jahre verlängert werden und die Bekämpfung von Mietwucher wird in eine Expertenkommission vertagt. Bußgelder bei Verstößen gegen die Mietpreisgrenze trägt die Union wohl kaum mit. Die Idee der Jusos für eine Preisbegrenzung bei WG-Zimmern in Wohngemeinschaften wurde in den Koalitionsverhandlungen verwässert und Gelder für ein Förderprogramm nur vage in Aussicht gestellt. Dagegen hat das EU-Parlament beschlossen, dass bis 2030 kein Mensch innerhalb der EU mehr wohnungslos sein soll, weil das eine der schwersten Form von Armut und Entbehrung sei.
Politische Trendumkehr in der Bundeshauptstadt Berlin?
In der Bundeshauptstadt Berlin, in der die Linken bei der Bundestagswahl bereits zur stärksten Kraft wurden, könnte hingegen nach der Wahl 2026 zum Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung gezeigt werden, wie ein Politikwechsel mit sozial orientierter Politik aussieht und wie man Mietwucher und sozialer Ausgrenzung politisch begegnet.
Nach dem Rechtsruck der verbliebenen Sozialdemokraten füllt die Linkspartei womöglich das soziale Vakuum im Parteienspektrum, wozu die Parteien der „politischen Mitte“ nicht imstande sind. Das wäre ein kleiner Lichtblick in der ansonsten nach Rechtsaußen abdriftenden Politikszene, die einen künftigen Kanzler des Großkapitals hervorgebracht hat. Dieser wird die politischen Prioritäten zugunsten der Finanz- und Rüstungsindustrie und zu Lasten des Sozialetats sicherstellen, nur leicht abgemildert durch die Sozialdemokraten als kleiner Juniorpartner.
Nur sozial gerechte Regierungspolitik kann die AfD-Erfolge bremsen
Die AfD braucht sich nur 4 Jahre zurücklehnen und sich den Frust und die Enttäuschung in der Bevölkerung zunutze machen, um dieses Land politisch noch weiter nach rechts zu rücken. Alle Demos „gegen rechts“ bleiben wirkungslos, wenn nicht zugleich eine sozial gerechte Regierungspolitik im Interesse der Wählerschaft dargeboten wird.
Die geplante Entlastung von Gutverdienern beim Spitzensteuersatz und der Verzicht auf eine Vermögenssteuer oder Kapitalertragssteuer sowie Anreize für noch mehr Überstunden fördern nicht das Gerechtigkeitsgefühl. Wieder einmal sei an den Ausspruch des Staatsrechtslehrers Augustinus erinnert. „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande.“ Es bleibt zu hoffen, dass die nächsten vier Regierungsjahre nicht allzu räuberisch werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei lokalkompass.de, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.
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