Warum Neutrum? Zwar will ich mein tiefstes Inneres nicht von Schwulenfeindlichkeit freisprechen, aber mir geht es um die Struktur und das System, für das dieser Politikertypus Gesicht und Fassade ist. Der echte Mensch Jens Spahn ist mir persönlich nie begegnet. Über den weiss ich nichts. Ich weiss nur (zu viel) über die öffentliche Person dieses Namens. In den meisten, den allermeisten Fällen ist das nicht die*der*das Gleiche. Obwohl: von Markus Söder wurde es mir bezeugt von seriösen Mitmenschen, die sich längere Zeit mit ihm in einem Raum aufgehalten haben. Wie furchtbar … aber ich schweife schon wieder ab.

Die Kolleg*inn*en von Correctiv haben schon häufiger ein gutes Gespür für Agendasetting gezeigt. Dass sie diesem Spahn einen Mehrteiler widmen, halte ich für verdienstvoll und augenöffnend.

Bundeskanzlerin Merkel versuchte sich diesem vorwitzigen Prinz-Charles-Typen zu erwehren, indem sie ihn zum Bundesgesundheitsminister machte. Das hat den meisten Inhaber*inne*n dieses Staatsamtes die weitere politische Karriere gekostet. Auch bei Spahn hätte das nahegelegen, wie die Correctiv-Autorinnen Annika Joeres und Gabriela Keller zeigen. Doch die Verhältnisse sind nicht mehr so. Merz wird dieses Jahr 70 – Spahn ist 45. Sic! Die CDU ist so eingeschmolzen – da ist niemand mehr, die*der diesem klischeegewordenen Typen den Weg versperrt.

Mir macht das Angst um die Demokratie. Spahn ist ein Typus, wie ich mir schon Jahre vor seiner Geburt CDU- oder FDP-Karrieristen (Frauen können wir in dem Zusammenhang vernachlässigen) vorgestellt habe. Sieht – wie soll ich das nichtdiskriminierend ausdrücken? – nicht sooo gut aus, hat von nichts ‘ne Ahnung, aber zu allem was zu sagen, und denkt nur an sich. Wenn das alle täten, wäre ja an alle gedacht.

In der Schule habe ich solche Typen politisch bekämpft. Mein schönstes Geschenk zum Abitur war die Wahl des linken Gegenkandidaten aus unserer Jugendzentrums-Initiative gegen den Schülerunion-Schülersprecher an meiner Schule. An der Hochschule (Uni Bonn, Fachschaft Politikwissenschaft und Studentenparlament) waren die Wahlsiege gegen Stephan Eisels RCDS die schönsten Erlebnisse. Der beständige Wahlverlierer wurde später – auch nur kurz – Redenschreiber von Helmut Kohl.

Im Management der 80er-Friedensbewegung in der West-BRD war ich in verschiedenen Funktionen mittendrin, wie auch in der BRD-Anti-Apartheid-Bewegung, in der in meiner Politbiografie grösste substanzielle Erfolg, die Beseitigung des rassistischen Apartheidsystems in Südafrika, gefeiert werden konnte.

Verglichen damit waren die späteren Kommunalwahlerfolge der Grünen in Bonn eher kleinere wiederkehrende Feiertage. Dass eine Freundin von mir Oberbürgermeisterin wurde und ist, freut mich heute noch. Auch wenn sie in diesem Amt viel zu arbeiten und wenig zu lachen hat. Wird sie von einem Spahn-Typ abgelöst? Bald werden wir es wissen.

Hinter der Witzfigur lauert die Systemgefahr

Kennzeichen des real existierenden Kapitalismus ist die Tatsache, dass die zu wählenden Politiker*innen*typen mediengerecht modelliert werden. Sie sind die Ausführenden weit mächtigerer Hinterleute und Auftraggeber*inne*n. Denen geht es um weit “Grösseres” als Demokratie. Sie lieben die Apokalypse. Und bevor sie über sie kommt, wollen sie sie lieber selbst initiieren und steuern. Sie sind die real existierende Gefahr für die Menschheit.

Über den Klimawandel sind sie gedanklich hinweg. Sie organisieren ihre Flucht – für den Fall der Fälle. Ob Neuseeland oder Mars – das entscheiden die Herren dann, wenn es so weit ist.

Sie hassen die Menschheit, weil sie sich selbst hassen. Jeder Mensch kennt sich selbst am besten. Aber viele neigen dazu, die entsprechenden Erkenntnisse zu verdrängen und/oder auf andere zu projizieren. Von sich selbst abspalten, Aggression gegen ein Aussen richten. Viele Männer schaffen das, nicht so viele Frauen.

Daraus ergibt sich das Welt- und Menschenbild von Peter Thiel. Aber nicht nur ihm. Und es ist kein US-Phänomen. Hier heissen die Dunkelmänner Christian Angermayer oder Frank Gotthardt, Letzterer Milliardär geworden durch Ihre und meine Krankenkassenbeiträge. Nie gehört oder gesehen? Siehste!

Jens Spahn oder sein Spezi Richard Grenell sind nur die wahrgewordenen Klischees des angestrebten neuen demokratiebefreiten Herrschaftssystems.

Noch ist diese Entwicklung aufzuhalten. Wenn sie sich durchsetzt, dann, weil die demokratischen, die liberalen und linken Kräfte nicht nur zu schwach, sondern zu dumm sind. Sie treten für die Interessen der arbeitenden Mehrheit ein, und sind zu dumm, das dieser Mehrheit verständlich zu machen. Die billigen Besserwisser geben den bösen Herrschenden das Kapitalismus die “Schuld” daran. Aber was glaubt ihr denn, was die anderes im Sinn haben, als ihre Herrschaft zu sichern und auszubauen? Seit über 200 Jahren ist das wissenschaftlich erforscht und publiziert. Keine Zensur konnte das verhindern. Weltkriege wurden deswegen gekämpft und Millionen starben dafür.

Und am Ende soll ein von der AfD-mitgewählter Bundeskanzler Spahn stehen? Wenn es zu meinen Lebzeiten so weit kommt, höre ich auf. Nicht zu leben, aber zu arbeiten.

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger