Massaker mit 121 Toten in Rio de Janeiro löst Protestwelle aus
Immer mehr Menschen in den Favelas, den Armenvierteln in Rio de Janeiro, São Paulo, Bahia und anderen brasilianischen Regionen, werden bei Polizeieinsätzen getötet. Die meisten von ihnen sind arm, jung, Schwarz und männlich. Protestierende im ganzen Land fordern eine Kehrtwende bei der Bekämpfung von Drogenhandel und Kriminalität.
“Es war früh morgens, die Polizisten wollten in unser Haus, da waren nur Frauen und Kinder“, erzählt die 62-jährige Selma über den Morgen des Massakers, als bei einer Polizeioperation in Rio de Janeiro Ende Oktober 121 Menschen getötet wurden, darunter vier Polizisten. „Meine Tochter Gabriela wollte sie nicht reinlassen und rief: Wir sind Bewohner, keine Drogenhändler!“
Die Polizei drang mit Gewalt ins Haus ein, versprühte Pfefferspray, die Kinder konnten nicht mehr atmen, ein Baby bekam Fieber. „Dann haben sie Gabriela verhaftet, sie geschlagen und an den Haaren gezogen. Sie behaupteten, sie sei Drogenhändlerin. Aber das ist sie nicht, sie hat einen sechsjährigen Sohn, arbeitet als Putzfrau und bezahlt ihre Miete“, schluchzt Selma.
„Ich habe mich mit den Kindern stundenlang auf den Boden gelegt wegen der Schüsse“, sagt eine andere Anwohnerin. Beim tödlichsten Polizeieinsatz in der Geschichte Brasiliens wurden 2500 schwer bewaffnete Polizisten, rund 50 gepanzerte Fahrzeuge, Drohnen und zwei Helikopter eingesetzt. Zeug*innen zufolge seien manche Opfer des Massakers aus nächster Nähe durch Kopfschüsse getötet worden. Mindestens 31 der Opfer waren vorher nie polizeilich in Erscheinung getreten.
Proteste und Anklagen mit blutroter Farbe
Nach der Gewalteskalation gingen Tausende in Rio und in über 20 weiteren brasilianischen Städten auf die Straße. Sie protestierten mit blutrot beschrifteten Nationalflaggen gegen den „Staat, der tötet, der Genozid verübt“.
Schließlich waren 84 Prozent der 6243 Opfer von Polizeigewalt im Jahr 2024 Afrobrasilianer*innen (die in Brasilien 55 Prozent der Bevölkerung ausmachen), 99 Prozent waren Männer, über 50 Prozent unter 24 Jahre, zehn Prozent sogar unter 18. Wer Schwarz, männlich, jung und arm ist, lebt gefährlich. Die brasilianische Polizei, inklusive der Militärpolizei, ist mit Abstand die gewalttätigste weltweit. Hinzu kommen die Todesopfer bei der Polizei: 46 Polizist*innen wurden 2024 im Dienst getötet, 124 außerhalb des Dienstes, 65 Prozent davon Afrobrasilianer*innen.
Der sogenannte „Krieg gegen die Drogen“ ist für viele in Brasilien vor allem ein „Krieg gegen die Armen“. Fast 30 Organisationen der Zivilgesellschaft haben nach dem Massaker in Rio in einem offenen Brief den unrechtmäßigen Einsatz tödlicher Gewalt scharf kritisiert, ebenso die Sicherheitspolitik des Gouverneurs Cláudio Castro, die auf Krieg und der Auslöschung der Schwarzen und armen Bevölkerung in den Favelas basiere.
Seit Castros Amtsantritt im Jahr 2021 wurden in Rio de Janeiro fast 5000 Menschen von der Polizei getötet, etwa drei pro Tag. Castro und andere rechte Populisten wie Tarcísio de Freitas, Gouverneur von São Paulo, beide aus dem Bolsonaro-Lager und mögliche Präsidentschaftskandidaten für die Wahl im kommenden Jahr, propagieren offen die Devise „nur ein toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher“.
Der Blutzoll ist hoch, die politische Inszenierung grell, das Heroisieren der getöteten Polizisten laut – aber Erfolge bei der Kriminalitätsbekämpfung und der Schaffung von mehr Sicherheit gibt es keine, im Gegenteil. Die Forschungsgruppe GENI (Grupo de Estudos dos Novos Ilegalismos) von der staatlichen Universität Fluminense aus Rio de Janeiro bezeichnet 85 Prozent der Polizeioperationen in Rio als wenig effizient, ineffizient oder desaströs. Die organisierte Kriminalität, insbesondere das führende Drogenkartell „Comando Vermelho“, ist stärker geworden. Und auch der tödliche Polizeieinsatz im Oktober war ein großartiger Misserfolg: Das Hauptziel, ein Bandenchef namens Doca, konnte fliehen, keiner der 100 bei der Operation per Haftbefehl Gesuchten wurde gefasst.
Dennoch sprach Gouverneur Castro nach dem Massaker von einem großen Erfolg, die einzigen Opfer seien die vier getöteten Polizisten. Viele Demonstrierende forderten dafür juristische Konsequenzen. Auch von den Vereinten Nationen, der brasilianischen Justiz und der brasilianischen Regierung, die vor der Polizeioperation nicht informiert worden war, wurde die Gewalteskalation kritisiert sowie zügige Aufklärung und Untersuchungen gefordert und eingeleitet.
Glückwünsche aus den USA
Politische Motive sind offensichtlich: Mit gewalttätiger Rhetorik und Politik versucht die extreme Rechte nach diversen Abstimmungsniederlagen im Kongress und der Festnahme und Verurteilung von Ex-Präsident Jair Bolsonaro zurück auf die Erfolgsspur zu kommen. Glückwünsche zur „erfolgreichen Operation“ gab es für Castros Leute von der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde, die „jede Unterstützung“ anbot – wenige Tage nachdem Flávio Bolsonaro, der Sohn des wegen eines Putschversuchs inhaftierten Ex-Präsidenten Brasiliens, die USA aufgefordert hatte, wie in der Karibik und im Pazifik auch in der Guanabara-Bucht von Rio de Janeiro Boote zur Drogenbekämpfung anzugreifen. Flávio Bolsonaro und Gouverneur Castro, enge politische Verbündete, haben beide Verbindungen zur Organisierten Kriminalität, wie die brasilianische Staatsanwaltschaft nachgewiesen hat.
Auch in São Paulo, Bahia und anderen Regionen leiden Menschen unter der Gewalt von Drogenhandel und Polizei. Im Bundesstaat São Paulo stiegen innerhalb eines Jahres die Todesfälle infolge von Polizeigewalt um 61 Prozent auf 813 Fälle an, so stark wie in keinem anderen Bundesstaat. „Die Bewohner in unserem Viertel stehen unter Generalverdacht, vor allem Jungen und junge Männer“, sagt Jorge F. (Name geändert), Leiter einer Kinderrechtsorganisation im Viertel Sapopemba in São Paulo. „Wenn bei einem Polizeieinsatz ein Schwarzer Junge wegrennt, dann ist er für die Polizisten ein Verbrecher. Gegen Jugendliche gehen sie oft besonders brutal vor.“
So auch im Fall des 16-jährigen Juan aus Sapopemba. Er wurde von einem Polizisten zu Hause erschossen, als er beim Abendessen mit seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern war – vermutlich ein Racheakt wegen angeblicher Beteiligung bei einem Überfall. Trotz eindeutiger Zeugenaussagen blieb der tatverdächtige Polizist im Dienst. „Die meisten solcher Fälle von Polizeigewalt werden nicht weiter juristisch verfolgt“, sagt Jorge. „Dass der Fall nächstes Jahr, sechs Jahre nach der Tat, vor Gericht kommen soll, liegt an den zahlreichen Protesten und der relativ hohen öffentlichen Aufmerksamkeit, auch im Ausland.“
Verbrechen mit deutschen Waffen
Dieser und weitere Fälle von Polizeigewalt und Waffenhandel wurden in der Studie „Hört auf uns zu töten! Polizeigewalt gegen Kinder und Jugendliche in Brasilien und Waffenhandel“ der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes und des brasilianischen Forschungsinstituts Sou da Paz untersucht. Die Studie belegt den Einsatz deutscher Rüstungsgüter bei schwersten Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär, darunter Airbus-Hubschrauber sowie Schusswaffen von Heckler & Koch, SIG Sauer und Walther. Die Bundesregierung dürfte deswegen schon lange keine Rüstungsexporte nach Brasilien mehr genehmigen. Gemäß Waffenhandelsvertrag und Gemeinsamem Standpunkt der EU sind Waffenexporte in solchen Fällen verboten. Sie tut dies aber weiter, von 2022 bis 2024 im Wert von insgesamt 261 Mio. Euro. Darunter waren Teile für Helikopter und gepanzerte Fahrzeuge, Schusswaffen und Munition, die auch bei Polizeioperationen in Armenvierteln wie der in Rio Ende Oktober eingesetzt werden.
Der militarisierte „Krieg gegen die Drogen“ ist weltweit nicht erfolgreich, die organisierte Kriminalität vielerorts stärker geworden. Stattdessen gibt es in Brasilien und anderen Ländern positive Erfahrungen mit lokalen, dauerhaft in den Vierteln stationierten Polizeieinheiten und Sozialarbeitern, die im engen Dialog mit der lokalen Bevölkerung stehen, sowie mit Maßnahmen zur Gewaltprävention, Friedensbildung und Förderung von Bildung und beruflichen Perspektiven für junge Menschen. „Wenn es bei uns im Viertel gute Schulen und Sportmöglichkeiten gäbe und Polizeipräsenz ohne Schießereien, würde sowas hier nicht passieren“, sagt Fabiana aus der Favela da Penha nach dem tödlichen Einsatz in Rio.
Korruption und Verflechtungen von Politik, Polizei und Behörden mit der organisierten Kriminalität müssen systematisch strafverfolgt werden, Geldwäsche verhindert und alle Geldhähne der Kriminellen zugedreht werden. Dazu gehört die Legalisierung des Drogenhandels unter staatlicher Aufsicht, die Verhinderung des illegalen Waffenhandels, in den oft Amtsträger*innen verwickelt sind, und eine deutlich bessere Überwachung der staatlichen Waffenarsenale.
Dass solche Maßnahmen bei entsprechendem politischen Willen möglich sind, zeigt der Schlag der brasilianischen Bundesbehörden gegen die organisierte Kriminalität im August in São Paulos Geschäftsviertel, bei dem Vermögenswerte in Höhe von 500 Millionen Euro beschlagnahmt werden konnten und kein einziger Schuss fiel – ein großer Erfolg für die Bundesbehörden und die Regierung Lula. Doch eine klare alternative Strategie der Kriminalitätsbekämpfung fehlt noch. Die hat Präsident Lula nun nach der ihm zufolge „desaströsen“ Polizeioperation in Rio angekündigt.
Ralf Willinger, Journalist und Mediator, hat sechs Jahre in Brasilien gelebt. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Referent für Kinder in bewaffneten Konflikten und Friedensarbeit bei der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes Deutschland e.V., u.a. mit Partnerorganisationen in den Favelas von São Paulo. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 491 Dez. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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