von Jürgen Trittin MdB

Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei

Inzwischen hat es die Rede vom Narrativ bis in die Tageszeitungen geschafft. Da passt es, dass die Heinrich Böll Stiftung erneut einen Kongress zur Grünen Ideengeschichte ansetzt: „Was ist die grüne Erzählung?“

Polemik

Stammgast bei so etwas ist taz-Kolumnist Peter Unfried, der Winfried Kretschmann regelmäßig bis zur Peinlichkeit mit Loyalitätsbekundungen stalkt. Als käme Narrativ nicht vom lateinischen narrare, sondern vom Hofnarren. Soweit so üblich. Doch damit nicht genug. Einen Beitrag zur grünen Erzählung soll jene Mariam Lau abliefern, die in der Zeit jüngst dafür plädierte, es besser zu „lassen“, Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Sie warf den Freiwilligen Seenotrettern vor: „Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.“ Diese steile These qualifiziert offenkundig für einen Input zur Grünen Erzählung. Wo bleibt Boris Palmer?

Ideologie

Wohin die Reise der Grünen nach den Initiatoren aus der Böll-Stiftung gehen soll, wird an ihren Leitfragen deutlich. Es beginnt damit: „Woher kommt ein grünes Verständnis von Republik, Freiheit, Ökologie und sozialer Frage?“ Das passt zur grünen Sommertour ins Glück (#desglückesunterpfand). Es verdeutlicht den programmatischen Anspruch bei Bölls, die Erzählung der Grünen umzuschreiben. Nicht nur die Reihung der Werte, sondern ihre Umgewichtung macht dies deutlich. An erster Stelle steht die Republik, der Staat. Nicht die Gesellschaft, nicht das Gemeinwesen. Wer das für dasselbe hält, hat von der Grünen Erzählung rein gar nichts verstanden. Auf den Staat folgt die Freiheit. Die wird uns noch häufiger begegnen. Deshalb begnügen wir uns hier mit der Feststellung, dass es die Ökologie nur auf Platz Drei geschafft hat. Bei Bölls ist die Ökologie das Belgien der grünen Werte. In der zweiten Leitfrage wird das Ziel des Kongresses formuliert: „Was heißt grüner Linksliberalismus?“ Hinterfragt wird hier weniger das Liberale als das Linke im Linksliberalismus. Dafür wurde Dany Cohn-Bendit eingeladen, der die Europa-Grünen mit Macrons neoliberalen En Marche fusionieren will.

Geschichte

Die Grünen haben vielfältige und widersprüchliche Ideengeschichten. Und dennoch haben diese sich zu einer grünen Erzählung verdichtet. Am Anfang standen die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher ebenso wie der Weltbund zum Schutze des Lebens, eine der ersten erfolgreichen grünen Wählergemeinschaften. Es waren erfahrene Brokdorf-Kämpfer vom Kommunistischen Bund ebenso dabei, wie über die Nachrüstung frustrierte linke Sozialdemokraten wie Helmut Lippelt oder Fritz Kuhn. Entscheidenden Anteil hatte der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl mit seinem Buch „Ein Planet wird geplündert“. Dieser heterogene Haufen war vielfältig und nicht über einen Leisten zuschlagen. Im Zweifel war man links oder wertkonservativ – aber eines war man nicht: liberal. Selbst ein späteres FDP-Mitglied formulierte es 1980 so: „Nicht die Interessen von Industrie und Wirtschaft dürfen über den Menschen bestimmen. Der Mensch muss über die Formen von Wirtschaft und Industrie nach seinen Lebensinteressen selbst bestimmen.“ (Wolf Dieter Hasenclever; Landesvorsitzender der Grünen Baden-Württemberg).

Dieser Satz umschreibt die Gründungserzählung der Grünen: Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei. Manche halten dies für überkommen. Das ist falsch. Diese Erzählung wirkt fort – obwohl und weil die Grünen sich weiter entwickelt haben. Grüne waren schon damals keine pazifistische Partei. Waffen für El Salvador hatte nicht nur Ströbele gesammelt. Aktive Unterstützung für bewaffnete Befreiungsbewegungen traf auf einen breiten Konsens. Im Kern waren die Grünen eine nuklearpazifistische Partei, die die Drohung mit dem mehrfachen gegenseitigen Selbstmord nicht mitmachen wollte. Mit der Bereitschaft zur Beteiligung an Interventionen, wie auf dem Balkan, in Afghanistan oder Mali, hat sich das Prinzip der Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen bei den Grünen zu einem Grundsatz des äußersten Mittels verschoben. Ein Prinzip, dass bestimmte Apologeten einer neuen grünen Erzählung gerne weiter aufweichen wollen. Sie wollen die Anwendung militärischer Gewalt von den Regeln des Völkerrechts abkoppeln.

Doch Gewaltfreiheit war und ist nicht auf den Einsatz militärischer Mittel begrenzt. Gewaltfreiheit ist ein politisches Prinzip, das an der Wiege der Grünen stand. Damit verabschiedeten sich radikale Linke von der Idee, mit Steinen und Wurfankern aus der Atomenergie auszusteigen. Stattdessen wurden Kasernen und Atomtransporte gewaltfrei blockiert. Gewaltfreiheit dokumentierte ein neues Verständnis im politischen Kampf und eine neue Stärke von Zivilgesellschaft. Sie zeigte sich auf dem Majdan in Kiew, bei der US-Schülerbewegung gegen unregulierten Waffenbesitz wie bei den freiwilligen Seenotrettern im Mittelmeer. Die Zivilgesellschaft ist auch der Bezugspunkt der Basisdemokratie. Die Ermächtigung des Menschen zur Teilhabe, Transparenz statt Amtsgeheimnis ist ein Kern der grünen Erzählung in der repräsentativen Demokratie und der Herrschaft des Rechts.

It‘s the ecology, stupid!

Doch beides, die Basisdemokratie und die Gewaltfreiheit, hätten für die grüne Erzählung nicht ausgereicht. Das hätte höchstens für eine pazifistisch-sozialistische Partei wie in den Niederlanden gereicht – und nie die Breite erreicht, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Es ist eine revolutionäre Frage, die unsere Erzählung zur grünen macht. Es ist die Frage der Ökologie. Die Frage der Begrenztheit des Gemeinschaftsgutes dieses Planeten zwang Konservative den Glauben an Wachstum als Allheilmittel aufzugeben und über Kreislaufwirtschaft und Subsidiarität nachzudenken.

Ökologie brachte Marxisten dazu, Produktivkräfte nicht mehr immer weiter entwickeln zu wollen, sondern bestimmte zu verbieten – von der Atomkraft bis zur Gentechnik. Es war nicht irgendein Begriff von Ökologie. Sondern ein anthropozentrischer. In Hasenclevers Worten: „Der Mensch muss über die Formen von Wirtschaft und Industrie nach seinen Lebensinteressen selbst bestimmen.“ Nicht in vermeintlicher Demut vor der Natur, sondern in der Verantwortung des Menschen vor dem Planeten. Ökologie, die den Lebensinteressen des Menschen dient, ist ein Gerechtigkeitsthema. Ein Gerechtigkeitsthema, das weit über die Früh-Marxsche Erkenntnis hinausgeht, dass Umweltzerstörung zuerst und vor allem die Armen trifft. Es geht um globale Gerechtigkeit, im Wortsinn um globale Lebenschancen. Es geht um Gerechtigkeit zwischen Generationen. Deshalb ist die Gerechtigkeit in der grünen Erzählung keine angehängte „soziale Frage“, sondern ihr Kern.

It’s the ecology, stupid – möchte mensch in Abwandlung von Bill Clintons berühmten Satz ausrufen. Neoliberal? Liberal? Diese Grundüberzeugung verbietet es Ökologen neoliberal zu sein. Das Primat des Marktes ist unvereinbar mit dem Schutz globaler Gemeinschaftsgüter. Es bedarf des Primats des Menschen, der Demokratie, um den Markt im Sinne der Gemeinschaftsgüter zu begrenzen und zu nutzen. Weshalb die Grünen – von einer Phase markt-radikaler Irrungen abgesehen – wirtschaftspolitisch immer Öko-Keynesianer gewesen sind.

Aus dem Scheitern des Neoliberalismus ziehen die Rechten unterschiedliche Schlüsse. Die einen suchen ein vorsichtiges Zurück zu einem klassischen Ordo-Liberalismus, die anderen liebäugeln mit einem wirtschaftsliberalen Rechtspopulismus. Innerhalb der FDP hat sich die zweite Linie inzwischen weitgehend durchgesetzt. Das war der eigentliche Grund für ihren Absprung aus Jamaika. Damit, und mit der jüngsten Rechtswende in der Union, sind den Grünen im Bund Regierungsoptionen verloren gegangen – möglicherweise die letzten. Ob diese wiedergewonnen werden können, in dem man die grüne Erzählung in eine neue liberale transformiert, darf bezweifelt werden. Es hieße, auf die revolutionäre Idee der Ökologie zu verzichten.

Es geht um eine grundlegende Transformation des demokratischen Kapitalismus. Die von ihm hervorgebrachte umfassende Globalisierung muss global so reguliert werden, dass Meere, Atmosphäre, artenvielfalt auch künftigen Generationen global gleiche Lebenschancen bieten. Dafür muss ein zerstörerischer Wachstumszwang überwunden werden. Dies wird nur mit mehr Gleichheit gelingen. Ein solches Programm ist nicht liberal. Der – auch von mir schon gemachte – schlaumeierische Hinweis auf die US-Liberals hilft da nicht weiter. Denn die sind für Erneuerbare Energien, wollen häufig Fett und Zucker verbieten. Wirtschaftspolitisch streiten sie für einen höheren Mindestlohn, kostenlose Bildung, bessere Bankenkontrolle, und mehr staatliche Investitionen. Solche Politik heißt in Europa links, grün. Wenn die Böllstiftung also fragt: „Wie können sich grüne Ideengeschichten gegenüber den sozialdemokratischen, liberalen oder konservativen Erzählungen behaupten“ ist die Antwort so schwer nicht: Wir sind grün – nicht liberal.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von trittin.de, mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Extradienst-Redaktion war erst Monate später durch diesen taz-Beitrag darauf aufmerksam geworden. Die taz verzichtete auf die Setzung eines Links – hier also das Original.

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