Jeanne Vinal ist Rechtsanwältin und Mutter von vier Kindern. Sie kandidiert als Demokratin für einen Platz im Erie County, Wahlkreis Amherst, im Staat New York. Und sie schlägt sich gut. So gut, dass sogar Republikaner mit ihr sprechen. So gut, dass man sich Hoffnungen machen könnte
Amherst, New York. Eine kleine, reiche Universitätsstadt, einer der sichersten Orte in den USA. So nahe an Buffalo herangewachsen, dass sie wie ein schmucker Vorort der alten Industriemetropole wirkt. Gepflegte Einfamilienhäuser beherrschen das Straßenbild, umgeben von ebenso gepflegten Gärten. 70 Prozent der Bevölkerung wohnen in selbst genutztem Eigentum, mehr als die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler haben einen College-Abschluss. Liberales Bürgertum gibt den Ton an, so steht zu vermuten. Es muss eine Freude sein, hier für die demokratische Partei zu kandidieren.
Von wegen. Ziemlich genau die Hälfte all derer, die sich für Wahlen registriert haben, unterstützt die Republikaner. Wer vermutet, wohlhabende und gebildete Leute würden heute eher links wählen als die Bevölkerung der klassischen Arbeiterviertel, verrät damit viel über das eigene Weltbild. Mit der Realität hat das nichts zu tun.
Jeanne Vinal, 55, Rechtsanwältin, verheiratete Mutter von vier Kindern, kandidiert als Demokratin für einen Platz im Erie County Legislature. Wahlkreis Amherst. Wie lässt sich das ins Deutsche übersetzen, sprachlich und inhaltlich? Vermutlich am besten mit Bezirksparlament oder Bezirksversammlung. Eher unbefriedigend. Kaum jemand in Deutschland kennt irgendein Mitglied eines solchen Gremiums. In den USA ist das anders. „Wenn ich gewinne, dann hat meine Stimme künftig viel mehr Gewicht. Egal, wozu ich mich äußere“, sagt Jeanne.
Es gibt durchaus Leute, die das als Bedrohung verstehen könnten. „Sie sieht aus wie die typische Mutti“, meint ihre Sekretärin Jen Kenyon-Griesbaum. „Wenn junge, hippe Anwälte sie bei Gericht zum ersten Mal sehen, dann glauben sie, dass sie mit ihr den Fußboden aufwischen können. Dann fängt sie an zu reden. Und dann glauben die das nicht mehr.“
In den letzten Monaten musste Jeanne Vinal viel reden. 6.000 – ja, sechstausend – Adressen galt es abzuklappern. Unabhängige, Konservative, Demokraten und Republikaner.
Mal 34 Jahre alt, mal 92 Jahre alt, mal Frau, mal Mann, mal Hundebesitzer, mal Babymutter. Sie hat die Liste fast abgearbeitet. Was ein Wunder ist. Zum einen, weil sie nebenher noch ihren Job als Chefin einer Anwaltskanzlei ausfüllen muss. Zum anderen, weil sie viel zu lange für Gespräche braucht, wenn jemand mal zu Hause ist. Die meisten sind das nicht. Im Regelfall steckt Jeanne einen Flyer in die Haustür, mit ihrer Handynummer. „Wenn Sie noch Fragen haben, dann rufen Sie mich an.“ Handynummer? Ständige Erreichbarkeit? Ja. Selbstverständlich.
Wenn jemand da ist, dann kann sie durchaus 40 Minuten oder sogar eine Stunde an der Haustür stehen bleiben. Bei windigen 8 Grad und Regen. Demokratische Helfer haben sie schon aus Gesprächen herausgezogen und versucht, ihr deutlich zu machen, dass es nicht wirklich hilft, wenn sie einen ganzen Abend mit einem einzigen Wähler verbringt. Ihr Mann Greg sagt: „Sie hat noch nicht verstanden, dass sie nicht alle zum Essen einladen muss, die mit ihr reden.“
Mag ja sein. Einerseits. Andererseits: Jeanne interessiert sich tatsächlich für Menschen. Deshalb kann sie auch gar nicht aufhören, mit ihnen zu reden, und deshalb findet sie jeden Anknüpfungspunkt, der sich finden lässt. Hund? Hat sie auch. Baby? Wir sollten über Windelpreise reden. T-Shirt der Cornell-Universität? „Die Cousine meiner Schwägerin war ebenfalls dort.“ Autoaufkleber? „Oh, ist Ihr Sohn auch ein Eagle Scout? Meine beiden Söhne sind es.“ Der republikanische Gesprächspartner lächelt.
Wenn Jeanne lange genug mit jemandem geredet hat, dann kehrt sie hoffnungsvoll zurück: „Der war eine Fünf, jetzt ist er eine Drei.“ Fünf: Ich wähle unter keinen Umständen eine Demokratin. Drei: Vielleicht wähle ich Sie. Ja, vielleicht. Klingt vielversprechend. Aber wird er sich am Wahltag noch daran erinnern? Eindrücke verblassen. Und auf der Liste stehen ja auch nur Leute, die als grundsätzlich ansprechbar gelten. Wie sie dahin gekommen sind, bleibt das Geheimnis des zuständigen demokratischen Wahlhelfers. Der, wie erzählt wird, immerhin 25 von 27 Wahlkämpfen gewonnen hat, die er für die Demokraten geführt hat. Und der jetzt rumschreit. „Glaubt jemand, dass wir schon gewonnen haben? Dann können wir ja auch einfach aufhören.“
Im Team gibt es Meinungsverschiedenheiten. Es soll noch ein Flyer mit Angriffen auf US-Präsident Donald Trump verschickt werden. Das schweißt zusammen und bringt Demokraten ins Wahllokal. Glauben die meisten. Um Mobilisierung geht es, darum vor allem. Zwar gibt es ein großes Wahlbüro im Erdgeschoss eines Einkaufszentrums, in dem auf langen, weißen Resopaltischen viele hundert Briefumschläge, Wurfsendungen und lange Adressenlisten liegen. Zwar kommen Dutzende von Freiwilligen hierher, um Postkarten zu schreiben, Flyer einzutüten oder Schecks zur Bank zu bringen. Aber die Bevölkerung wird vom Wahlkampffieber nicht angesteckt, wie angesehen die Amtsinhaber auch sein mögen. Bei 25 Prozent lag die Beteiligung beim letzten Mal. „Die County-Wahlen interessieren die Leute am wenigsten“, räumt Jeanne ein. Kein Vergleich mit der Wahl des Präsidenten, des Gouverneurs oder des Kongresses.
Trotzdem ist Jeanne nicht glücklich darüber, dass jetzt Negativwerbung gegen Trump verschickt werden soll.
Sie sucht im Gespräch mit politisch Andersdenkenden lieber das Verbindende als das Trennende, die Nation sei doch gespalten genug.
Wer Trump gewählt habe und einen angriffslustigen Flyer im Briefkasten finde, sei gar nicht mehr bereit, mit ihr zu reden. Vielleicht stimmt das. Aber wer hat Trump schon gewählt?
Im Straßenwahlkampf lässt sich der Eindruck gewinnen: niemand. Zumindest gibt es kaum noch jemand zu. Zufällig entdeckt Jeanne einen Bekannten, einen republikanischen Anwaltskollegen, vor dessen Haus. Kurzer Plausch. „Ich habe nie für Trump gestimmt.“ Jeanne: „Zwei Mitglieder meiner Familie schon.“ – „Sind sie immer noch für ihn?“ – „Vorgestern waren sie’s noch.“ Der Anwalt lacht. „Na ja, seither haben wir viele Nachrichten gehört.“
Jeden Tag wird das Land derzeit von neuen Skandalmeldungen überzogen. Wieder und wieder wird die Reporterin aus Deutschland gefragt, wie denn bei ihr zu Hause derzeit die Stimmung im Hinblick auf die USA sei, von Republikanern und von Demokraten. Es macht keinen Spaß, darauf zu antworten. Wie soll man das tun, ohne grob unhöflich zu sein? Seit 12 Jahren bereise ich die Vereinigten Staaten regelmäßig aus beruflichen Gründen. Auf so viel Verunsicherung bin ich dort noch nie gestoßen.
Immerhin: Am dritten Tag des Klinkenputzens findet sich eine Frau – eine einzige Frau –, die erklärt, sie finde die Politik des Präsidenten gut. Nach wie vor. Die Demokraten kämen ihr vor „wie eine Sekte. Die stimmen immer geschlossen ab“. Allerdings möge sie Trump „als Person“ nicht: „Ich möchte nicht mit ihm befreundet sein.“ Und das ist die treueste Anhängerin, die sich derzeit finden lässt? Im Februar, zu Beginn der Kampagne, sei die Stimmung noch ganz anders gewesen, sagt Jeanne. Da sei sie unentwegt auf Leute gestoßen, die von Trump begeistert waren.
Ja: Amherst liegt im traditionell demokratischen Bundesstaat New York. Ja: Jeanne redet nur mit sorgfältig ausgewählten Leuten. 6.000 Adressen – das sind eine Menge. Aber registriert sind immerhin 55.000 Wählerinnen und Wähler. Mag sein, dass wir in einer Blase unterwegs sind. Und dennoch: Der Eindruck will nicht weichen, dass die Götterdämmerung begonnen hat.
Ich bin nicht objektiv. Nicht nur deshalb, weil ich Donald Trump von Herzen verabscheue, sondern auch deshalb, weil ich gut mit Jeanne und Greg Vinal befreundet bin. Ist das überhaupt legitim – eine Reportage über eine Freundin zu schreiben? Schwierig. Einerseits bin ich natürlich „näher dran“, als das in unserem Beruf normalerweise gelingt. Andererseits fehlt es eben an der gebotenen Distanz. Wenn ich in einem Vorgarten einen Wahlkampfständer für Jeannes republikanische Rivalin Shelly Schratz sehe, dann möchte ich ihn sofort herausrupfen. Aber Jeanne und Greg benehmen sich, als hätte ich einen Banküberfall mit Geiselnahme vorgeschlagen.
Auch deshalb, weil das Aufstellen derartiger Plakate viel komplizierter ist, als ich gedacht hätte: Verboten auf öffentlichen Plätzen, also auch am Straßenrand. Es bleiben die privaten Grundstücke. Aber selbst gute Bekannte reagieren zögerlich. Der eine darf nicht, weil er beim FBI arbeitet. Die andere befürchtet Geschäftseinbußen. Alles verständlich. Aber es steht eben mehr Werbung für Shelly Schratz als für Jeanne in der Landschaft herum. Wollen wir nicht doch einige klauen?
Natürlich geht es auch um Geld. Das Porto und die Herstellung jedes Flyers kosten ein paar tausend Dollar. Jeanne und Greg haben schon einiges persönlich in die Kampagne gesteckt, dennoch gibt es Grenzen. „Ich fühle mich so schlecht, weil ich meine Freunde jetzt schon zum vierten Mal zu Spenden aufrufe“, erklärt Jeanne. „Aber was soll ich machen?“
Es hilft ohnehin nicht immer. Ein Dinner bei Bekannten in einer edlen Luxusvilla, mit dem Geld eingetrieben werden soll, schmeckt wunderbar. Die – ehrenamtlich spielende – Band unterhält mit großartigem Country-Rock. Aber es sind nicht so viele Gäste gekommen wie erhofft. Spenderermüdung. Wer in Deutschland von den riesigen Summen liest, die in den USA für Kampagnen aufgebracht werden müssen, kann leicht glauben, es würden sich ohnehin nur Reiche zur Wahl stellen, für die Geld keine Rolle spielt. So einfach ist es nicht.
Um gerade mal 5.000 Dollar geht es immer wieder bei den Teamgesprächen der Demokraten. Jede Bundestagspartei würde eine solche Summe achselzuckend aus der Portokasse bezahlen. Aber genau diese Portokasse fehlt der Kampagne eben. In den Vereinigten Staaten werden vor allem Personen gewählt, die Parteien spielen eine geringere Rolle als hierzulande. Also werden die Personen auch direkt in die Pflicht genommen. Hinweise, dass Jeanne und Greg einen weiteren Scheck unterschreiben sollen, sind mehr als deutlich. Sie haben drei Kinder auf dem College. Hm.
Es gibt gute Nachrichten, es gibt schlechte Nachrichten. Die örtliche Tageszeitung Buffalo News hat zur Wahl von Jeanne Vinal, nicht von Shelly Schratz, aufgerufen. Allerdings auf eine ziemlich schlecht gelaunte Art und Weise. Bösartig zusammengefasst: Beide seien unfähig, aber bei einer gebe es immerhin Hoffnung, dass sie lernfähig sei. Oder, wie Jeannes 16-jährige Tochter Sarah es spöttisch formuliert: „Beide sind Analphabeten. Aber eine kann nicht mal lesen.“
Warum tut Jeanne sich all das an? „Ich will der Gemeinschaft etwas zurückgeben, die so viel für mich und meine Familie getan hat“, sagt sie. In Deutschland klänge das unerträglich verlogen, wenn jemand ein öffentliches Amt anstrebt. In den USA klingt es ehrlich. Es gibt dort bekanntlich keinen Sozialstaat, der dem europäischen Modell entspricht. Ausgeglichen wird das – mal besser, mal schlechter – durch ehrenamtliche Hilfe.
Der Vater von Jeanne Vinal erkrankte schon vor ihrer Geburt an Polio und saß im Rollstuhl. Ohne die Hilfe, ohne die auch finanziellen Zuwendungen der Umgebung hätte die Mutter von Jeanne es wohl nicht geschafft, die Familie durchzubringen. Dass die Tochter heute Anwältin ist und für ein öffentliches Amt kandidiert: Das lässt sich durchaus als Verwirklichung des amerikanischen Traums interpretieren.
Aber vielleicht bewirbt Jeanne sich doch nicht nur deshalb um das Amt. „Ich habe mit größerem Widerstand gerechnet, als ich sie zur Kandidatur ermuntert habe“, sagt Jerry Schad, der 77-jährige Vorsitzende der Demokraten in Amherst. Mag auch sein, dass er sie genau zum richtigen Zeitpunkt in ihrem Leben gefragt hat. Drei der vier Kinder von Jeanne sind eben schon auf dem College, die jüngste Tochter zieht nächstes Jahr aus. Ein guter Zeitpunkt, um eine neue Aufgabe zu suchen.
Ein eigenes Budget hat Erie County zu verwalten, um Verbesserung der Infrastruktur geht es, auch um grundsätzliche rechtliche Fragen. Wer hat welche Interessen? Amherst ist reich – und weiß, weiß, weiß. In Buffalo haben 47 Prozent der Bevölkerung eine helle Hautfarbe, in Amherst 80 Prozent. 10 Prozent leben dort unterhalb der Armutsgrenze, in Buffalo sind es 30 Prozent.
Entsprechend sieht das Publikum auf den Wahlveranstaltungen aus. Mit einer Ausnahme: Bei einer Behindertenorganisation, bei der sich alle Kandidatinnen und Kandidaten vorstellen. Hier sind die Teilnehmer so unterschiedlich wie insgesamt in der US-Gesellschaft. Jeanne schlägt sich gut – so gut, dass Vorstandsmitglied Todd Vaarwerk hinterher das Gespräch mit ihr sucht. Gesetzlich ist er zur Neutralität verpflichtet, und es wird auch deutlich, dass er keine Ahnung hat, wer sie ist: „Ach, Sie sind Anwältin?“
Aber der 57-Jährige, der seit seiner Geburt an einer zerebralen Bewegungsstörung leidet und im Rollstuhl sitzt, mag sie. Sie mag ihn auch. Das Ergebnis sieht so aus, wie es eben aussieht, wenn zwei Alphatiere aufeinandertreffen. Sie liefern sich einen seltsamen Hühnchen- und Hähnchenkampf, in dessen Verlauf sie sich gegenseitig mit Verordnungen und Paragrafen bewerfen – „Aber vergessen Sie Titel 7 des Rehabilitation Act von 1973 nicht!“ – und an dessen Ende sie erkennbar begeistert voneinander sind. „Vielleicht biete ich ihm einen Job an“, sagt Jeanne später nachdenklich. Eineinhalb Arbeitsplätze hat sie zu vergeben, wenn sie ins Amt gewählt wird. Wenn.
Dafür muss sie am nächsten Dienstag allerdings erst einmal gewinnen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.
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