von Susanne Fengler, Marcus Kreutler und Jupp Legrand (Vorwort)
Die Berichterstattung über Flucht und Migration in 17 Ländern
Vorwort
„Die wichtigste Aufgabe von Medien besteht […] darin, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu beschreiben und eine gemeinsame Faktenbasis bereitzustellen – für den öffentlichen Diskurs darüber, wie wir diese Wirklichkeit gemeinsam gestalten wollen“. So beschreibt der österreichische Journalist Armin Wolf die Kernaufgabe und den Anspruch seiner Profession. Ansprüche sollen als Maßstäbe gelten, mit denen sich Ideal und Wirklichkeit vergleichen lassen. In diesem Sinne dürfte der von Wolf postulierte Maßstab dann besonders wichtig werden, wenn es gilt, die Pflichterfüllung oder -verletzung der Medien anhand eines politisch wie emotional stark aufgeladenen und umstrittenen Themas zu bewerten.
Nach der Finanzkrise vor rund zehn Jahren dürfte es wohl keinem Thema so „gut“ wie der Einwanderungs- und Migrationspolitik gelungen sein, diese Kriterien des Streits und der emotionalen Aufladung zu erfüllen. Einige Beobachter schreiben der Flüchtlingspolitik Angela Merkels in den Jahren 2015/2016 eine ähnlich prägende Weichenstellung für die Geschichte der Bundesrepublik zu, wie der Westintegration in der Adenauer-Ära, der Ostpolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren und der friedlichen Überwindung der staatlichen Teilung in der Regierungszeit von Helmut Kohl. Unstrittig ist, dass der starke Anstieg der Einwanderungszahlen 2015/2016 einerseits zu spontaner Hilfsbereitschaft sowie zu einem verstärkten sozialen Engagement tausender Menschen führte. Andererseits häuften sich Ablehnung und Aggression, die sich bis hin zu rassistischen Gewalttaten an Geflüchteten steigerten. Auf nationaler politischer Ebene etablierte sich parallel eine Partei, die vorgab, eine „Alternative für Deutschland“ zu sein. Kurzum: Fragen rund um „Zuwanderung“ radikalisierten die politischen Diskurse und verstärkten die Spaltung der Gesellschaft.
Angesichts dieser Gräben wurde auch die Rolle der Medien bald zu einem Thema. Sind die Medien ihrer Aufgabe nachgekommen, „die gesellschaftliche Wirklichkeit“ adäquat wiederzugeben, um eine gemeinsame Grundlage für Streit und Diskussion zu schaffen? In den unzähligen Untersuchungen zu dieser Frage wurde der Blick viel zu selten über den nationalen Tellerrand hinaus auf die Berichterstattung in Europa geworfen und gefragt: Leben deutsche und ungarische MedienrezipientInnen in derselben gesellschaftlichen Wirklichkeit beim Thema Flucht und Migration? Haben spanische und polnische BürgerInnen ein ähnliches Bild von den Ereignissen 2015/2016? Die Antworten sind relevant für die krisengeschüttelte und gespaltene EU. Die „offene“ Migrationspolitik Merkels wird meist der restriktiven Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban gegenübergestellt – und der Verdacht steht im Raum, dass Medien der jeweiligen Länder die Sichtweise der eigenen Regierung zu oft als die Wirklichkeit präsentieren.
Gemeinsam mit dem Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus der TU Dortmund und dem dort angesiedelten European Journalism Observatory hat die Otto Brenner Stiftung nun eine Studie initiiert, die erstmalig die Online- und Printberichterstattung zum Thema Migration in 16 europäischen Ländern (inklusive Russland) sowie den USA vergleichend untersucht. Das Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus legt regelmäßig umfangreiche international vergleichende Studien zu Fragen des Journalismus vor. Neben diesem „Blick über den Tellerrand“ haben Prof. Dr. Susanne Fengler und Marcus Kreutler gemeinsam mit einem internationalen Team von KommunikationswissenschaftlerInnen durch die Betrachtung mehrerer Zeiträume auch Veränderungen über die Zeit hinweg analysiert.
Die Ergebnisse fallen gemischt aus. Einerseits gibt es Befunde, die über alle Länder hinweg gelten: So entwickelt sich die Berichterstattung in den meisten Ländern parallel. Und wie bereits viele andere Forschungsprojekte zeigt auch die vorliegende Studie, dass MigrantInnen und Flüchtlinge meist als Teil einer großen, anonymen Gruppe beschrieben werden und kaum persönlich zu Wort kommen – und das europaweit. Das zentrale Ergebnis der Studie ist jedoch, dass es die eine Migrationsberichterstattung nicht gibt. Stattdessen prägen markante inhaltliche Abweichungen die Medienlandschaft Europas. Die Unterschiede können dabei oftmals als doppelte Differenzierung bezeichnet werden – eine geographische (Ost vs. Westeuropa, wobei die Berichterstattung in Osteuropa kritischer ausfällt) und eine politische (rechte/konservative vs. linke/liberale Zeitungen). Anders formuliert: Auch in Ländern wie Ungarn und Polen und erst recht in Deutschland bekommen LeserInnen somit je nach Wahl des Mediums ein unterschiedliches Themen- und Meinungsspektrum rund um Flucht, Migration und Asyl geboten.
Medien in Europa, so unsere Schlussfolgerung, müssen noch viele Unterschiede abbauen, um zu europäischen Medien zu werden. Wie dringend nötig dies ist, bestätigen Erkenntnisse der Politik- und Europawissenschaft: Ein demokratisches Gemeinwesen wird auf Dauer nicht ohne eine gemeinsame Öffentlichkeit bestehen können. Mit der vorliegenden Studie hoffen Stiftung und Autoren einen weiteren kleinen Impuls geben zu können, damit eine solche europäische Öffentlichkeit in Zukunft auch „gesellschaftliche Wirklichkeit“ werden kann.
Zusammenfassung
Die vorliegende Studie untersucht die Berichterstattung über Migration und Flucht in 17 Ländern – jeweils zwei Online- oder Printmedien aus 16 europäischen Staaten sowie aus den USA. Für acht dieser Medien wurden in einer Vorstudie zunächst alle Artikel zum Thema von August 2015 bis Januar 2016 sowie von Oktober 2017 bis März 2018 erfasst. Auf Basis dieser Erhebung erfolgte die Festlegung von sechs Untersuchungswochen, die besonders markante Anstiege der Berichterstattung umfassen. Dies sind die zentralen Ergebnisse:
1. In den Medien der Vorstudie erschienen im ersten Zeitraum Ende 2015/Anfang 2016 fast dreimal so viele Artikel wie im zweiten Zeitraum Ende 2017/Anfang 2018. Die Intensität der Berichterstattung entwickelte sich meist parallel, das Thema Migration und Flucht rückt also länderübergreifend mehr oder weniger gleichzeitig in den Fokus der Medienöffentlichkeit.
2. Die Intensität der Berichterstattung in den untersuchten Zeiträumen unterscheidet sich jedoch stark zwischen den untersuchten Medien. Vor allem die ungarischen und deutschen Medien veröffentlichten deutlich überdurchschnittlich viele Artikel zum Thema (in allen untersuchten Medien waren es durchschnittlich 26 Artikel pro Untersuchungswoche, die FAZ veröffentlichte dagegen 51, SZ 117, Magyar Hírlap 50 und index.hu 214), während eine Reihe von Medien aus osteuropäischen Ländern im Durchschnitt kaum mehr als einen Artikel pro Tag veröffentlichte.
3. Migranten und Flüchtlinge spielen in der Berichterstattung als Akteure nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden meist als große Gruppen abgebildet, nur selten als Individuen. Innerhalb dieser ohnehin nur schwach repräsentierten Gruppe individueller Migranten sind wiederum viermal mehr Männer als Frauen vertreten. Als Sprecher kommen neunmal mehr „nicht-migrantische Akteure“ als Flüchtlinge und Migranten in den untersuchten Artikeln vor. Diese Ergebnisse zur (Nicht)Repräsentation der Betroffenen bestätigen Hinweise aus früheren Untersuchungen.
4. Es gibt nicht die eine Migrationsberichterstattung, sondern markante inhaltliche Abweichungen zwischen den untersuchten Ländern, aber auch zwischen verschiedenen Medien eines Landes: Unterschiedliche Fokussierungen auf Ereignisse im In- und Ausland, auf Migration und Flucht aus unterschiedlichen Weltregionen, und sogar unterschiedliche Schwerpunktsetzungen innerhalb des Themas kennzeichnen die untersuchte Medienlandschaft.
5. Im Detail zeigt sich häufig eine doppelte Differenzierung der untersuchten Medien nach geographischer Region und – soweit vorhanden – politischem Standpunkt. Es gibt zwar Hinweise auf eine insgesamt kritischere Perspektive in den osteuropäischen Medien, allerdings werden in vielen Ländern auch Unterschiede zwischen den beiden pro Land untersuchten Publikationen deutlich: Je nach Wahl des Mediums wird dem Nutzer ein unterschiedliches Themen- und Meinungsspektrum geboten – dies gilt für die Medien in Deutschland ebenso wie für Länder wie Ungarn oder Polen.
Fazit und Diskussion
Das Bild, das unsere Studiendaten von den medialen Debatten in West- und Osteuropa zeichnen, ist deutlich differenzierter und weniger stereotyp als vielfach angenommen. Zwar ist die Medienberichterstattung über Migration und Flucht in Westeuropa in der Tat erkennbar von positiveren Akzenten geprägt als die Berichterstattung in Osteuropa. Doch auch dort, etwa in Polen oder Ungarn, transportieren die Medien – bei allen fraglos gravierenden medienpolitischen Entwicklungen – keineswegs ausschließlich die Linie der jeweiligen Regierung: Den migrationskritischen Stimmen der regierungsnahen Medien stehen die vielfältigen Inhalte der unabhängigen Medien gegenüber. Das Beispiel der Magyar Hírlap zeigt hingegen, wie sich die Instrumentalisierung der regierungsnahen Medien – in diesem Falle für die Anti-Migrations-Kampagne des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán – konkret in der Berichterstattung spiegeln kann: Tatsächlich bestreitet sie ihre gesamte, umfangreiche Berichterstattung zum Themenkomplex Flucht und Migration ohne einen einzigen Artikel, der einen individuellen Migranten oder Flüchtling einbezieht.
Auch für die übrigen untersuchten Staaten dürften die hier identifizierten Schwachstellen der Migrationsberichterstattung von Interesse sein: Wie bereits in vielen anderen Forschungsprojekten angemerkt, zeigt auch die vorliegende Studie, wie häufig Migranten und Flüchtlinge lediglich als Teil einer großen, anonymen Gruppe beschrieben werden, wie selten sie als Individuen erkennbar werden und dann auch zu Wort kommen. Deutlich wurde auch, dass die meisten untersuchten Berichte Herkunft und Kontext der Flüchtlinge und Migranten allenfalls vage beschreiben – ebenso wie in den meisten Fällen nicht klar zwischen Flüchtlingen und Migranten unterschieden wird. Sicherlich fällt diese Unterscheidung in der Praxis mit gemischten Gruppen, unvollständigen Informationen und zudem redaktionellen Zwängen häufig schwer und ist in einigen Fällen tatsächlich nicht zu leisten, allerdings sollte eine differenzierte Berichterstattung doch als Ziel im Blick bleiben – vor allem in jenen Fällen, in denen Regierungen bewusst mit falschen Begrifflichkeiten agieren.
Nimmt man den geringen Anteil an Hintergrundberichterstattung hinzu, dürfte es den Mediennutzern oftmals schwerfallen, hinsichtlich der Phänomene von Migration und Flucht zu einer informierten eigenen Einschätzung zu kommen. Ein weiterer Aspekt ist die innenpolitische Vielschichtigkeit der abgebildeten Debatte: Es fällt auf, wie stark die Medienberichterstattung in dem von uns untersuchten Sample von Akteuren der Regierung – im Gegensatz zu Vertretern von Oppositionsparteien – dominiert wird. Dieser Fokus auf die jeweils handelnde Exekutive ist einerseits nachvollziehbar und gerade in der Auslandsberichterstattung verbreitet, hat insbesondere in der Migrationsberichterstattung jedoch vermutlich ihren Anteil daran, dass Länder in der Außenwahrnehmung pauschal einem offen-hilfsbereiten oder geschlossen migrationskritischen Lager zugeordnet werden.
Abseits von der „europäischen Flüchtlingskrise“ wirft die vorliegende Studie aber auch ein Schlaglicht auf die Berichterstattung in den USA und Russland. In Russland (und auch in Weißrussland) ist die Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen vor allem aus dem Osten der Ukraine ein relevantes, in Europa insgesamt jedoch nur wenig beachtetes Thema. In den USA wiederum berichten die New York Times und die Washington Post ähnlich wie die westeuropäischen Staaten in unserem Sample tendenziell positiver über Migration und Flucht – und bilden damit einen Gegenpol zur Regierung Trump.
Unsere Studie hat sich zum Ziel gesetzt, in der Frage der Berichterstattung über Migration und Flucht den „Blick über den Tellerrand“ zu ermöglichen. Gerade aus deutscher Sicht birgt der Vergleich der 17 Länder viele Überraschungen – und Erklärungsansätze: Dass viele EU-Länder sich nach wie vor einer „europäischen Lösung“ der Migrations- und Flüchtlingsfrage entziehen, mag nicht zuletzt in den gänzlich anders geARTEten medialen Debatten dieser Länder begründet liegen. Dort finden Migration und Flucht eben nicht im eigenen und ins eigene Land, sondern „im Ausland“ statt. Auch die Aufmerksamkeit, die dem Thema in deutschen Medien gewidmet wird, unterscheidet diese fundamental von jenen fast aller Nachbarstaaten.
Es ist ein Anliegen dieser Studie, das Bewusstsein hierzulande für die Debatten in anderen europäischen Staaten zu schärfen – eine stereotype gegenseitige Wahrnehmung führt auf einen gefährlichen politischen Weg. Die Studie zeigt auch, wie wichtig Austausch zwischen Journalisten in den verschiedenen EU-Ländern, und insbesondere auch zwischen Medienprofis in den Herkunfts-, Transit- und Zielländern von Migranten und Flüchtlingen, ist, um die Kontexte von Migration und Flucht besser zu verstehen, die passenden Begrifflichkeiten zu verwenden und Zugang zu vielfältigen Quellen und Akteuren zu finden. Ebensogilt es, das Thema Migration und Flucht stärker in der journalistischen Aus- und Weiterbildung zu verankern. Deshalb wird das Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus der TU Dortmund, aufbauend auf zahlreichen internationalen und interkulturellen Trainings und Konferenzen, 2020 ein Modell-Curriculum für die Journalistenausbildung im Themenfeld Migrationsberichterstattung vorstellen.
Dieser Beitrag ist eine auszugsweise (Anfang und Ende) Übernahme einer gleichnamigen Studie der Otto-Brenner-Stiftung – in voller Länge hier.
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