von Peter Wahl
Zeit für eine europapolitische Grundsatzdebatte
Es sollte ein Neustart für die EU werden. Nach zehn Jahren Dauerkrisen – Finanzcrash, Euro- und Griechenlandkrise, Flucht und Migration, Orban und Salvini, Handelskrieg mit Trump und Brexit – sollten mit der neuen Kommission endlich bessere Zeiten anbrechen. Und das mit einer Frau an der Spitze, auch noch einer Deutschen! „Green Deal,“ „Apollo-Moment Europas“ – von der Leyen tat das, was sie schon als Ministerin am besten konnte – alle Register politischer Schaumschlägerei ziehen.
Doch dann kam Corona. Ökonomisch ist von allen Zentren des globalen Kapitalismus die Eurozone am härtesten getroffen. Eine Schrumpfung des BIP um 10,2% prognostiziert ihr der IWF. Die USA kommen auf ein Minus von 8%, Japan nur auf 5,8% und China soll sogar um 1% wachsen. Da durch die anstehenden technologischen Umbrüche – Stichwort: Digitalisierung und Dekarbonisierung – die Karten im globalen Standortwettbewerb ohnehin neu gemischt werden, reißt Corona die EU noch tiefer in die Bredouille.
Zugleich gibt es enorme interne Unterschiede im Ausmaß der Betroffenheit. Während das BIP Frankreichs, Italiens und Spaniens jeweils um über 12% einbricht, kommt die Bundesrepublik mit 7,8% davon. Bei Beschäftigung und Sozialem sehen die Diskrepanzen ähnlich aus. Die soziale und ökonomische Auseinanderentwicklung und Fragmentierung in der EU werden vertieft.
Paradoxerweise wird diese Dynamik durch die Rettungspakete der Mitgliedsstaaten noch verstärkt. Denn während Deutschland bisher fast ein Drittel seines BIP für Hilfsmaßnahmen aufwendet, bringt es Frankreich auf 13%, Italien auf 17% und Spanien sogar nur auf 2,2%. Und um das Maß voll zu machen: Krisenlasten und Rettungspakete erhöhen natürlich die öffentlichen Schulden, aber sehr ungleich – in Italien auf 160% des BIP, in Deutschland auf 77%. Angesichts der zu erwartenden Zunahme von Verteilungskämpfen eignen sich hohe Schulden bestens für Klassenkampf von oben, um Austeritätsdruck auf die Unteren auszuüben.
Bezogen auf die interne Machtarchitektur der EU wird Deutschland zum Krisengewinnler und kann seine Dominanz ausbauen. Daran ändert auch das geplante Recovery-Programm nichts, das manche für einen Wendepunkt in der deutschen Europapolitik halten. Der DGB schwärmt sogar von einem „Quantensprung.“ Hier brechen wieder mal die Illusionen durch, die seit dreißig Jahren regelmäßig das „soziale Europa“ beschwören – real kommt dann immer das Gegenteil heraus. Für Italien sind 82 Milliarden an Zuschüssen vorgesehen. Das ist natürlich besser als nichts. Aber allein der Anstieg der italienischen Schulden bedeutet in absoluten Zahlen 560 Mrd. Euro. Da trifft doch eher die Einschätzung des offiziösen Brüsseler Thinktanks BRUEGL zu, dass die Maßnahmen „unter dem bleiben, was die katastrophale Lage erfordern würde“.
Daran wird auch die deutsche Ratspräsidentschaft nichts ändern. Die Bundesregierung tut, was ihre Funktion als ideeller Gesamtkapitalist erfordert. Dazu kann notfalls auch das supranationale Instrumentarium der EU in Dienst genommen werden, solange es für den Exportweltmeister von Nutzen ist.
Aber vielleicht bietet die Krise auch Anlass für eine grundsätzlichere Debatte über die Zukunft der EU, incl. der sog. Finalitätsfrage. Sind die „Vereinigten Staaten von Europa“ ein emanzipatorisches Projekt, oder, wie u.a. Rosa Luxemburg meinte, eine reaktionäre Idee? Für die gesellschaftliche Linke böte sich dabei die Gelegenheit, darüber aufzuklären, dass unter den gegebenen Kräfteverhältnissen „Mehr Europa“ nicht nur, wie seit Maastricht, mehr Neoliberalismus, mehr Privatisierungen, mehr Austerität bedeutet, sondern inzwischen auch mehr Großmachtgehabe, mehr Militär und mehr internationale Konfrontation. Schließlich gibt es kaum noch ein Statement, in dem Brüssel nicht nach Großmachtstatus giert. Und man könnte einige beliebte Irrtümer in der europolitischen Diskussion aufklären. Angefangen mit der Verwechslung der EU mit Europa, über die Verwechslung von Internationalismus mit den supranationalen Mechanismen der EU, bis hin zur Verwechslung von demokratischer Souveränität mit Nationalismus. Und natürlich könnte man über linke Europapolitik unabhängig von Grünen und SPD und jenseits von Neoliberalismus und Großmachtphantasien reden.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Neuen Deutschland, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Letzte Kommentare